FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Kaum Neues in der Innenpolitik: Law and Order, Personalprotektion und ein korrupter Polizeiapparat

Die Türkei wird mit einer Reihe innerer Probleme konfrontiert, deren ungenügende Bearbeitung längerfristig die Stabilität des Landes beeinträchtigen wird. Das sind vordergründig zum einen das seit nunmehr zwölf Jahren mit dem Gewaltterror der PKK (und ca. 20 000 Toten) verbundene Kurdenproblem und zum anderen erhebliche Defizite bei der effektiven Durchsetzung bürgerlicher Freiheitsrechte und demokratischer Prinzipien.

Dahinter verbergen sich jedoch tieferliegende strukturelle Probleme des türkischen Staates und der Gesellschaft. Hierzu zählt an erster Stelle der rapide soziale Wandel, dessen negative Begleitumstände die politische Führung seit einigen Jahren nicht mehr steuern kann (Bevölkerungsentwicklung, Bankrott der sozialen Sicherungssysteme, planlose Urbanisierung, Bildungsnotstand). Von gleicher Bedeutung ist die seit Jahrzehnten zu beobachtende Unfähigkeit der kemalistischen Eliten, der Bevölkerung jenseits eines unreflektierten Nationalismus und eines formalisierten Laizismus politische Sinnelemente anzubieten, die dem einfachen Bürger Orientierung in einer sich rasch verändernden Umwelt geben können. Verschäft wird die Situation durch das anhaltende Versagen der staatlichen Wirtschaftspolitik, durch die zunehmenden Spannungen zwischen gesellschaftlichen und politischen Gruppen (Kemalisten/Religiöse oder Sunniten/Aleviten oder Türken/Kurden) sowie durch eine Zersplitterung der Parteienlandschaft, die zur Erosion der politischen Mitte führt.

Genauso wie ihre Vorgängerinnen läßt auch die RP-DYP-Koalition nicht erkennen, daß sie bereit und in der Lage wäre, die erwähnten Probleme zielstrebig anzupacken. Es zeigt sich zunehmend, daß die "gerechte Ordnung", die von der Wohlfahrtspartei propagiert wird, auch nur eine politische Leerformel, keineswegs aber eine tragfähige gesellschaftspolitische Konzeption ist. Dies wurde zum Beispiel deutlich, als Ende Juli ein 70 Tage dauernder Hungerstreik politischer Häftlinge in mehreren türkischen Haftanstalten nur durch die Intervention einiger prominenter Intellektueller und Parlamentsabgeordneter zu einem Ende gebracht werden konnte. Auch der Umstand, daß zu diesem Zeitpunkt bereits 12 Häftlinge gestorben waren, hatte den Refah-Justizminister Sevket Kazan nicht zu einem früheren Einlenken bewegen können. Seine unnachgiebige Haltung unterschied sich nicht von der seines rechts-konservativen Vorgängers.

Mehr Aufsehen erregte der enge Vertraute von Ministerpräsident Erbakan mit seinem Vorschlag, die irakische Vollzugspraxis zu übernehmen, nach der das Auswendiglernen von Koranversen als Grund für Hafterleichterungen anerkannt wird. Besonders tut sich Kazan aber mit dem Versuch hervor, den kemalistisch geprägten Justizapparat zu islamisieren. Zu diesem Zweck sind über 1000 Versetzungen geplant. Bisher stößt er damit jedoch auf heftigen Widerstand der juristischen Standesorganisationen. Auch hohe Richter äußern unverhohlen öffentlich Kritik am Minister und der Politik des Refahflügels der Regierung.

Kazans Personalpolitik ist jedoch nur ein besonders drastisches Beispiel für die von der RP unternommenen Versuche, im Bereich der von ihnen geführten Ministerien auf allen Ebenen Personen ihrer Couleur zu installieren. Das funktioniert auf den unteren Ebenen besser als in der Führungsetage, wo neben der Zustimmung des Koalitionspartners auch noch das Plazet von Staatspräsident Demirel eingeholt werden muß.

Das Bemühen der RP ist in der Türkei an sich nichts Ungewöhnliches, gehört es doch zum guten bzw. schlechten politischen Brauch, nach der Erringung von Machtpositionen die eigenen Änhänger durch die Vergabe von Posten für ihre bis dahin gezeigte Unterstützung (und Geduld) zu belohnen. Problematisch daran ist dieses Mal der Umstand, daß so Tausende von religiös orientierten Personen zusätzlich in öffentliche Ämter gelangen. Die seit Jahrzehnten andauernde schleichende Islamisierung der Türkei bekäme einen gewaltigen Schub. Das sollte jedoch nicht mit den Anfängen der Errichtung einer "Islamischen Republik Türkei" verwechselt werden. Die große Mehrzahl aktiver Refah-Anhänger ist bisher ebensowenig durch radikale fundamentalistische Positionen aufgefallen wie die Parteiführung.

Weder Justizminister Kazan noch sein DYP-Pendant, Innenminister Mehmet Agar, haben bisher erkennbare Anstrengungen unternommen, den staatlichen Sicherheitsapparat, sei es in den Gefängnissen, sei es bei den Polizeibehörden, zu einem eher mit demokratischen Normen zu vereinbarenden Verhalten zu bewegen. Vor allem die Polizeibehörden zeichnen sich durch Korruption, hohe Brutalitätsbereitschaft und eine offene Ablehnung demokratischer Prinzipien aus. Mehrere Fälle in der jüngeren Vergangenheit haben starke Anzeichen für eine enge Verbindung zwischen Sicherheitskräften und dem organisierten Verbrechen, einschließlich der Patronage durch politische Kreise, gegeben. Der Einsatz des organisierten Verbrechens bei der Regelung von geschäftlichen Streitigkeiten scheint in einigen Sektoren der türkischen Wirtschaft nicht ungewöhnlich. Wenn Fachleute davon ausgehen, daß die "Istanbuler Mafia" über Vermögenswerte von 1,5 Mrd. Dollar verfügt, werden die Gefährdungen deutlich, die das organisierte Verbrechen heute für Teile der türkischen Gesellschaft, insbesondere in ihren modernen Sektoren, darstellt.

Page Top

Verfrühter Optimismus in der Kurdenfrage

Bewegt sich also auch die neue Regierung bisher kaum in Richtung auf eine Stärkung der türkischen demokratischen Verhältnisse, so schien sie doch bereit, in der Kurdenfrage einen neuen Anlauf für einen planvollen politischen Lösungsansatz zu machen. Am 22. August verkündete der Staatsminister und Regierungssprecher Abdullah Gül die Grundzüge eines umfassenden Programms zur Behandlung des Kurdenproblems. Darin werden wirtschaftliche, soziale und rechtliche Maßnahmen mit der Fortsetzung der militärischen Terrorbekämpfung verbunden. Im einzelnen sollen Gesetze, die den Gebrauch der kurdischen Sprache und Kultur einschränken, geändert werden, bis hin zu der Möglichkeit für Kurden, auch vor Gericht ihre Muttersprache gebrauchen zu dürfen. Die Notstandsverwaltung im Südosten soll von gegenwärtig zehn auf die vier unmittelbaren Grenzprovinzen beschränkt, das System der "Dorfschützer" abgebaut werden. Ergänzend zu diesen politischen und rechtlichen Schritten will die Regierung in großem Umfang öffentliche Mittel im Südosten investieren und weitreichende Anreize für private Investitionen in der Region schaffen. Mit diesem Maßnahmenpaket erhofft sich die Regierung Erbakan eine nachhaltige Abwendung der kurdischen Bevölkerung von der PKK herbeizuführen.

In einer Art Doppelstrategie ist ferner daran gedacht, die innertürkischen Maßnahmen außenpolitisch durch die Verbesserung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten Iran, Irak und Syrien abzustützen. Diese sollen dazu gebracht werden, ihre direkte oder indirekte Unterstützung der PKK aufzugeben. Die international für Aufsehen sorgende Besuchsdiplomatie der neuen türkischen Regierung in Teheran, Bagdad und Damaskus Anfang August hatte auch den Zweck, hierfür den Boden zu bereiten. Eine regionale Isolierung der PKK wird von Erbakan als wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der "Anti-Terror-Aktionen" der türkischen Sicherheitskräfte angesehen.

Erbakans sogenannter "Masterplan" für das türkische Kurdenproblem scheiterte jedoch am Widerstand des Nationalen Sicherheitsrates und am Koalitionspartner. Dem Parlament, das Ende August extra aus der Sommerpause zurückgerufen wurde, wurde nur jener Teil des Paketes vorgelegt, der Maßnahmen zur Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen im Südosten beinhaltet. Alle Absichten zur Entwicklung der kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten der Kurden, zur Unterstellung der Sicherheitskräfte beim "Anti-Terroreinsatz" im Notstandsgebiet unter die zivilen Provinzgouverneure oder zur allmählichen Abschaffung des Dorfschützer-Systems wurden erst einmal zurückgestellt.

Page Top

Parteiführer festigen ihre Position trotz wachsender Unzufriedenheit

Nachdem Erbakan schon früher unter dem Druck der Militärführung vorsichtige Bemühungen zur Einrichtung eines "inoffiziellen" Kontaktes zur PKK hatte aufgeben müssen, war dies ein neuerlicher Rückschlag. Entsprechend groß dürfte die Enttäuschung und Verärgerung nicht nur bei der Bevölkerung sein, sondern mehr noch bei den Abgeordneten und sonstigen Vertretern der Partei aus der Region, die den Mißerfolg vor Ort erklären und rechtfertigen müssen.

Die Lösung dieses innenpolitischen Problems Nummer Eins der Türkei wird zunehmend zum Prüfstein für den Erfolg der politischen Taktik Erbakans. Er hat zum Zweck der Teilhabe an der Regierungsgewalt gegenüber dem Koalitionspartner und dem Militär erhebliche Zugeständnisse gemacht. Der Streit darüber, ob und wieviele ihrer Prinzipien die Wohlfahrtspartei auf dem Altar der Machtausübung opfern dürfe, ohne ihre Identität preiszugeben, hat in den Gliederungen der Partei schon begonnen. Anlaß hierfür ist nicht nur das bisherige Scheitern der neuen Kurdenpolitik, sondern auch eine Reihe wirtschafts- und außenpolitischer Maßnahmen der Koalition, die dem radikalen Teil der Refah-Basis zu sehr als eine Fortsetzung der alten Politik erscheinen.

Noch ist Erbakan von direkter Kritik verschont, doch wächst der Vorwurf eher radikal-islamisch eingestellter Gruppen in der RP an die eher pragmatisch orientierten "Teilhaber der Macht", die Partei auf einen falschen Weg zu führen. Sollte die RP-Führung sich jedoch nicht aus den Zwängen der Koalition und der Rücksichtnahme auf das Militär befreien und sollte in der Wirtschaftspolitik jenseits des kurzfristig entfachten populistischen Strohfeuers keine nachhaltige Besserung der Situation der breiten Masse zu bewerkstelligen sein, dann könnte auch Erbakan Probleme bekommen.

Der Zustand der anderen Parteien gibt allerdings kaum zur Hoffnung Anlaß, daß sie in der Lage wären, von einer Schwäche der RP zu profitieren. Mesut Yilmaz ist dabei, die Hauptopposition, seine Mutterlandspartei (ANAP), auf einen neuen Kurs zu bringen. Er hat auf dem Parteitag im August gegen erstaunlich geringen Widerstand die Koexistenz der vier Flügel als konstitutives Element der Partei für beendet erklärt: "Es gibt nur noch eine einheitliche ANAP, die für Nationalismus, Konservatismus, Erneuerung, Modernismus, soziale Gerechtigkeit und freie Marktwirtschaft steht." Das läuft faktisch auf ein Hinausdrängen der religiösen Kräfte hinaus, die in den neu gewählten Führungsgremien auch kaum noch repräsentiert sind. Die ANAP könnte so auch an Attraktivität für gemäßigte Gruppen der linken Mitte gewinnen.

Das um so mehr, als die türkische Sozialdemokratie nach wie vor keine Anzeichen zeigt, sich von ihrem dramatischen Verfall zu erholen. Die CHP von Deniz Baykal bleibt in sich zerstritten und gegenüber der Öffentlichkeit politisch konturenlos. Ecevits DSP konnte ihre bei den letzten Wahlen errungene Position als vierte Kraft nicht ausbauen. Das mag im wesentlichen daran liegen, daß der Parteivorsitzende und seine Frau die DSP nach wie vor als "Familienunternehmen" betrachten, in dem unbedingte Gefolgschaftstreue zum Chef die größte Tugend ist. Ecevits unbestrittenes Charisma reicht allein jedoch nicht aus, der Partei größere neue Wählerschichten zu erschließen. Seine politische Programmatik ist dafür ebenfalls zu eng, beschränkt sie sich doch hauptsächlich auf Laizismus, nationales Sentiment und eine stark etatistisch gefärbte Marktwirtschaft.

Tansu Çiller hat die DYP schon seit einiger Zeit zu "ihrer" Partei gemacht und diesen Trend bei den letzten Parlamentswahlen durch ihre Kandidatenauswahl noch verstärkt. Die "alte Garde" der Demirel-Treuen hat resigniert und zum großen Teil die Partei verlassen. Ob es ihnen gelingt, eine eigene Mitte-Rechts-Partei zu gründen, möglicherweise unter Führung des einstigen Çiller-Rivalen und langjährigen Demirel-Weggefährten Hüsamettin Cindoruk, bleibt abzuwarten. Selbst dann dürfte es dieser Gruppierung schwerfallen, sich erfolgreich in der Parteienlandschaft zu etablieren.

In der rechten Mitte sind also die Aussichten auf die Wiederherstellung einer einheitlichen starken Gruppierung, wie es vor 1980 die Gerechtigkeitspartei unter Demirel war, weiterhin gering. Damit ist aber auch die wesentliche Voraussetzung für den Erfolg Erbakans und der RP weiter gegeben: die Unfähigkeit der nicht-religiösen Mehrheit, regierungsfähige Gruppierungen zu formen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

Previous Page TOC Next Page