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Bildungs- und Ausbildungssystem

In der Debatte über den Wirtschaftsstandort Deutschland wird immer wieder darauf hingewiesen, daß das Ausbildungssystem, insbesondere die Hochschulausbildung, dem Bedarf der Wirtschaft nicht gerecht wird. Zum einen gelten die Ausbildungszeiten als zu lang. Das Durchschnittsalter eines Universitätsabsolventen liegt in Deutschland bei 28, in Japan bei 22 Jahren. Zum andern verläuft die Ausbildung weitgehend am Bedarf der Unternehmen vorbei. Insbesondere werden zu wenig Techniker und Naturwissenschaftler ausgebildet, so daß das technologische Innovationspotential des Standorts Deutschland gefährdet ist.

Nun liegt die Verweildauer japanischer Arbeitnehmer im öffentlichen Bildungssystem trotz der kurzen Studienzeiten im Durchschnitt keineswegs unter der ihrer deutschen Kollegen. Wie die Tabelle zeigt, hatten 1994 84% der in der japanischen Privatwirtschaft beschäftigten Arbeitnehmer einen Abschluß, der mindestens 12 Schuljahre voraussetzt (Upper Secondary, Junior College oder College und Universität). 26% der männlichen Arbeitnehmer hatten 1993 einen College- oder Universitätsabschluß, der 16 Bildungsjahre voraussetzt. Bei den Berufsanfängern lag der Anteil der im College oder an der Universität Ausgebildeten 1992 bei 46%. Doch trotz der langen durchschnittlichen Verweildauer im öffentlichen Bildungssystem ist dessen Beitrag zur Entwicklung fachlicher, arbeitsbezogener Qualifikationen unbedeutend. Die Unternehmen rekrutieren ihr Personal nicht gemäß beruflich-fachlicher Qualifikationen, sondern bewerten die Bildungsabschlüsse lediglich als Signale, die Lernfähigkeit, Disziplin, Arbeitsorientierung und Integrationsbereitschaft der Bewerber anzeigen. Das öffentliche Bildungssystem produziert keine beruflichen Qualifikationen, sondern ein (hohes) Qualifikationspotential. Die Qualifikation selbst wird, wie oben bemerkt, von den Unternehmen übernommen. Dies bedeutet, daß die Unternehmen auch die Ausbildungskosten zu übernehmen haben, zuzüglich der erwähnten Managementkosten, die mit der Erzeugung eines unternehmensinternen Abstufungs-, Anreiz- und Sanktionssystems verbunden sind.







Ist die unternehmensinterne und unternehmensspezifische Ausbildung unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit vorteilhaft oder nicht? Ein Vorteil liegt in der höheren Flexibilität des Arbeitseinsatzes. Japanische Arbeitnehmer werden innerbetrieblich vornehmlich durch training on the job und Job-Rotation ausgebildet. Es gibt keine präzisen Arbeitsplatzbeschreibungen und keine klaren Grenzen der Verantwortung der einzelnen Arbeitnehmer. Vielmehr wird jeder (auf unterschiedlichen Qualifikationsstufen) zum Generalisten innerhalb des Unternehmens. Die langfristige Beschäftigungsperspektive motiviert die Arbeitnehmer, systematisch organisationsspezifisches Wissen zu erwerben; dieser Prozeß wird durch die innerbetriebliche Organisation (Gruppenarbeit, Diskussionen im Arbeitsteam, kollektive und individuelle Analyse von Problemen und Problemlösungen) gefördert. Aufgrund der Verbreitung und der Qualität organisationsspezifischen Wissens können Arbeitnehmer bei geplanten wie ungeplanten Veränderungen in der Produktion, sei es des Produkts, der Arbeitsorganisation oder der Technologie, aber auch bei Veränderungen der Nachfrage oder der Zusammensetzung der Arbeitskraft, schnell den neuen Anforderungen entsprechend umgesetzt werden. Darüber hinaus erleichtert die Organisationsspezifität der Ausbildung das Lernen des Betriebs als Organisation. Da es keine präzisen Arbeitsplatzbeschreibungen und starren Tätigkeitsprofile gibt, und da im Prinzip alle Arbeitnehmer zur Ausbildung und Umsetzung organisationsspezifischen Wissens motiviert sind, sind auch die Barrieren gegenüber Innovationen leicht zu überwinden. Außer dem Beschäftigungsverhältnis selbst gibt es keine Besitzstände, die verteidigt werden müßten. Die Arbeitnehmer haben ausreichend Motivation, um Netzwerke des informellen Austauschs von Wissen auszubauen und voneinander zu lernen, wobei die Betriebsorganisation die Verknüpfung individueller mit kollektiven Lernprozessen erleichtert. So ist gewährleistet, daß individuelle Lernprozesse in eine Erneuerung der organisatorischen Routinen münden und die jeweils effizientesten Problemlösungen, die best practices, schnell im gesamten Unternehmen diffundieren und zu neuen Standards werden. Freilich ist auch auf Nachteile des unternehmensspezifischen Ausbildungssystems, der hohen Flexibilität des Arbeitseinsatzes und Kommunikationsintensität hinzuweisen: Die erwähnten, von den Unternehmen zu tragenden Kosten der Ausbildung und des managementintensiven Personalwesens sowie die wahrscheinlich suboptimale Nutzung der Vorteile der Spezialisierung und Standardisierung von Tätigkeiten. Es ist zu vermuten, daß die Vorteile der Spezialisierung und Standardisierung vor allem in ausgereiften Industrien mit unterdurchschnittlichen Wachstums- und Innovationsraten, aber auch in der chemischen Industrie, in denen die Optimierung des Produktionsprozesses spezialisierte Wissenschaftler erfordert, zur Geltung kommen. Weder in den traditionellen Branchen, noch in der chemischen Industrie haben japanische Unternehmen international eine herausragende Position gewonnen; ihr Vorteil der Flexibilität und Kommunikationsintensität hat sich vor allem in den Montageindustrien, in der Fertigung von Fahrzeugen, Maschinen und Geräten, positiv ausgewirkt. Nun gibt es Hinweise, daß auch diese Industrien in ein Stadium der Reife übergehen. Der Vorteil der höheren Flexibilität und der betriebszentrierten, organisationsspezifischen Ausbildung, auf der sie basiert, würde relativiert werden - ebenso wie der parallele Vorteil der engen Verknüpfung zwischen angewandter Forschung, Produktentwicklung und flexibler Produktionsorganisation. Statt dessen würde der Nachteil, der im Fehlen standardisierter, spezialisierter und staatlich zertifizierter Tätigkeiten auf der einen und hochspezialisierter, kreativer wissenschaftlicher Qualifikationen (vor allem im Bereich der Grundlagenforschung) liegt, auf der anderen Seite um so deutlicher hervortreten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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