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4. Italiens Standortdefizite im Urteil der Unternehmen

Der Industriellenverband Confindustria wie auch zahlreiche prominente Großunternehmer führen seit Jahren Klage über ihnen aus dem Wirken von Staat und Gewerkschaften entstehende Standortnachteile. Im Zentrum der Beschwerden stehen eine zu hohe Staatsquote, vor allem eine zu hohe Unternehmensbesteuerung, zu hohe Lohnnebenkosten - deren Grund in einem überdimensionierten Sozialstaat ausgemacht wird -, die Überregulierung des Arbeitsmarktes sowie mangelnde tarifpolitische Flexibilität.

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a) Staatsquote und Unternehmensbesteuerung

Auf den ersten Blick scheint es, daß sich die italienische Staatsquote in einer Linie mit der anderer westeuropäischer Staaten bewegt. Gerade Politiker verweisen oft auf diesen Tatbestand und ziehen daraus den Schluß, von einer im internationalen Vergleich übermäßigen Steuerbelastung könne keine Rede sein. Die Staatseinnahmen betrugen 1995 44,7% des BIP und lagen damit unter dem Wert Deutschlands und Frankreichs. Doch diese statistische Größe ist wenig aussagekräftig für die tatsächliche Steuerbelastung der legal wirtschaftenden Sektoren: Sie allein bringen die Abgaben auf, während in die Bezugsgröße - das BIP - auch die Aktivitäten der Schattenwirtschaft eingehen, einer Schattenwirtschaft, die in Italien schätzungsweise ein Drittel des Reichtums produziert - ein Wert, der den aller anderen OECD-Staaten übersteigt. Diese Verwerfung trifft besonders das verarbeitende Gewerbe, denn dort ist die Verbreitung illegaler Aktivitäten niedriger als in den anderen Sektoren. So schätzt das Finanzministerium, daß im Handel 63%, im Bau 34%, in der verarbeitenden Industrie aber nur 28% der Wertschöpfung an der Steuer vorbei erfolgen.

Der italienische Staat hat bisher auf die verbreitete Steuerhinterziehung nicht mit einer entschlossenen Bekämpfung des Phänomens, sondern mit stetig wachsender Belastung der legal arbeitenden Sektoren reagiert - sowohl der Arbeitnehmer als auch der Unternehmen. Eine Studie der Confindustria ermittelte, daß ein Unternehmen in Italien dank eines Spitzensteuersatzes von 53% und ungünstigerer Bilanzierungsvorschriften weit höhere Steuern entrichten muß als in Deutschland, Großbritannien oder Spanien. Bei gleichem Ertrag hätte ein in Deutschland oder in Großbritannien tätiges Unternehmen in Italien etwa doppelt so hohe Steuern zu entrichten wie im Heimatland, eine in Spanien operierende Firma hätte in Italien ihre Steuerlast gar verdreifacht.

Auf diese Weise wird das italienische Steuersystem selbst wiederum zum Anreiz für Unternehmen, in die Schattenwirtschaft abzuwandern, wie der Unternehmerverband betont. Er spricht dabei nicht aus, daß die Nachlässigkeit des Staates bei der Kontrolle der Schattenwirtschaft zugleich bestimmte Sektoren der Industrie auf Kosten anderer prämiert: Bisher läßt Italien den formellen Sektor der Wirtschaft per Überbesteuerung die "De-Facto-Flexibilisierung" (so Notenbankpräsident Fazio) des informellen Sektors subventionieren.

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b) Lohnnebenkosten

Als weit problematischer erweist sich die Argumentation der Unternehmen, die Lohnnebenkosten seien zu hoch; nötig sei eine drastische Zurückschneidung des italienischen Sozialstaates, vor allem der 'ausufernden' Renten.

Demgegenüber ist festzuhalten, daß Italien nicht mehr, sondern weniger als Deutschland, Frankreich, Großbritannien für sozialstaatliche Leistungen aufwendet; einzig bei den Rentenaufwendungen liegt Italien deutlich über dem EU-Durchschnitt. Dahinter verbirgt sich jedoch weniger die Besserstellung italienischer Rentner als die Tatsache, daß der italienische Staat mit dem Haushaltsposten Renten andere sozialstaatliche Aufgaben mitabdeckt: So werden mit den Mindestrenten Leistungen erbracht, die etwa in Deutschland Sozialhilfe darstellen, und so wurde mit den Millionen Invalidenrenten weniger Invalidität als Langzeitarbeitslosigkeit finanziert.

Erst recht nicht überzeugt die Argumentation, die Unternehmen finanzierten um den Preis ihrer internationalen Konkurrenzfähigkeit mit überzogenen Sozialbeiträgen einen überdimensionierten Sozialstaat. Zwar ist es richtig, daß die Arbeitgeber in Italien einen relativ höheren Anteil an den Sozialabgaben tragen als in den meisten anderen Industriestaaten. Doch wie sich oben gezeigt hatte, liegen die durchschnittlichen Arbeitskosten des Landes absolut dennoch weit unter den in anderen Ländern anfallenden Kosten. Es sind die Arbeitnehmer mit ihren niedrigen Nettolöhnen, die letztendlich für die sozialen Aufwendungen aufkommen müssen.

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c) Rigidität der Tarifverträge

Eine weitere Beschwerde von Unternehmerseite betrifft die mangelnde Flexibilität des tarifvertraglichen Instrumentariums. Nationale Flächentarifverträge, wie sie in Italien die Norm sind, seien nicht geeignet, den Produktivitätsunterschieden wie den spezifischen Erfordernissen der Firmen Rechnung zu tragen. Zudem seien sie ein negativer Anreiz für ansiedlungswillige Unternehmen im unterindustrialisierten Süden des Landes.

Doch schon heute existiert faktisch ein hohes Gefälle bei Löhnen ebenso wie bei den Arbeitskosten. Der Staat begünstigt die Kapitalanlage im Süden, indem er dort tätigen Unternehmen eine deutliche Reduzierung der Arbeitgeberanteile an den Sozialabgaben einräumt. Ebenso sind die Bruttolöhne um bis zu 30% niedriger. Dieses Gefälle verdankt sich teils der geringeren Rolle ergänzender Tarifabkommen auf Firmenebene, teils der zurückhaltenderen Gewährung außertariflicher Leistungen im Süden. Niedrigere Sozialabgaben, die auf niedrigere Bruttolöhne kalkuliert werden, kumulieren sich für die Unternehmen zu deutlichen Kostenvorteilen.

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d) Rigidität des Arbeitsmarktes

Genauso monieren die Unternehmen eine zu hohe Rigidität der gesetzlichen Normen, die Einstellung und Entlassung der Arbeitnehmer regeln, sowie die geringe Möglichkeit, atypische Arbeitsverhältnisse - Teilzeit, Zeitverträge, Leiharbeit - einzugehen.

Bis vor wenigen Jahren behielt sich der italienische Staat in der Tat nicht nur das Monopol der Arbeitsvermittlung vor, sondern erlegte den Unternehmen auch die Einstellung der nach Rangliste vom Arbeitsamt genannten Arbeitnehmer auf. Zugleich waren die Hürden für atypische Arbeitsverhältnisse hoch: Teilzeitarbeit wurde mit überdurchschnittlichen Sozialbeiträgen belastet; Zeitarbeitsfirmen sind in Italien verboten. Das italienische Arbeitsrecht war auf den erwachsenen, dauerhaft und in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmer zugeschnitten; die Herausbildung eines legalen "zweiten Arbeitsmarktes" wurde so behindert. Auch auf diesem Feld öffnete sich so die Schere zwischen Überregulierung auf der einen Seite und vollkommener Deregulierung auf der anderen Seite: Atypische Arbeitsverhältnisse existierten in Italien vor allem in Form von Schwarzarbeit; ca. drei Millionen Arbeitnehmer befanden sich 1995 in irregulären Arbeitsverhältnissen (gegenüber 12 Mio. regulär Beschäftigten).

Doch gerade auf diesem Feld hat die Konzertierte Aktion zu deutlichen Veränderungen geführt: Alle oben genannten Normen sind im Rahmen des 1996 geschlossenen Bündnisses für Arbeit neudefiniert worden; die entsprechenden Gesetze sind teils schon verabschiedet, teils liegen sie dem Parlament vor. Die Hindernisse für Teilzeit, Zeitarbeit, private Arbeitsvermittlung, Leiharbeit werden damit der Vergangenheit angehören. Schon heute beträgt in Mailand der Anteil atypischer Arbeitsverhältnisse an neu geschlossenen Arbeitsverträgen etwa 60%.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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