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Außenpolitik: Betonung der türkischen Eigenständigkeit

Es sollte eigentlich nicht überraschen, daß der türkische Ministerpräsident seine erste Auslandsreise nicht nach Westen, sondern nach Iran und in einige, zum Teil islamische Mittelmächte Asiens mit wachsender wirtschaftlicher Bedeutung (Pakistan, Malaysia, Singapur und Indonesien) unternommen hat. Erbakan hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß er gute und enge politische Verbindungen mit wichtigen islamischen "Bruderstaaten" einer starken Westbindung der Türkei vorzieht.

Als Pramatiker weiß er allerdings auch, daß die Türkei für lange Zeit aus wirtschaftlichen und politischen Gründen nicht auf die Beziehungen zum Westen verzichten kann. Zudem ist er für einen Erfolg in der Koalition auf das Wohlwollen der überwiegend westlich orientierten Kreise der türkischen Elite und der Militärführung angewiesen.

Dieser Einsicht trug er schon bald nach seinem Amtsbeginn Rechnung, als er dafür sorgte, daß gegen anfänglichen Widerstand mit Hilfe seiner Fraktion im türkischen Parlament eine fünfmonatige Verlängerung der vom türkische Luftwaffenstützpunkt Incirlik aus unternommenen alliierten Überwachungsflüge in der nordirakischen Schutzzone ermöglicht wurde. In der Vergangenheit hatte die RP stets zu den entschiedensten Kritikern der vor allem von den USA ins Leben gerufenen "Operation Provide Comfort" (OPC) gehört. Mit ihr sollen die nordirakischen Kurden seit dem März 1991 vor dem Zugriff Sadam Husseins geschützt werden. Die jüngsten Entwicklungen im Nordirak lassen die Fortsetzung der Aktion allerdings unwahrscheinlich werden. Das könnte Erbakan von einem erheblichen innerparteilichen Problem befreien, das sonst Ende des Jahres auf ihn zukommen würde, wenn die türkische Nationalversammlung erneut über die weitere Verlängerung von OPC abstimmen muß.

Ähnlich problemlos vollzog der Ministerpräsident einen politischen Schwenk, als er den weiteren vertraglichen Ausbau der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Israel hinnahm. Als das von der seinerzeitigen Regierungschefin Çiller im Februar geschlossene Abkommen über Maßnahmen der militärischen Zusammenarbeit mit Tel Aviv bekannt wurde, zählte Erbakan noch zu den deutlichsten Kritikern und sprach von einem Verrat an den islamischen Brüdern. Anfang August nahm er das neue Abkommen stillschweigend hin, mit dem vor allem der Weg zur Modernisierung der türkischen F-4 Kampfflugzeuge durch die israelische Luftwaffenindustrie freigemacht wurde.

Die Fortsetzung der Westbindung ist also quasi vorgegebener Bestandteil der Außenpolitik der neuen Koalition. Dies hat Erbakan akzeptiert, aber hier kann und will er sich nicht profilieren. Er muß vielmehr darauf achten, in den Augen seiner Anhänger nicht zu viele Zugeständnisse an eine Außenpolitik zu machen, die nach der erklärten Meinung der RP der Türkei eigentlich zum Nachteil gereicht. Was liegt also näher, als diesen Teil der Außenpolitik, einschließlich der Beziehungen zum IWF, seiner Stellvertreterin und Außenministerin Tansu Çiller zu überlassen und sich selbst eher durch außenpolitische Aktivitäten hervorzutun, die auf das Wohlwollen seiner Anhänger treffen.

Wenn er dabei auch noch aussichtsreiche Wirtschaftsverbindungen knüpfen kann, so dürfte das seinem Ansehen als Politiker, der das Wohlergehen der Türkei im Auge hat, nur nützen. Refah-Kreise werden deshalb auch nicht müde, die gut 40 Wirtschaftsabkommen hervorzuheben, die auf Erbakans Asientrip abgeschlossen wurden. Engere Beziehungen zum aufstrebenden asiatischen Wirtschaftsraum herzustellen, war übrigens auch schon in den 80er Jahren eine außenpolitische Maxime des damaligen Ministerpräsidenten Turgut Özal und ist keineswegs eine Erfindung der Wohlfahrtspartei.

Diese Politik trifft zudem auf ein in der Türkei weit verbreitetes Empfinden, daß es angesichts der vom Westen gezeigten Vernachlässigung türkischer Interessen nur nützlich sein könne, wenn Ankara in der Außenpolitik größeres Selbstbewußtsein zeige. Das äußert sich traditionell nicht nur in einem hartnäckigen Verfechten der türkischen Anliegen gegenüber den westlichen Verbündeten, sondern auch schon seit Ende der 60er Jahre immer wieder in Versuchen, eine stärkere Diversifizierung der außenpolitischen Beziehungen herbeizuführen. Dabei waren die Staaten in Nah-/Mittelost und Nordafrika ebenso Ziel entsprechender Bemühungen wie die Länder des asiatischen Raums. In den letzten Jahren sind in dieser Hinsicht die neuen Republiken in Zentralasien dazugekommen.

Allerdings hat die Türkei in ihrem Bemühen um eine Auffächerung ihrer außenpolitischen Beziehungen bisher wenig Erfolge verzeichnen können. Doch das hat nicht dazu geführt, in der türkischen Öffentlichkeit entsprechende Wünsche und Forderungen zum Verstummen zu bringen. Sie werden insbesondere immer dann artikuliert, wenn die EU und/oder die USA in ihrer Außenpolitik türkische Interessen zu wenig berücksichtigen, wie das gegenwärtig nach Meinung breiter Kreise wieder der Fall ist.

Die Europäer zeigen deutlich, daß der Partner am Bosporus in der außenpolitischen Prioritätenskala weit nach hinten gerutscht ist, und Washington betreibt im Mittleren Osten eine Politik, die auf die regionalen Zwänge keine Rücksicht nimmt, denen sich die Türkei ausgesetzt sieht.

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Das Gasgeschäft mit Iran

Deshalb stößt in der Türkei das Gasgeschäft mit Iran auch kaum auf Kritik, das im Westen, vor allem in den USA, erhebliche Irritationen hervorgerufen hat. Zu offensichtlich war die Provokation Washingtons, hatte der amerikanische Präsident doch nur wenige Tage zuvor ein Gesetz unterzeichnet, das allen ausländischen Firmen Sanktionen androht, die mehr als 40 Mio. Dollar pro Jahr in den Öl- oder Gassektor Irans oder Libyens investieren. Erbakan jedoch unterzeichnete in Teheran ein Abkommen, das über die nächsten 23 Jahre die Lieferung von über 100 Mrd. Kubikmeter iranischen Erdgases für 20 Mrd. Dollar in die Türkei vorsieht. Allerdings war dieses Vorhaben schon seit dem vergangenen Jahr von der damaligen Ministerpräsidentin Çiller betrieben worden, und der Vertrag lag seit Monaten unterschriftsreif vor. Erbakans Beitrag scheint im wesentlichen darin bestanden zu haben, Klauseln aus dem Papier zu entfernen, die eine türkische Beteiligung an der Finanzierung des von Iran zu erstellenden Teils der Pipeline vorsahen. Das neue amerikanische Gesetz wäre somit also nicht verletzt.

Ohne Zweifel dürfte Erbakan, trotz gegenteiliger Behauptungen gegenüber der Presse in Teheran, die Provokation Washingtons gewollt haben. Ob er damit aber wirklich ein Signal für einen neuen — islamistischen — Kurs der türkischen Außenpolitik setzen wollte, ist weniger klar. Es gibt nämlich einige wichtige andere Gründe dafür, zwischen Ankara und Teheran ein spannungsfreies und nachbarschaftliches Verhältnis zu schaffen. Da ist zum einen die Aktionsfreiheit, die PKK-Kampfgruppen bisher im iranischen Grenzgebiet für ihre Überfälle in der Türkei genossen haben. Erbakan hat angeblich von seinem iranischen Kollegen Rafsanjani Zusagen erhalten, daß dies künftig unterbunden werde.

Die Türkei braucht außerdem neben den erwähnten eigenen Anstrengungen beim Kraftwerksbau dringend zusätzliche Energieimporte. Die bisherige einseitige Abhängigkeit im Gassektor von Rußland verursacht Unbehagen. Außer mit Iran sind deshalb auch noch Lieferabkommen mit Algerien, Nigeria, Qatar und Turkmenistan geplant. Insbesondere im letzten Fall bekommt ein weiterer Faktor Bedeutung, der für eine gute türkisch-iranische Nachbarschaft spricht: die iranischen Verbindungsrouten nach Zentralasien. Der schon vor zwei Jahren zwischen Ankara und Akschabad geschlossene Erdgasvertrag, mit dem turkmenisches Erdgas in die Türkei und von dort auch weiter nach Europa geliefert werden soll, bekommt mit der nunmehr vereinbarten iranisch-türkischen Pipeline überhaupt erst eine Aussicht auf Verwirklichung.

Es ist also für die Türkei kaum möglich, den iranischen Nachbarn zu ignorieren. Diese Erkenntnis hat schon die Politik aller bisherigen türkischen Regierungen bestimmt und dazu geführt, daß Ministerpräsidenten jeglicher politischer Couleur sich um gute nachbarschaftliche Beziehungen mit Teheran bemüht haben. In diesem Sinne war Erbakans Besuch bei Rafsanjani auch ein Zeichen von Kontinuität.

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Andauernde Konflikte mit Europa und Griechenland

Kontinuität dürfte auch das Kennzeichen der Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union sein — allerdings in einem ziemlich negativen Sinn. Der Abschluß der Zollunion bedeutet keine Wende zum Besseren. Beide Seiten, Ankara und die Fünfzehn, halten an ihrer unterschiedlichen Sichtweise der Bedeutung dieses Schrittes fest: Für die EU ist die Zollunion ein weiteres Element in dem Bemühen, die Türkei näher an Europa heranzuführen, ohne damit jedoch die künftige Entwicklung zu präjudizieren. Für Ankara bedeutet die Zollunion dagegen den letzten Schritt vor dem Beitritt zur EU.

Das dürfte zumindest die Meinung des bürgerlichen Koalitionspartners von Erbakan sein. Er selbst hat zwar nach der Regierungsbildung seine noch im Frühjahr betonte Ablehnung der am 6. März 1995 zwischen Brüssel und Ankara getroffenen Vereinbarungen nicht wiederholt, doch dürfte er nach wie vor keinerlei Drang zum EU-Beitritt verspüren. In dieser Hinsicht ist er seiner Haltung treu geblieben, die ihn schon 1980 bewog, Beitrittsbemühungen der damaligen Regierung Demirel in der türkischen Nationalversammlung mit einem Mißtrauensantrag gegen den Außenminister zu torpedieren. Das beschleunigte seinerzeit den Autoritätsverfall der Minderheitsregierung und begünstigte indirekt das Eingreifen der Militärs vom 12. September 1980.

Doch auch für das reibungslose Funktionieren der Zollunion wird es Schwierigkeiten geben. Die Türkei sieht sich bereits schon wieder als "Verlierer" der mit der EU getroffenen Abmachung. Der Grund hierfür liegt in der Unfähigkeit der Union, die im Rahmen der Zollunion zugesagte Finanzhilfe an die Türkei zu leisten. Griechenland blockiert einen entsprechenden Beschluß des EU-Rates vor allem mit dem Hinweis auf die Lage auf Zypern und auf bestehende bilaterale Konflikte, die erst Ende Januar wieder eskaliert waren. Nachdem auch auf Zypern die Spannung erneut gestiegen ist und es bei Auseinandersetzungen Ende August/Anfang September auf beiden Seiten zu Toten kam, hat auch das Europäische Parlament im September die Aussetzung der Finanzhilfe beschlossen. Das EP macht die Türkei für die Vorfälle und Toten auf Zypern verantwortlich.

Die Bereinigung des griechisch-türkischen Konflikts bleibt die Hauptvoraussetzung für eine nachhaltige Verbesserung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU und damit für eine stärkere Einbindung der Türkei in Europa. Es ist aber auch künftig kaum damit zu rechnen, daß die Regierungen in Athen und Ankara sich im Interesse eines dauerhaften Ausgleichs über die zahlreichen innenpolitische Störfaktoren hinwegsetzen werden. Selbst wenn der im Amt bestätigte griechische Ministerpräsident Simitis eine größere Konzilianz zeigen sollte, kann nicht damit gerechnet werden, daß Erbakan den Griechen ein ähnlich weitgehendes Entgegenkommen signalisieren wird, wie es sein bürgerlicher Amtsvorgänger Mesut Yilmaz im Frühjahr 1996 getan hat.

Von besonderer Bedeutung für die Zukunft der Beziehungen zur Türkei ist das ungelöste Zypernproblem. Die Festlegung der EU auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sechs Monate nach Ende der Regierungskonferenz zur Revision des Maastrichter Vertrages schafft Zwänge. Bereits die Aufnahme von Verhandlungen, ohne daß eine Aussicht auf eine Lösung des Konflikts auf der Insel besteht, wird die Beziehungen zur Türkei belasten - insbesondere bei einem Andauern der EU-Finanzblockade im Rahmen der Zollunion und dem andauernden Ausschluß der Türkei von den Bemühungen, durch eine Erweiterung der EU die neue "europäische Architektur" zu formen.

Ein Beitritt Zyperns ohne vorherige Lösung des Konflikts und gegen den Willen der Zyperntürken (und Ankaras) wird die Teilung der Insel verfestigen und die Spannungen im östlichen Mittelmeeer drastisch verschärfen. Die türkische Öffentlichkeit wird ihn als erneute Absage an die türkischen europäischen Ambitionen interpretieren. Nationale und religiöse Kräfte in der Türkei würden weiter gestärkt. Der schleichende Entfremdungsprozeß zwischen der EU und der Türkei gewänne an Momentum, ein Bruch der Beziehungen wäre bei einer entsprechenden innenpolitischen Konstellation in der Türkei nicht auszuschließen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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