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5. Die Schwächen des "Systems Italien" - staatliche Ineffizienz, nicht staatliche Überpräsenz

Es ist gewiß unstreitig, daß die dynamischsten Sektoren der italienischen Industrie ihre Stärke einer De-Facto-Flexibilisierung verdanken, die neoliberale Argumente direkt zu bestätigen scheint: Dort wo der Staat nicht regelnd und kontrollierend eingreift, entfaltet sich wirtschaftliche Dynamik. Die beste Industriepolitik wäre in dieser Sicht der Verzicht auf staatliche Interventionen; Italien wäre so der Glücksfall einer aus der Unfähigkeit geborenen und dennoch erfolgreichen "Industriepolitik" - eines politischen Wirkens, das gerade dank des Unvermögens des italienischen Staates, die von ihm verfügten Normen tatsächlich überall durchzusetzen, positive Resultate zeitigt. Und Italien wäre so zugleich der Beweis, daß der Staat dort, wo es ihm gelingt, seine Präsenz geltend zu machen, wirtschaftliches Wachstum behindert, da er den Unternehmen zu hohe Arbeitskosten und Ertragssteuern aufherrscht.

Wie sich jedoch zeigte, haben die Klagen über einen überpräsenten Staat nur in einem Punkt gute Argumente auf ihrer Seite: in der Frage der Unternehmensbesteuerung. Letzten Endes verdankt sich selbst hier die hohe Belastung nicht der Über-, sondern der Unterpräsenz des Staates: seiner Unfähigkeit, weite Teile des Wirtschaftslebens der Besteuerung zu unterwerfen, und dem daraus entstehenden Zwang, die legalen Sektoren der Wirtschaft umso höher zu belasten.

Doch es fällt schwer, aus der behaupteten, im internationalen Vergleich gegenüber anderen westlichen Industrieländern aber kaum zu demonstrierenden übermäßigen staatlichen Intervention ins Wirtschaftsgeschehen zu begründen,

- warum Italien in strategischen Wirtschaftssektoren wie den auf großer Stufenleiter produzierenden Industrien oder in High-Tech-Branchen den Anschluß zu verlieren droht,

- und warum ausländische Unternehmen trotz hoher verfügbarer Arbeitskräftepotentiale, trotz vergleichsweise niedriger Arbeitskosten, trotz massiver Subventionierung von Investitionen im Süden des Landes selten den Weg nach Italien finden.

Nicht zuletzt die Lira-Abwertung 1992-95 hat schlagend gezeigt, in wie geringem Maß Kostensenkung als Allheilmittel taugt: Sie verhalf den bisher schon dynamischsten Branchen der italienischen Industrie zu neuen Erfolgen, doch sie konnte den Trend in den Krisensektoren der High-Tech- und der Großindustrie nicht entscheidend umkehren, obwohl sie Italien bei den Arbeitskosten einen Rückgang von 30% und mehr gegenüber den anderen großen Industrieländern bescherte.

Weit plausibler ist die Umkehrung des neoliberalen Arguments: Nicht ein Überschuß, sondern ein Mangel staatlichen Wirkens auf vielen Feldern, das Fehlen oder die Ineffizienz öffentlicher Interventionen führen zu Standortnachteilen, die sich in den traditionellen Branchen gering auswirken und kompensieren lassen mögen, nicht aber in kapital- und technologie-intensiven Sektoren. Dies läßt sich demonstrieren für die Industriepolitik, die Förderung von Forschung und Entwicklung, die Schul- und Berufsausbildung, die Bereitstellung von Infrastrukturen und öffentlichen Dienstleistungen und die Rechtssicherheit.

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a) Industriepolitik

Spätestens seit den 70er Jahren kann von einer organischen Industriepolitik des italienischen Staates keine Rede mehr sein. Zwar stehen Unternehmen, die im Süden des Landes investieren wollen, oft hohe finanzielle Anreize zur Verfügung, doch ansiedlungsbereite Firmen haben auf der öffentlichen Seite keinen zuverlässigen Gegenpart, der Planungssicherheit bei der Neuansiedlung von Unternehmen verhieße. Wirtschaftsförderungsämter, die sich um die Einwerbung von Investitionen bemühen, die Unternehmen beraten, die die Erschließung von Grundstücken und ihre infrastrukturelle Anbindung gewährleisten, sucht man fast immer vergebens. Gerade in den südlichen Regionen des Landes, in denen Neuinvestitionen besonders attraktiv - und auch besonders notwendig - wären, zeichnen sich die staatlichen Verwaltungen durch einen hohen Grad planerischer Inkompetenz aus. Ein Index hierfür ist etwa ihre geringe Fähigkeit, ihnen zustehende EU-Fonds auch tatsächlich auszuschöpfen: Bis zum März 1997 hatte Italien erst 15% der ihm aus den Strukturfonds 1994-99 zustehenden Mittel abgerufen, Irland dagegen 43%.

Zwar fanden im Mezzogiorno in den letzten Jahrzehnten massive Infrastruktur-Investitionen statt, doch auch sie waren nicht von industriepolitischen Visionen geleitet - sie wurden weniger als Mittel der Strukturverbesserung denn als Selbstzweck behandelt. Weniger ökonomische als politische Logik dominierte die Investitionsentscheidungen: Es galt, die jeweilige politische Klientel zu bedienen. Das Ergebnis liegt auf der Hand: Oft überteuerte Investitionen wurden am falschen Platz vorgenommen, um den Tausch von Wahlstimmen gegen Unternehmenserträge und öffentlich finanzierte Beschäftigung zuwege zu bringen.

Mehr noch: Oft werden die staatlichen Bürokratien selbst zum Investitionshindernis. Es ist weniger die schiere Fülle der zur Betriebsaufnahme nötigen Genehmigungen, die Unternehmern das Leben schwer macht. Vor allem die unkalkulierbaren, überlangen Bearbeitungszeiten, die oft mangelnde Koordination zwischen verschiedenen Behörden, die geringe Qualifikation und Motivation von Verwaltungsbeamten werden zur manchmal unüberwindbaren Hürde, zu einer Hürde, unter der selbst staatliche Verwaltungen bei einfachsten Maßnahmen leiden. Die Stadt Rom gab vor kurzem bekannt, daß die Genehmigungsprozeduren für die Aufstellung einer Parkbank ein bis zwei Jahre in Anspruch nehmen. Für die Eröffnung eines Kleingeschäftes sind Fristen von einem, für die eines Supermarktes von bis zu vier Jahren zu kalkulieren.

Zugleich verzichtete der Staat auf den Einsatz der von ihm kontrollierten Industrieholdings zugunsten einer zukunftsweisenden Industriepolitik. Unter dem Dach der IRI und der ENI, die in ihren besten Zeiten 500.000 bzw. 130.000 Arbeitnehmer beschäftigten, waren zwar weite Teile der Chemie-, der Stahl-, der metallverarbeitenden, der Lebensmittel- und anderer Industrien in staatlicher Hand, doch eine industriepolitische Strategie gab es nicht. Das Interesse der Regierungsparteien an den Staatsbeteiligungen erschöpfte sich weitgehend in deren Nutzung als politisches Feudum, als Mittel der Eigenfinanzierung, als Instrument klientelarer Politik, bestenfalls als sozialer Puffer: Oft genug kauften die Staatsholdings bankrotte Privatunternehmen auf, um Beschäftigung zu sichern. Gerade in Bereichen wie der Chemieindustrie konnte so zwar kurzfristig das Überleben von Betrieben erreicht werden - langfristig wurden jedoch die Voraussetzungen für den Niedergang der Branche geschaffen.

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b) Förderung von Forschung und Entwicklung

Italien ist unter den G7-Staaten das Land mit den weitaus geringsten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung. Während mit Ausnahme Kanadas alle anderen G7-Länder zwischen 2 und 3% des BIP in diesen Bereich investieren, erreicht Italien nur 1% (1995). Zwar sahen die 80er Jahre zunächst einen kontinuierlichen Anstieg der Aufwendungen auf 1,3% des BIP (1990), zwar schien es damals, als wolle Italien sich aus der Technologieabhängigkeit gegenüber anderen Ländern lösen und schicke sich an, etwa in der Informatikindustrie mit Olivetti eine entscheidende Rolle zu spielen. Doch die Rezession der frühen 90er Jahre ebenso wie die staatliche Finanzkrise setzten dieser Aufholjagd ein abruptes Ende. Italien präsentiert sich heute als ein Land, das vom Import ausländischer Technologien abhängt: Bei Patentanmeldungen rangiert es als letztes der G7-Länder noch hinter Kanada, erreicht nur die Hälfte der Anmeldungen Frankreichs, ein Viertel derer Großbritanniens, ein Fünftel derer Deutschlands.

Nicht nur investiert Italien zu wenig in Forschung und Entwicklung; sondern die geringen Mittel in diesem Bereich werden oft auch schlecht ausgegeben. Italienische Spitzenforscher beklagen immer wieder die hohen bürokratischen Schwierigkeiten, die sich ihnen vor allem bei der Arbeit an öffentlichen Instituten entgegenstellen - was oben über die Ineffizienz und Unkalkulierbarkeit italienischen Verwaltungshandelns gesagt wurde, gilt auch auf diesem Feld.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß Italien in den Zukunftsindustrien von der Informatik und der Telekommunikation über Biotechnologie bis zur Luft- und Raumfahrt kaum noch präsent ist. Eine Trendwende in der Forschungspolitik, gar eine staatlich unterstützte Forschungsoffensive zeichnet sich bisher jedoch nicht ab. Die seit einem Jahr amtierende Mitte-Links-Regierung hat auf diesem Feld bisher keine Initiative gezeigt.

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c) Schul- und Berufsbildung

Ähnlich defizitär ist die Bilanz der italienischen Anstrengungen, in "human capital" zu investieren. Italien ist das wohl einzige westeuropäische Land, in dem eine nur achtjährige Schulpflicht herrscht; und es gehört zusammen mit Griechenland zu den OECD-Ländern, die den geringsten Anteil am BIP für die Schulbildung aufwenden. Zwar scheinen andererseits die Zahlen über die Universitätsimmatrikulationen Italien einen Spitzenplatz zuzuweisen, doch Italien weist enorm hohe Abbrecherquoten auf: Sechs Jahre nach Studienaufnahme erreicht nur ein Drittel der Studenten einen Abschluß. Italien, ein Land mit 1,8 Millionen. Studenten, präsentiert sich so zugleich als einer der OECD-Staaten mit der geringsten Quote von Studienabschlüssen; nur gut 10% der Jugendlichen eines Geburtsjahrgangs beenden heute die Universität.

Zudem fehlt ein umfassendes, staatlich geregeltes System der Berufsausbildung mit allgemein anerkannten Abschlüssen. Ausbildung erfolgt in der Regel in den Betrieben als "learning on the job". Die in den letzten Jahren eingeführten besonderen "Ausbildungs-" bzw. "Lehrlings-Arbeitsverträge" regeln vor allem die Möglichkeit für Arbeitgeber, junge Arbeitnehmer mit Zeitverträgen, zu niedrigerer Entlohnung und mit reduzierten Lohnnebenkosten einzustellen, gewährleisten aber weder eine umfassende praktische Ausbildung im jeweiligen Beruf über die Erfordernisse des Arbeitsplatzes hinaus, noch sehen sie theoretischen Unterricht vor. Eine wachsende Rolle spielen die von den Regionen finanzierten Berufsbildungskurse. Doch bei diesen Kursen wirkt sich die Trennung von der betrieblichen Realität negativ aus. Zudem ist oft die Orientierung des Ausbildungsangebotes an der Nachfrage nach Arbeitskräften nicht gegeben. Nur knapp 40% der Absolventen solcher Kurse in der Toskana waren anschließend in einer Tätigkeit beschäftigt, die ihrem Qualifikationsprofil entsprach, und nur 20% fanden eine stabile Beschäftigung.

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d) Infrastrukturen und öffentliche Dienstleistungen

Staatliche Ineffizienz prägt auch das Bild, wenn man den Blick auf öffentliche Dienste wie die Post oder auf die öffentlich kontrollierte Stromversorgung wirft. Bei einer Personalausstattung und bei Tarifen, die denen anderer westeuropäischer Länder entsprechen, ist die italienische Post bis heute nicht in der Lage, eine pünktliche und zuverlässige Zustellung zu gewährleisten. Unternehmen bedienen sich weitgehend privater Kurierdienste - um den Preis weit höherer Kosten. Zum Investitionshindernis wird sogar die Unzuverlässigkeit der Stromversorgung: In ländlichen Gebieten und im Süden Italiens kommt es bei Preisen, die zu den höchsten Europas gehören, immer wieder zu Unterbrechungen der Versorgung. Wie in anderen Bereichen staatlichen Wirkens beeindruckt das oft offen demonstrierte Fehlen jeglicher Orientierung an Unternehmenserfordernissen: Einem Betrieb im Mezzogiorno riet die staatliche Stromgesellschaft auf wiederholte Beschwerden hin, selbst durch Anschaffung eines Generators die Kontinuität der Stromversorgung sicherzustellen.

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e) Rechtssicherheit

In jenen Zonen des Landes, in denen industrielle Entwicklung am nötigsten, in denen Investitionen aber auch dank massiver Subventionen und niedriger Löhne am attraktivsten wären, zeigt sich der Staat zudem auf einem der elementarsten Felder abwesend: Er ist nicht in der Lage, für Bürger und Unternehmen Rechtssicherheit zu garantieren. Mittlerweile werden vier süditalienische Regionen (Kampanien, Kalabrien, Sizilien, Apulien) in weiten Zonen von der organisierten Kriminalität beherrscht. Mafiöse Organisationen kontrollieren dort große Teile des Wirtschaftsgeschehens direkt. Nicht-mafiöse Unternehmen werden zu Schutzgeldzahlungen, zur Auftragsvergabe an Mafiaunternehmen, zur Beschäftigung der Mafia nahestehender Personen etc. erpreßt oder bei Nichtbefolgung solcher Forderungen zur Aufgabe gezwungen. Vor einigen Jahren mußte z.B. ein großes deutsches Bauunternehmen nach zahlreichen Sabotageakten den Auftrag zum Bau eines Staudamms in Sizilien zurückgeben.

Auch in Süditalien hat dennoch industrielle Entwicklung stattgefunden. Doch stärker noch als in anderen Landesteilen präsentiert sie sich als Entwicklung der Schattenwirtschaft, als Entwicklung einer halb- oder illegal wirtschaftenden Klein- und Mittelindustrie, während sich Großinvestoren aus dem Norden des Landes stark, aus dem Ausland vollkommen, zurückhalten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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