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3. Italiens industrielle Spezialisierung

Gewiß kann man argumentieren, ausländische Investoren hätten auf die verbesserten ökonomischen Rahmenbedingungen im Gefolge der Abwertung deshalb nicht reagiert, weil die Abwertung als "bad news", als Indikator verschlechterter Investitionsbedingungen wie auch eines instabilen politischen Rahmens, gewertet wurde. Man kann auch gegen eine solche strukturelle Sicht das konjunkturelle Datum der Währungsturbulenzen und der mit ihnen einhergehenden Unsicherheit über zukünftige Wechselkurse als Hauptgrund für die Zurückhaltung des Auslandes interpretieren.

Doch ein näherer Blick auf die italienische Industrie legt eine andere Sicht nahe. Folgt man der Einteilung der verarbeitenden Industrie in vier große Bereiche - Industrien mit hohen scale economies (Chemie, Stahl etc.), spezialisierte Anbieter der Metallverarbeitung (Ausrüstungsindustrien), F&E-intensive Industrien, traditionelle Industrien (Textil, Bekleidung, Holz), so stellten sich die traditionellen Branchen wie auch die Spezialausrüster als Träger des Exportbooms dar, während die F&E-intensiven Industrien wie auch die mit hohen scale economies produzierenden Sektoren defizitär blieben. Auf der einen Seite ertwirtschafteten die Branche Textil-Bekleidung-Leder sowie die Spezialausrüster 1995 je ca. 40 Billionen Lire, die Möbelhersteller 10 Billionen Lire und die Schmuckindustrie 7 Billionen Lire Handelsüberschuß, auf der anderen Seite standen Außenhandelsdefizite der chemischen Industrie von 15 Billionen Lire, der Stahlindustrie und der Erzeuger von NE-Metallen von 16 Billionen Lire, der Anbieter von Büromaschinen und Präzisionsinstrumenten von 3 Billionen Lire.

Diese Resultat überrascht insofern nicht, als etwa in den traditionellen Industrien gegenüber High-Tech-Branchen der Wettbewerbsfaktor Arbeitskosten viel stärker ins Gewicht fällt; dennoch kann die Arbeitskostendynamik allein kaum als Erklärung taugen. So ließe sich aus dem relativen Sinken der Arbeitskosten kaum begründen, warum trotz der massiven Konkurrenz aus Entwicklungs- und Schwellenländern die italienische Textil-, Bekleidungs- und Lederindustrie fast ein Viertel der Beschäftigten des verarbeitenden Gewerbes stellt und von Jahr zu Jahr wachsende Außenhandelsüberschüsse erwirtschaftet.

In den branchenspezifisch sehr unterschiedlichen Resultaten der Exportoffensive der letzten Jahre tritt die unter allen großen Industrieländern einzigartige Spezialisierung Italiens zum Vorschein: Seit je sah Italien immer ein deutliches Übergewicht traditioneller Branchen sowie spezialisierter Ausrüstungsindustrien. Dort erwirtschaftete und erwirtschaftet das Land seine Außenhandelsüberschüsse (während alle anderen großen Industrieländer bei den traditionellen Branchen Defizite aufweisen). Italien hat allerdings traditionell eine schwache Position sowohl in den Branchen mit hohen scale economies (die 40% des Welthandels abwickeln) als auch in F&E-intensiven Sektoren: der Pharmazeutik, den modernen EDV- und Telekommikationsindustrien, dem Flugzeugbau etc.

Italien präsentiert sich so als Paradox eines hochentwickelten Industrielandes, das seine Stellung auf den Weltmärkten nicht zuletzt traditionellen, arbeitsintensiven Industrien mit relativ geringer Wertschöpfung verdankt. Diese Sonderrolle Italiens unter den Industrieländern spiegelt sich auch in der Beschäftigungsentwicklung wider. Während in allen anderen G7-Staaten die in Hochlohnsektoren tätigen Arbeitnehmer ihren Anteil an der industriellen Beschäftigung erhöhten, sank er in Italien 1970-1992 auf den Wert von 11,5% - und zugleich hält Italien mit einer Quote von 47% der Beschäftigten in Niedriglohnbranchen einen gegenüber den anderen G7-Staaten deutlich höheren (und anders als in den anderen Ländern kaum gesunkenen) Wert. Das gleiche Bild ergibt sich bei der Aufschlüsselung der Industrien nach Technologieeinsatz: Industrien mit niedrigem Technologieeinsatz beschäftigen in allen anderen G7-Staaten ca. die Hälfte der Arbeitskräfte, in Italien dagegen zwei Drittel. Es ist aufschlußreich, das selbst Spaniens Industrie heute eine 'modernere' und sich rascher verändernde Beschäftigungsstruktur aufweist.

Dieses atypische Muster erfährt eine einleuchtende Erklärung, wenn man auf die Betriebsgröße in den erfolgreichen Sektoren blickt. Dort dominieren kleine und mittlere Unternehmen. Italiens Industriegeschichte der letzten 25 Jahre ist auch eine Geschichte des Vormarschs dieser Unternehmen.

Verteilung der Beschäftigung n der verarbeitenden Industrie nach Betriebsgrößen

Beschäftigte 1951

1971

1991

1-99 54,2

50,6

67,9

100-499 20,4

18,6

19,2

500 u. mehr 25,4

30,8

12,9




Die kleinen und mittleren Unternehmen verdanken ihren Erfolg mehreren Faktoren:

Sie praktizieren eine sehr flexible, kundenorientierte Produktpolitik. Dies gilt für die Ausrüstungsindustrien, aber auch für die Textil- und Bekleidungsbranche, die heute auf Design und Qualität des Produkts ebenso wie auf einen schnellen Modellwechsel setzt - statt wie früher zwei Kollektionen pro Jahr bieten italienische Hersteller heute im Monats-, ja im Zwei-Wochen-Rhythmus neue Modelle an.

Sie zeigen sich in der Lage, neue Produktionstechnologien schnell zum Einsatz zu bringen. Oft kommen hier Synergien zwischen traditionellen Branchen und Spezialausrüstern - z.B. zwischen Textilbetrieben und Fertigern von Textilmaschinen - zum Tragen.

Sie können auf relativ billige Arbeitskraft zurückgreifen. In Betrieben mit 20-99 Beschäftigten sind die durchschnittlichen Arbeitskosten gut 25%, in Betrieben mit 100-499 Beschäftigten 10% niedriger als in Betrieben mit über 500 Beschäftigten - das Lohngefälle liegt damit über dem Produktivitätsgefälle.

Sie verfügen über eine sehr flexible Arbeitsorganisation. Die oft gewerkschaftsfreien Kleinbetriebe haben weit weniger Schwierigkeiten bei der Entlassung von Arbeitskräften ebenso wie bei der flexiblen Arbeitszeitgestaltung als Großbetriebe. Viele der boomenden Betriebe produzieren mit Schwarzarbeit, und auch reguläre Beschäftigte leisten schwarz abgerechnete Überstunden, Samstags- und Sonntagsschichten.

Sie entgehen oft staatlicher Abgabenbelastung. Die verbreitete teilweise oder vollständige Schwarzarbeit ebenso wie die unkorrekte Rechnungsstellung erlauben die Vermeidung von Lohnnebenkosten ebenso wie die Hinterziehung von Umsatz- und Ertragssteuern. Eine Studie des Finanzministeriums schätzt, daß in Italien knapp 30% der Erträge der verarbeitenden Industrie am Fiskus vorbei erwirtschaftet werden. Allein in der Textil- und Bekleidungsindustrie arbeiten etwa 300-400.000 Beschäftigte in der Schattenwirtschaft - ohne jede Abgabenbelastung, ohne Tariflöhne, ohne rechtliche Garantien.

Ihre höchste Ausformung hat die Flexibilität all'italiana in den sogenannten industriellen Distrikten erfahren. Mit diesem Begriff werden hochspezialisierte Zonen oft geringer territorialer Ausdehnung bezeichnet, in denen sich zahlreiche Hersteller eines Produktes konzentrieren. Die industriellen Distrikte stehen für einen "zweiten Kapitalismus" (neben dem der Großindustrien, der sich im Nordwesten des Landes konzentrierte), einen territorial verankerten Kapitalismus, der ohne Brüche und ohne hohe soziale Kosten an oft jahrhundertealte Handwerkstraditionen anknüpfte. Einen Kapitalismus, der vor allem im Nordosten, in Mittelitalien und längs der Adriaküste bis nach Apulien eine sprunghafte Entwicklung erlebte. Eine Untersuchung von 1992 zählte 65 dieser Distrikte mit ca. 52.000 Unternehmen und 450.000 Beschäftigten. Die Produktpalette reicht von Textilwaren über Leder, Keramik, Möbel bis zu Brillen, Schmuck und Maschinen. Es sind also die beiden dynamischen Sektoren der italienischen Industrie (traditionelle Industrien, Spezialausrüster), die sich in den industriellen Distrikten wiederfinden.

Dort tätige Unternehmen verfügen über zusätzliche Standortvorteile: Sie können dank der örtlichen Monostruktur auf ein hochqualifiziertes und spezialisiertes Arbeitskräftereservoir zurückgreifen; sie bedienen sich oft Formen formeller (Vermarktungskonsortien) wie informeller Unternehmenskooperation (etwa Austausch von Arbeitskräften zwischen den Betrieben); sie profitieren in besonderer Weise von Formen vertikaler Kooperation mit Ausrüstungsindustrien; sie profitieren ebenfalls von einem kontinuierlichen, informellen Austausch technischen Wissens mit anderen Unternehmen des Distrikts.

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß Italiens erfolgreiche Branchen über einen Mix von Wettbewerbsvorteilen verfügen, in denen eine sehr günstige Kostenstruktur mit der Erreichung hoher Produktqualität und kontinuierlicher Produktinnovation einhergeht, in denen sich spezifische Standortvorteile - vor allem die geringe Neigung oder Fähigkeit des italienischen Staates, diese Sektoren einer effektiven Kontrolle zu unterwerfen - und spezifische Unternehmensvorteile addieren.

Diese Vorteile sind, wie sich zeigte, einerseits an die kleinen Betriebsgrößen, andererseits in starkem Maße an die territoriale Verankerung der Unternehmensnetze gebunden; sie sind aber auch indirekt von großen Unternehmen zu realisieren, sofern sie sich der Kleinbetriebe als Zulieferer bedienen. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist Benetton, das 80% der Produktion ausgelagert hat: 6000 Beschäftigten in der eigenen Firma stehen 45-50.000 Beschäftigte bei kleinen Subunternehmen gegenüber.

Gerade Italien widerlegt so das in der Standortdebatte verbreitete Bild vom heimatlosen Kapital schlagend: Italien weist Standortqualitäten auf, die unmittelbar an die territoriale Verankerung der Unternehmen gebunden sind, die diesen Unternehmen oft auch nur eine regionale Produktionsverlagerung ungeraten scheinen lassen müssen - die deshalb aber andererseits für von außen hineinströmende, außerhalb der gewachsenen Beziehungsgeflechte stehende Unternehmen oft gar nicht abrufbar sind. Unternehmen außerhalb jener Branchen, die sich der Flexibilität all'italiana bedienen können, wie auch ausländische Investoren sehen sich dagegen mit einem Bündel von Standortdefiziten konfrontiert.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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