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Wirtschaftspolitische Gratwanderung

Die Refahyol-Regierung hat sich auf eine wirtschaftspolitische Gratwanderung begeben. Erbakan hat ein großes Interesse daran, der Bevölkerung zu zeigen, daß es mit der "gerechten Ordnung" der RP ernst gemeint ist. Die wirtschaftliche Lage der Massen soll verbessert werden, die "Rentierökonomie", die Kapitalbesitzer gegenüber Produzenten und Arbeitern bevorteilt, soll abgeschafft werden. Um das zu erreichen, braucht der Staat finanz- und wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum, den er nicht hat. Neue Konsumausgaben und drastische Zinssenkungen sind ohne eine vorherige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und eine deutliche Rückführung der Inflation nicht vorstellbar.

Beides kann jedoch allenfalls mittelfristig ereicht werden. Eine strenge Haushaltsdisziplin, die weitere Sanierung maroder öffentlicher Sektoren, einschließlich der Sozial- und Krankenversicherung, sowie eine realistische Wechselkurspolitik sind wesentliche Voraussetzungen für das Gelingen der Konsolidierung. Die notwendigerweise der Einführung der "gerechten Ordnung" vorzuschaltende Konsolidierungspolitik verschöbe jene jedoch nicht nur in eine fernere Zukunft, sie träfe vor allem auch die Gruppen der Bevölkerung besonders hart, denen Erbakan bessere Aussichten versprochen hat.

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Populismus und Suche nach neuen Einnahmequellen

Ohne Rücksicht auf die genannten Zusammenhänge und Probleme verkündete Erbakan jedoch gleich nach seinem Amtsbeginn wirtschaftliche Wohltaten für die staatlichen Beschäftigten, die Landwirte sowie die Rentner. Dies muß zu einer erheblichen zusätzlichen Belastung des Haushalts führen. Sein Finanzminister brachte den Geldmarkt erheblich durcheinander mit der Ankündigung, künftig niedriger verzinste Staatspapiere mit längeren Laufzeiten emittieren und Zinsgewinne besteuern zu wollen. Beides, Erbakans Wohltaten und Seners Ankündigungen, entsprachen zwar der Refah-Ideologie, jedoch kaum der wirtschaftlichen Realität der Türkei.

Die Regierung ist nun vorrangig damit beschäftigt, neue Einnahmequellen zu erschließen, um die Finanzierung der von Erbakan verkündeten Lohnerhöhung, des Zinserlasses für Landwirte, der Steuerbefreiung des Minimumlohns und der Rentenerhöhungen sicherzustellen. Zu diesem Zweck wurden in sechswöchigem Abstand zwei Maßnahmenpakete verkündet, die Einnahmen von insgesamt 20 Mrd. Dollar bringen sollen. Davon soll ein Drittel noch 1996 realisiert werden. Verläuft die Operation erfolgreich, dann könnte der größte Teil des laufenden Haushaltsdefizites gedeckt werden. Das geht jedoch nicht ohne weiteres Schuldenmachen.

Neben einer Reihe finanztechnischer Maßnahmen, der beschleunigten Privatisierung der türkischen Telekom und dem Verkauf staatseigener Immobilien ist vor allem an eine Vergrößerung des Devisenzustroms gedacht. Dazu sollen einmal verschiedene Anreize für im Ausland lebende türkische Arbeitnehmer dienen, ihre Sparguthaben in der Türkei anzulegen. Zum anderen ist die Ausgabe von auf Fremdwährung lautenden oder devisenindexierten Staatspapieren mit mindestens einjähriger Laufzeit zu so günstigen Zinsen vorgesehen, daß türkische Banken veranlaßt werden, ihr im Ausland angelegtes Kapital zurückzuholen. Ferner sollen künftig staatliche Schuldpapiere einer zehnprozentigen Zinsabschlagsteuer unterliegen. Die notwendige Sanierung des Sozialversicherungssystems soll durch den Verkauf von Immobilien der verschiedenen Träger, darunter einige Luxushotels, erleichtert werden. Außerdem soll überschüssiges Wasser aus drei türkischen Flüssen an andere Mittelmeerstaaten verkauft werden. Allein die letzten drei Maßnahmen sollen knapp 70 Prozent der Einnahmen des zweiten Paketes erbringen.

Die Einnahmen-Pakete sind eine bunte Mischung von sinnvollen und aussichtsreichen Maßnahmen sowie Schritten, bei denen das erwünschte Ergebnis zweifelhaft scheint. So ist es zum Beispiel eine offene Frage, wieviel Ersparnisse türkische Arbeitnehmer aus Deutschland tatsächlich in der Türkei anlegen, wenn ihr eigentliches Lebensziel zunehmend der dauerhafte Aufenthalt in der Bundesrepublik ist. Genauso fraglich ist, ob sich für den Verkauf des Überschußwassers die erhofften Abnehmer im Mittelmeerraum finden lassen. Außerdem müssen für eine Reihe der vorgesehenen Maßnahmen noch die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen werden.

Am erfolgsträchtigsten erscheinen alle Pläne, die versuchen, über entsprechende finanzielle Anreize Auslandsguthaben türkischer Banken ins Land zurückzuholen, wie die ersten Erfahrungen mit der Ausgabe von auf Fremdwährung lautenden Staatspapieren zeigen.

Abgesehen davon, daß gerade dieses Element wohl nicht als ein Beitrag zur Reduzierung der "Rentierökonomie" bezeichnet werden kann, stellt sich bei den Einnahme-Paketen die generelle Frage nach ihrem Beitrag zur längerfristigen Sanierung der türkischen Wirtschaft. Schließlich handelt es sich bei ihnen nicht darum, das bestehende Staatsdefizit abzubauen, sondern es geht primär um die Vermeidung seiner Ausweitung. Zwei Probleme zeichnen sich ab: Einmal sollen die erzielten Einnahmen vorwiegend zur Finanzierung von zusätzlichen konsumtiven Staatsausgaben dienen. Diese wirken aber inflationstreibend, wenn sie nicht durch eine entsprechende Geld- und Kreditpolitik neutralisiert werden. Ein weiteres Anziehen der Zinsen soll aber gerade vermieden werden.

Zum zweiten entlasten die auf Fremdwährung lautenden Staatstitel zwar wegen ihrer längeren Laufzeit zunächst den staatlichen Schuldendienst, doch muß gleichzeitig durch eine entsprechende Währungs- und Finanzpolitik sichergestellt werden, daß nicht lediglich eine Verschiebung der Finanzkrise in die Zukunft erfolgt. Die Refinanzierung der eingegangenen Verpflichtungen wird nur dann problemlos möglich sein, wenn die Refahyol-Regierung bis dahin das türkische Haus in Ordnung gebracht hat.

Zyniker vertreten allerdings die Ansicht, daß dies in Erbakans Kalkül kaum eine Rolle spiele. Ihm gehe es vorrangig um kurzfristig vorzeigbare "Erfolge" gegenüber seinen Anhängern. Das soll den Boden für vorgezogene Neuwahlen in gut einem Jahr bereiten, wenn die laut Koalitionsprotokoll fällige Amtsübergabe an seine Stellvertreterin ansteht. In dieser Sicht sind die Einnahmen-Pakete Bestandteil einer langfristig orientierten "election economy".

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Anhaltend kritische makroökonomische Performance

Die Voraussetzungen für eine grundlegende Sanierung der türkischen Staatsfinanzen sind so gut oder so schlecht wie in den letzten fünf Jahren. Das zeigt ein Blick auf den makroökonomischen Datenkranz. Die anstehenden Aufgaben und die Rezepte ihrer Bewältigung sind ebenfalls nicht neu, sondern wurden von den wechselnden Regierungen über Jahre verschleppt.

Nach dem tiefen Einbruch 1994 zeigte die türkische Wirtschaft 1995 wieder ein befriedigendes Wachstum von 8 Prozent. Die bisherige Entwicklung in 1996 läßt auch für dieses Jahr ein Wachstum des BSP von 5 bis 7 Prozent erwarten. Erkauft werden diese guten Wachstumszahlen mit einer anhaltend hohen zweistelligen Inflationsrate: Sie betrug Ende 1995 für die Konsumentenpreise etwa 75 Prozent und bewegt sich gegenwärtig wieder auf über 80 Prozent. Seit Jahren müssen die Türken mit jährlichen Preissteigerungen von mindestens 60 Prozent leben. Ein Korrelat der hohen Inflation sind die hohen Zinsen. Die Sätze der sechsmonatigen Staatspapiere liegen bei 100 bis 110 Prozent, die Kosten "normaler" Bankkredite noch weit darüber.

Hauptsächliche Triebfeder der inflationären Entwicklung ist nach wie vor der öffentliche Sektor mit den Faktoren Staatsverschuldung, defizitären öffentlichen Unternehmen und dem bankrotten Sozialversicherungswesen. Die laufende Staatsverschuldung betrug 1995 etwa 295 Billionen TL. Das waren ungefähr 4 Prozent des BSP. Für 1996 sind ca. 860 Billionen. TL geplant, nach neueren Schätzungen werden es aber eher 1,3 TrillionenTL (etwa 22 Mrd. DM). Damit würde der BSP-Anteil deutlich steigen und knapp unter 10 Prozent liegen. Die gesamte türkische Inlandsverschuldung liegt mit etwa 30 Prozent des BSP von 1995 nach EU-Maßstäben allerdings in einem durchaus vertretbaren Rahmen.

Von größerer Bedeutung ist da schon die Auslandsverschuldung der Türkei mit etwa 72 Mrd. Dollar Ende März 1996. Das sind ca. 55 Prozent des letztjährigen BSP. Von der Gesamtsumme sind allerdings 57 Mrd. Dollar mittel- und langfristige Schulden, von denen knapp drei Viertel auf den öffentlichen Bereich entfallen. Hingegen sind über 90 Prozent der ca. 15 Mrd. Dollar kurzfristigen Auslandsschulden im Privatsektor entstanden. Der jährliche Schuldendienst liegt ungefähr bei 7 bis 8 Mrd. Dollar. Etwa die Hälfte dieser Mittel wurde bisher über die Inlandsverschuldung aufgebracht. Die Regierung hofft jetzt, hierfür verstärkt die neuen längerfristigen auf Fremdwährung lautenden Staatstitel nutzen zu können und so den Druck auf den inländischen Kapitalmarkt etwas zu verringern. Generell dürfte die Türkei auch 1996 in der Lage sein, ihre Auslandsschulden problemlos zu bedienen. Nicht zuletzt das Polster von 27,5 Mrd. Dollar an Devisenreserven stimmt hier zuversichtlich; 16,7 Mrd. Dollar davon entfallen auf Zentralbankreserven (Stand Mitte September).

Der Zustrom an Devisen dürfte auch ausreichen, um das 1996 deutlich steigende Defizit der Leistungsbilanz (1995 lag es bei 2,4 Mrd. Dollar) ausgleichen zu können. Zwar gibt es noch keine offiziellen Handelszahlen für 1996, doch deuten die verfügbaren Angaben aus den Kreisen der Außenwirtschaftsvereinigungen darauf hin, daß es zu einem deutlichen Anstieg des Handelsbilanzdefizits kommen wird. Hauptursache ist eine überproportional hohe Steigerung der Importe (ca. 65 Prozent) bei einem deutlich geringeren Exportwachstum (ca. 25 Prozent). Schon 1995 hatte es aufgrund einer vergleichbaren Entwicklung ein Defizit im Außenhandel von 14 Mrd. Dollar gegeben. 1996 hat insbesondere die bisherige Exportlokomotive "Textil- und Bekleidung" spürbar an Schwung verloren. Aus Kreisen der Exporteure werden dafür hauptsächlich die hohe Inflation, die kostentreibend wirke, und die relative Überbewertung der Türkischen Lira, die die Exportpreise künstlich verteuere, verantwortlich gemacht.

Jüngste Stellungnahmen der OECD und des IWF sprechen die kritische gesamtwirtschaftliche Lage der Türkei ebenso unverblümt an wie privatwirtschaftliche Ratingagenturen oder Forschungseinrichtungen. Dennoch gibt es noch keine unabweisbare Notwendigkeit für einen neuen Beistandskredit des IWF. Sollte die Refahyol-Regierung allerdings weiterhin nur halbherzig an die schmerzhafte Sanierung der Staatsfinanzen und des öffentlichen Sektors herangehen, könnte sich mittelfristig eine echte Krise zusammenbrauen. Der ziemlich gesunde Privatsektor der türkischen Wirtschaft, der auch gesamtwirtschaftlich zunehmend an Gewicht gewinnt, kann auf die Dauer nicht alle Versäumnisse der wirtschaftspolitischen Führung auffangen und ausgleichen. Und auch eine florierende Schattenwirtschaft kann die inflationsbedingten Einkommensverschlechterungen der breiten Masse nur begrenzt kompensieren.

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Drohender Energiekollaps

Größere Probleme könnten der türkischen Wirtschaft mittelfristig wieder bei der Energieversorgung erwachsen. Schon 1996 kommt es in den Ballungsräumen zu ersten zeitweiligen Stromabschaltungen. Alle Untersuchungen prognostizieren für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre ein Wachstum des Energieverbrauchs, das eine rasche Ausweitung der Erzeugungskapazitäten dringend notwendig macht. Dem steht in erster Linie der staatliche Kapitalmangel entgegen: Es wären pro Jahr etwa Investitionen von 5 Mrd. Dollar notwendig, das Budget des Energieministeriums liegt bei gerade 1 Mrd. Dollar. Ohne ausländischen Kapitaleinsatz sind also die notwendigen Investitionen nicht zu tätigen.

Die Türkei hat jedoch bisher erhebliche Schwierigkeiten gehabt, ausländischen Investoren hinreichend attraktive Konditionen für Kraftwerksprojekte zu bieten. Insbesondere das schon seit den 80er Jahren immer wieder ins Gespräch gebrachte BOT-Modell (Build, operate, transfer) konnte nicht in eine für Investoren befriedigende Form gebracht werden. Dabei errichtet der ausländische Kapitalgeber das Kraftwerk, betreibt es über einen festgelegten Zeitraum, in dem er seinen Kapitaleinsatz plus Verzinsung amortisiert, und übergibt es danach an den Staat. Angesichts der geschilderten gesamtwirtschaftlichen Lage ist dieses Modell für viele Experten die einzige Möglichkeit, die erheblichen Beträge an ausländischem Kapital überhaupt ins Land zu bringen, die für derartige Großvorhaben notwendig sind. Nur so kann eine ins nicht mehr Handhabbare wachsende weitere Verschuldung vermieden werden.

Die Beseitigung der Energielücke durch Kraftwerkbau wird dadurch zusätzlich kompliziert, daß in den letzten zehn Jahren auch in der Türkei das Umweltbewußtsein gewachsen ist. Das äußert sich zum Beispiel in von Umweltschützern erstrittenen Gerichtsurteilen, nach denen schon fertiggestellte Kohlekraftwerke erst nach einer kostspieligen Nachrüstung ihrer Abgasanlagen in Betrieb genommen werden dürfen. Ebenso formiert sich ökologisch motivierter Widerstand gegen die von der Regierung erneut aus der Schublade geholten Pläne für den Bau von Kernkraftwerken. Die unendliche Geschichte der türkischen KKW wird in den nächsten Jahren sicher um einige weitere Kapitel ergänzt werden, will das Energieministerium doch nun die seit langem projektierten zwei Kraftwerke an der südlichen Mittelmeerküste (Akkuyu) und am Schwarzen Meer (Sinop) bis 2007 fertiggestellt haben. Auschreibungen werden vorbereitet, und es bleibt abzuwarten, ob die Projekte dieses Mal über die Planungsphase hinauskommen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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