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6. Fazit: "Abstieg in die zweite Liga"?

Schon oft in den letzten Jahrzehnten sind für die italienische Industrie Niedergangsszenarien entworfen worden - und genauso oft fanden diese Szenarien in der unerwarteten Vitalität des Landes ihr praktisches Dementi. Die seit je gegebene spezifische Industriestruktur erwies sich nicht als Hindernis der Entwicklung, weder mit Blick auf die Betriebsgrößen, die das Nebeneinander einiger weniger oligopolistischer Großunternehmen in Familien- bzw. in Staatshand und einer Myriade von Kleinbetrieben sahen, noch mit Blick auf die Branchenstruktur. Für letztere war immer ein Untergewicht der auf großer Stufenleiter produzierenden Industrien wie der F&E-intensiven Industrien zugunsten traditioneller Branchen charakteristisch. Gerade die noch vor 25 Jahren zum Symbol der Rückständigkeit erklärten Betriebe und Branchen bilden heute das produktive Rückgrat des Landes.

Dennoch sind die Gefahren, die dem "System Italien" aus seiner eigentümlichen Struktur entstehen können, kaum zu übersehen, denn Italien droht den Schritt von einer polarisierten zu einer einseitigen Industriestruktur zu vollziehen. Darüber droht es den Anschluß an strategische Zukunftssektoren zu verlieren, nachdem noch in den 80er Jahren viele Symptome dafür sprachen, daß Italien sich strukturell an die anderen führenden Nationen annähern könnte.

Damals schickten sich diverse Großunternehmer an, den Schritt zum global player zu tun: Carlo De Benedetti sanierte zunächst den Olivetti-Konzern und unternahm dann den Versuch, die Societé Générale de Belgique zu übernehmen, Raul Gardini bemühte sich, aus der Montedison und der Chemiesparte der staatlichen ENI einen schlagkräftigen Chemiekonzern zu schmieden. Silvio Berlusconi unternahm Anstrengungen zur Schaffung eines europäischen Medienimperiums. Einige Jahre später lancierte Pirelli einen unfreundlichen Übernahmeversuch gegenüber Continental. Doch die neuen Protagonisten eines italienischen Großkapitalismus scheiterten zumindest mit ihren internationalen Ambitionen so schnell, wie sie die Bühne betreten hatten. Das abnehmende Gewicht italienischer Großunternehmen wird etwa in Aufstellungen wie der von "Financial Times" deutlich, nach der zu den - am Börsenwert gemessenen - 500 größten europäischen Unternehmen 1995 nur noch 23 italienische Firmen gehörten.

In gleicher Weise sind die Versuche des Landes gescheitert, nach einer Phase der abhängigen Modernisierung den Schritt zur autonomen Akkumulation von Spitzentechnologie in den Großunternehmen zu machen. Zwar wiesen noch in den Jahren 1985-90 die F&E-intensiven Branchen ebenso wie die Sektoren mit hohen scale economies eine günstige Beschäftigungsentwicklung auf (jährliche Zuwächse von 3% bzw. 0,5%) und übertrafen damit die traditionellen Branchen sowie die spezialisierten Ausrüstungsindustrien. Doch in den 90er Jahren kehrte sich diese Entwicklung wieder um - High-Tech-Branchen sowie Sektoren mit hohen Skalenökonomien sahen den stärksten Beschäftigungsabbau. Italiens industrielle Spezialisierung verstärkte sich weiter im Exportboom der letzten Jahre: 1993-96 ging die Beschäftigung in F&E-intensiven Industrien um jährlich über 1% zurück, in der Textil-, Bekleidungs- und Lederindustrie dagegen nur um knapp 0,5%, und die spezialisierten Ausrüstungsindustrien steigerten die Beschäftigung um 1,8% pro Jahr.

Der bleibenden Spezialisierung des Landes bei den Konsumgüterprodukten des "Made in Italy" steht so eine Despezialisierung bei Hochtechnologieprodukten wie auch bei Produkten von Branchen mit hohen scale economies gegenüber. Italien droht gewiß kurzfristig nicht der industrielle Niedergang, doch das Land läuft Gefahr, zum Nischenproduzenten zu werden, sich aus den strategischen Zukunftsmärkten ausgeschlossen zu finden und im Netz der Weltkonzerne kaum noch mit eigenen Protagonisten vertreten zu sein.

Es ist aufschlußreich, daß die italienische Sicht der internationalen Investitionsflüsse sich diametral entgegengesetzt zu der deutschen verhält, daß eher die Gefahr von Kapitalzuflüssen als die von Kapitalabflüssen beschworen wird: Italienische Beobachter werten die geringe Auslandspräsenz der Konzerne ihres Landes weniger als Ausweis der Stärke des Standorts Italien denn als Zeichen der Unfähigkeit, die Unternehmensstrategien über Exportstrategien hinaus zu internationalisieren. Es wird jedoch die Gefahr eines gesteigerten Auslandsengagements in Italien beschworen, eines industriellen Ausverkaufs des Landes, denn so unattraktiv Italien für greenfield-Investitionen sein mag, so interessant kann für ausländische Investoren die Übernahme bestehender Betriebe werden.

Die Befürchtung scheint nicht unbegründet: Unfähig, den Schritt zur Internationalisierung zu tun, in wachsendem Rückstand bei Forschung und Entwicklung, drohen italienische Unternehmen der Großindustrie und der High-Tech-Sektoren ihre Konkurrenzfähigkeit einzubüßen. Mit der Übernahme durch ausländische Firmen aber schlösse sich der Kreis: Italien würde in entscheidenden Branchen zur reinen Werkbank, während die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in anderen Ländern säßen. In der Tat sind in den F&E-intensiven Branchen heute schon knapp die Hälfte der Beschäftigten in ausländisch beherrschten Unternehmen tätig, und allein in den letzten Jahren sind etwa 50 Pharmazeutikunternehmen von ausländischen Firmen übernommen worden.

Dieser Entwicklung wird Italien nicht mit neoliberalen Rezepten eines Rückzugs des Staates entgegensteuern können. Das Land hat diesen Rückzug über Jahre selektiv praktiziert, indem es die Ausbreitung halb- und illegal arbeitender Betriebe der Schattenwirtschaft tolerierte. Daß hiervon vor allem traditionelle Sektoren profitierten, überrascht nicht. Nicht nur, weil es leichter ist, Schuhe in Schwarzarbeit, zu Niedrigstlöhnen und ohne Sozialabgaben zu fertigen als Computerchips, sondern auch, weil in High-Tech-Produktionen die Arbeitskosten weit weniger, andere Standortfaktoren dagegen weit stärker ins Gewicht fallen.

Rückzug des Staates, weitere Flexibilisierung der Arbeit und Zurückdrängung der Gewerkschaften würden gewiß erneut jenen Branchen nützen, in denen Italien heute schon stark ist. Es ist allerdings nicht abzusehen, wie auf diesem Wege die Krise in den High-Tech- und den kapitalintensiven Sektoren zu überwinden wäre. Wenn Italien in Zukunft im Konzert der großen Industriemächte eine erstrangige Rolle spielen möchte, dann ist nicht weniger, sondern ein anderer Staat gefordert. Ein Staat, der massiv in die Zukunft des Landes, in Bildung, in Forschung, in moderne Infrastrukturen investiert, der die schwerfällige Maschinerie der staatlichen Bürokratie reformiert, der nicht zuletzt in den entwicklungsträchtigsten Zonen des Landes die Legalität garantiert.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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