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Wirtschaftliche Entwicklung

Daß die Wirtschaft sich gut entwickelt, bezweifelt niemand in Polen. Zwischen Opposition und Regierung ist allerdings umstritten, wer sich die Erfolge zuschreiben kann und wie die Aussichten für die Zukunft sind. Nach Oppositionsmeinung sind sie Früchte der von den "Solidarnosc"-Regierungen zwischen 1989 und 1993 durchgesetzten Wirtschaftsreformen, die nun von den Nachfolgern geerntet werden, und deren eigene Politik die wirtschaftlichen Aussichten für die Zukunft verdüsterten.

Bisher setzt die Koalition von SLD und Bauernpartei den Reform- und Stabilisierungskurs der früheren Regierungen fort. Allerdings bemüht sie sich um eine stärkere soziale Abfederung des Reformprozesses mit zunehmenden Übersteuerungen in Richtung Staatsinterventionismus, Reformverzögerung, Protektionismus und - wie behauptet wird - Klientelismus vor allem auf regionaler und lokaler Ebene.

1995 war für die polnische Wirtschaft mit fast 7%iger BIP-, 13%iger Landwirtschafts-, 19%iger Investitions- und 33%iger Exportwachstumsrate ein Rekordjahr. Wie 1995 werden auch 1996 Export und Investitionen Motoren des Wachstums sein. Der Auf-schwung wird 1996, ebenso wie 1995, auch von der Zunahme des privaten Verbrauchs getragen, der im Jahre 1995 erstmals von Reallohnsteigerungen in Höhe von 4,6% im Jahre 1996 von einer geschätzten Zunahme von fast 4% gestützt wird.

Polnische Wirtschaftsindikatoren 1990-1996


Auch die Wettbewerbsfähigkeit der polnischen Industrie verbesserte sich 1995: So stieg die Arbeitsproduktivität um ca. 9%, der durchschnittliche Nettogewinn der Unternehmen um - je nach Quellenlage - zwischen 35% und 62%.

Begründet werden die günstigen Wirtschaftsergebnisse auch durch die Expansion des Privatsektors, der sich durch Privatisierungen und vor allem Neugründungen ständig erweitert. Sein Anteil an der Beschäftigung stieg von 60,6% 1994 auf 62,6% im Jahre 1995. Ende des Jahres 1996 werden 64% der Beschäftigten im Privatsektor arbeiten. Sein Wertschöpfungsanteil am BIP wird 1996 ca. 62% betragen.

Nach den Rekordzahlen von 1995 wird Polen 1996 allerdings in einen Pfad langsamerer Entwicklung einbiegen. Das Zentrale Planungsamt korrigierte nach Sichtung der Ergebnisse des 1. Quartals 1996 seine Prognosen nach unten: Der besonders harte Winter mit seinen negativen Auswirkungen auf die Bauwirtschaft, die Landwirtschaft und Teile der Industrie und eine Verringerung der internen wie auch der Exportnachfrage werden die Wachstumsrate von prognostizierten mehr als 6% auf zwischen 5 und 5,5% verringern. Der Output der Landwirtschaft wird 4%-8% unter dem des letzten Jahres liegen. Der Exportzuwachs wird sich gegenüber 1995 von 33% auf 15% um mehr als um die Hälfte verringern. Das Defizit der Handelsbilanz erreichte nach den ersten drei Monaten fast das Niveau des Jahres 1995 und wird sich mit US-Dollar 4,5 Mrd. gegenüber 1995 fast verdreifachen. Allerdings werden voraussichtlich auch im Jahre 1996 die unregistrierten Einnahmen im Grenzhandel mit Deutschland und Rußland dieses Defizit erheblich verringern.

Der Investitionszuwachs wird auf 11% (1995: 19%) prognostiziert. Das Haushaltsdefizit wird von 2,7% auf 2,8% des BIP im Jahre 1996 nur unwesentlich steigen, die öffentlichen Schulden werden - laut CUP - von knapp über 60% im Jahre 1995 auf ca. 55% im Jahre 1996 sinken. Der Schuldendienst steigt allerdings entsprechend den Umschuldungsregelungen von 1994. Die Staatsschulden werden also geringer, aber teurer. Der Schuldendienst ist inzwischen nach den Sozialausgaben die zweitgrößte unflexible Position im Staatshaushalt.

Das Inflationsziel von 17% wird wie in den Vorjahren auch 1996 nicht erreicht werden, derzeit geht man von einer Preissteigerungsrate zwischen 19 und 22% (Dez.-Dez.-Vergleich) aus.

Neben der immer noch hohen Inflationsrate, der Situation der öffentlichen Finanzen, der Notwendigkeiten verstärkter mikroökonomischer Anpassung ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt die größte Herausforderung der polnischen Wirtschaft und Politik. Häufig wird - vor allem im Ausland - der Rückgang der Arbeitslosenzahl als einer der Indikatoren für den polnischen Wirtschaftsaufschwung zitiert. Nach Daten des Zentralen Planungsamtes fiel die Arbeitslosenrate 1995 von 16% auf 14,9% (nach anderen Quellen von 16,5 auf 15,2%). Für Ende 1996 ist eine Arbeitslosenrate von 14,4% vorgesehen. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich aber, daß dieser Reduktion um 1,1% bzw. 1,3% im Jahre 1995 eine Entwicklung der Beschäftigung von lediglich 0,2% gegenüberstand. Zugleich wuchs die Zahl der arbeitsfähigen Bevölkerung um 140 000 Personen. Daraus läßt sich schließen, daß ein größerer Teil der Reduktion der Arbeitslosenrate entmutigten Jobsuchern, die sich in den Arbeitsämtern nicht mehr registrieren ließen, geschuldet ist oder daß diese Personen zum Teil in die Schattenwirtschaft abgewandert sind.

In den letzten vier Jahren hat sich das Wirtschaftswachstum vom Arbeitsmarkt abgekoppelt. Zwischen 1992 und 1995 wuchs das BIP um 19,4%, die Produktivität um ca. 23%, die Beschäftigung allerdings fiel um 3,8%. Die abnehmende Arbeitsintensität der Produktion führte also dazu, daß das polnische Wachstum ein sog. "jobless growth" ist. Nach Berechnungen der Warsaw School of Economics entsprach jedes Prozent BIP-Wachstums zwischen 1992 und 1995 einer 0,2%igen Abnahme der Beschäftigung. Zwei Faktoren spielen dabei eine Rolle. Zum einen werden seit 1992 die internen Reserven der Wirtschaft besser genutzt, damit die verdeckte Arbeitslosigkeit reduziert. Zum anderen spielen die hohen Nebenkosten der Beschäftigung in Form der 45,2%igen Abgabe für die Sozialfonds und der 3%igen Abgabe für den Beschäftigungsfonds, die vom Arbeitgeber übernommen werden, eine Rolle. Letzteres führt sicherlich dazu, daß Arbeitsplätze entstehen können, diese aber, um den 48,2%igen Aufschlag auf Löhne und Gehälter für den Arbeitgeber zu vermeiden, nicht gemeldet werden.

Ohnehin führten Transformation, schnelles Wachstum und Umstellung der Datenbasis zu einigen Problemen der Erfassung für die polnischen statistischen Ämter. Die Zahl kleiner und Kleinstunternehmen erhöhte sich rapide, Statistiken erfassen allerdings nur staatseigene Unternehmen und solche des privaten Sektors, die mehr als fünf Personen beschäftigen. So gibt das Statistische Amt an, daß das BIP eventuell 15%-20% höher sein könnte als in den offiziellen Zahlen ausgewiesen. Die Schattenwirtschaft könnte 30%-40% des Privatsektors ausmachen. Wegen der besonders starken Expansion des Privatsektors könnte dementsprechend auch die jährliche Wachstumsrate höher als offiziell ausgewiesen sein. Gleiches könnte für die Beschäftigung gelten.

Ausgewählte Wirtschaftsindikatoren in den Visegrad-Ländern 1995
(Differenz zu 1989 in %)


Polen

Ungarn

Tschechien

Slowakei

Slowenien

BIP

Industrieproduktion

Löhn und Gehälter (real)

Investitionen

Exporte

Importe

-3,2

-8,8

-18,0

11,2

57,2

112,4

-16,9

-17,0

-21,0

-14,3

12,0

108,5

-15,9

-31,0

-3,7

-9,5

40,8

66,3

-18,0

-36,3

-21,8

-19,2

28,1

40,3

-12,6

-28,9

-18,7

-9,7

36,4

57,5

Quelle: Poland, International Economic Report 95-96, Warsaw School of Economics, Mai 1996

Der wirtschaftliche Erholungsprozeß nach der Anpassungsrezession in Folge der Wende war in Polen schneller als in allen anderen Ländern der Region. Die Schocktherapie mit abrupter Liberalisierung, Restrukturierung und einer restriktiven Geld- und Haushaltspolitik zahlte sich offensichtlich - trotz hoher sozialer Kosten - aus. Nach offiziellen Statistiken war das Niveau des privaten Pro-Kopf-Konsums schon 1995 etwa 6% höher als 1989. Andere Quellen sehen dieses Ziel erst Ende 1996 erreicht. Die Zahl privater Kraftwagen ist von 1990 bis 1995 um 45%, die der Farbfernseher um 49% gestiegen. Zugleich fiel die Kindersterblichkeit von 1990 bis 1995 von 19,2 pro 1000 auf 13,3 pro 1000. Diesen gern zitierten Erfolgszahlen sind andere Daten gegenüberzustellen, wie beispielsweise, daß zwischen 5 und 8 Mio. Polen nur über Einkommen unter dem Existenzminimum verfügen. Von dieser zunehmenden Armutsproblematik sind am meisten junge, kinderreiche Familien bzw. alleinerziehende Elternteile betroffen. Auch die Rate der Obdachlosen, denen nach bisheriger Gesetzeslage der Bezug von Sozialhilfe nicht möglich ist, steigt stark an.

Dennoch kann insgesamt von einem raschen Aufholungsprozeß Polens gesprochen werden. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt, nach Währungsparität gerechnet, etwa 3100 US Dollar. Nach seiner Kaufkraft (PPP) kalkuliert, liegt das polnische Pro-Kopf-Produkt immer noch 70% unter dem europäischen Durchschnitt. Unter Annahme eines 5%igen Wachstums in Polen und eines 2%igen im EU-Durchschnitt werden 17 Jahre, eine halbe Generation, vergehen, bis Polen die Hälfte des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens der EU erreichen wird.



Risiken für die Entwicklung der polnischen Wirtschaft in den Jahren 1996 und folgenden liegen in folgenden Faktoren:

- Verringerung des Exportzuwachses wegen der Abschwächung der Konjunktur im Westen, vor allem der Bundesrepublik als Haupthandelspartner Polens und der zunehmenden Aufwertung des Zlotys, aber auch wegen der geringen Modernisierung polnischer Exportprodukte;

- die trotz ihrer beträchtlichen Steigerungsraten, im Vergleich zu südostasiatischen Erfolgsländern und Westeuropa in der Wiederaufbauphase der Nachkriegszeit, immer noch niedrige Spar- und Investitionsquote;

- damit verbunden die geringen Auslandsinvestitionen, die in Polen mit bald 40 Mio. Einwohnern noch unter denen von Ungarn mit etwa 10 Mio. Einwohnern liegen;

- die hohe Inflationsrate, die u.a. dem übermäßigen Protektionismus der Landwirtschaft und hohen direkten und indirekten Subventionen ineffizienter Staatsbetriebe zugeschrieben wird;

- der erhebliche Staatsinterventionismus, der sich in der Einrichtung einer wachsenden Zahl vom Haushalt finanzierter öffentlicher Agenturen und dem Trend zur Entwicklung staatseigener oder vom Staat kontrollierter Holdings und Kartelle im Industrie- und Finanzsektor ausdrückt;

- eine Fiskalpolitik, die zu kurzfristige, meist redistributive Ziele auf Kosten langfristiger Entwicklungsziele verfolgt;

- das zunehmende Gewicht von Transferleistungen in den Staatsausgaben, die 1995 ca. 36% des Haushalts betrugen und kaum Platz für Aufgaben im Bereich Erziehung, Forschung, Entwicklung und Infrastruktur lassen;

- die bisherige Unfähigkeit, strukturschwache Sektoren, wie z.B. Kohle, Stahl und Energie, ausreichend zu reformieren;

- das Stop- und Go-Verfahren und Verzögerungen bei den wichtigsten großen strukturellen Reformvorhaben: Privatisierung, Umstrukturierung der Landwirtschaft, Dezentralisierung und Reform des in wenigen Jahren nicht mehr finanzierbaren Sozialversicherungssystems.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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