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TEILDOKUMENT:
Tarif- und Beschäftigungssystem Den deutschen Unternehmerverbänden zufolge ist das System der industrieweiten Flächentarifverträge ein Standortnachteil, da es eine flexible, den Bedingungen jedes einzelnen Unternehmens entsprechende Aushandlung der Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen unmöglich macht. Im japanischen System der Betriebsgewerkschaften und betriebszentrierten Tarifverhandlungen entfällt dieser Nachteil. Obwohl die Tarifverhandlungen zeitlich synchronisiert und von Industrie- und Dachverbänden koordiniert werden, sind Löhne, Arbeitszeiten und Sozialleistungen auf die Leistungsfähigkeit der Unternehmen zugeschnitten. Es kommt hinzu, daß ein hoher Anteil der Löhne in der Form von Bonuszahlungen ausgezahlt wird, deren Höhe vom Betriebsergebnis abhängt. Die Festlegung der Löhne, Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen auf der Grundlage der betrieblichen Leistungsfähigkeit hat allerdings zur Konsequenz, daß besonders leistungsfähige Unternehmen durch überdurchschnittliche Lohnkosten bestraft, unterdurchschnittlich leistungsfähige Unternehmen aber nicht aus dem Markt gedrängt, sondern durch niedrige Lohnkosten subventioniert werden. Das starke Lohngefälle zwischen den Unternehmen zieht ein ebenso starkes Produktivitätsgefälle nach sich. Das Schaubild vergleicht die Arbeitsproduktivität in der verarbeitenden Industrie nach Unternehmensgröße in Deutschland und Japan (dabei ist vorausgesetzt, daß es eine Beziehung zwischen Unternehmensgröße und Leistungsfähigkeit gibt). In Deutschland liegt die Arbeitsproduktivität in der Gruppe der kleinsten Unternehmen (20 bis 49 Beschäftigte) um nur 29% unter der der Großunternehmen (über 1.000 Beschäftigte). In Japan beträgt diese Differenz 63%. Auf die gesamte verarbeitende Industrie bezogen liegt die Arbeitsproduktivität in Deutschland um etwa 20% über der Japans, in den Großunternehmen liegt die Arbeitsproduktivität in Japan um 18% über der Deutschlands. Die "Produktivitätspeitsche", der von hohen Lohnkosten ausgehende Zwang zur kontinuierlichen Produktivitätssteigerung, wirkt in Japan also nur in den großen Unternehmen. Da viele kleinere Unternehmen trotz unterdurchschnittlicher Leistungsfähigkeit im Markt bleiben, kristallisierte sich in Japan eine dualistische Struktur nicht nur zwischen den großen Wirtschaftssektoren (Industrie, Landwirtschaft, Bauwirtschaft, Dienstleistungen usw.), sondern auch innerhalb der verarbeitenden Industrie heraus. Im Ergebnis weist die verarbeitende Industrie in Deutschland hinsichtlich der Arbeitsproduktivität eine höhere innere Kohärenz auf, während (nur) die Großunternehmen in Japan im internationalen Vergleich Spitzenleistungen vorweisen können.
Die betriebszentrierten Tarifverhandlungen sind Teil eines umfassenderen Beschäftigungssystems, das zumindest in Großunternehmen die Entlassung von Festangestellten ausschließt. Der hohen Flexibilität der Tariffestlegung korrespondiert die Starrheit der Beschäftigung. Die Entlassung von Festangestellten würde den Widerstand der sonst kooperativen Betriebsgewerkschaften bzw. Interventionen des Arbeitsministeriums auslösen und einen Reputationsverlust des Unternehmens nach sich ziehen. Vor allem aber sind Entlassungen aufgrund der rudimentären Entwicklung des Arbeitsmarkts problematisch. Da die berufliche Ausbildung der Arbeitnehmer in den Unternehmen erfolgt und in hohem Maße organisationsspezifisch ist, gibt es in Japan keinen unternehmensübergreifenden Arbeitsmarkt für qualifizierte Tätigkeiten. Bei Entlassungen würde sich ein Unternehmen seines Humankapitals und damit eines assets begeben, in das es erhebliche Summen investiert hat - und für das es auf dem Arbeitsmarkt keinen Ersatz findet. Wenn nach rezessionsbedingten Entlassungen der Bedarf an Arbeitskräften wieder wächst, kann ein Unternehmen im Grunde nur die Arbeitnehmer wieder einstellen, die es gerade entlassen hat, oder es muß mit der Neueinstellung von Berufsanfängern all die Ausbildungsinvestitionen aufs Neue tätigen, um die es sich gerade gebracht hat. Auf der anderen Seite ist das Aufrechterhalten der Beschäftigung auch in Krisensituationen mit hohen Kosten verbunden. Japanische Unternehmen verfügen nicht über die ultima ratio westlicher Firmen, die ihren Beschäftigungsstand den konjunkturellen Gegebenheiten anpassen können. Sie sichern sich gegen die potentiellen Kosten eines von der Konjunktur unabhängigen Beschäftigungsstandes durch die flexible Gestaltung der Löhne und Arbeitszeiten (Bonuszahlungen und Überstunden), durch die Einstellung von Peripheriebeschäftigten, die im Notfall entlassen werden können, und vor allem durch die Auslagerung arbeitsintensiver Tätigkeiten an Zulieferunternehmen. Gleichwohl unterliegen sie hinsichtlich ihrer Anpassungsfähigkeit einem Kostennachteil, dem westliche Firmen nicht ausgesetzt sind. In den Stellungnahmen der japanischen Unternehmerverbände wird das Prinzip der lebenslangen, d.h. der langfristig stabilen Beschäftigung, selten in Frage gestellt. Statt dessen ist ein anderes Element des japanischen Beschäftigungssystems Gegenstand der Kritik: Die Lohnzahlung nach dem Senioritätsprinzip. Dem Senioritätsprinzip liegt das Konzept zugrunde, Motivation und Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer dadurch aufrechtzuerhalten, daß ein Teil der Lohnzahlung in die Zukunft verlegt wird; insofern ist es ein Element der stabilen Beschäftigung und langfristigen Firmenbindung der Arbeitnehmer. Sein Funktionieren setzt allerdings günstige demographische Bedingungen voraus. Vergleichbar mit dem Rentenversicherungssystem finanziert der Lohnverzicht der jüngeren die höheren Löhne der älteren Arbeitnehmer. Es müssen also immer ausreichend jüngere und zu vorübergehendem Lohnverzicht bereite Arbeitnehmer zur Verfügung stehen, wenn nicht die Belegschaften insgesamt altern und die Lohnkosten entsprechend steigen sollen. Diese Bedingung ist angesichts der rapide alternden Bevölkerung nicht mehr gegeben. Nicht nur der Rentenversicherung liegt ein Generationenvertrag zugrunde, auch das Senioritätsprinzip der Lohnzahlung basiert auf einem "innerbetrieblichen Generationenvertrag", der unter dem ungünstigen Verhältnis einer wachsenden Zahl von "Leistungsbeziehern" bei einer sinkenden Zahl von "Beitragszahlern" leidet. Die Unternehmer und ihre Verbände fordern daher den Abbau des immer schwerer finanzierbaren Senioritätsprinzips. De facto ist es seit langem einer Dauerbelastung ausgesetzt, insofern die Unternehmen immer schon versuchten, ältere Arbeitnehmer vor dem offiziellen Rentenalter aus dem Stamm der fest Beschäftigten zu drängen (wobei die Zustimmung der Arbeitnehmer oft durch Abfindungen oder eine Weiterbeschäftigung in einem nachgeordneten Unternehmen erkauft wurde). Heute jedoch wird das Senioritätsprinzip in den alljährlichen Tarifverhandlungen offen zur Disposition gestellt und immer öfter durch die Bezahlung nach dem "Beitrag zur betrieblichen Leistung" ersetzt. In einer auf Kooperation angelegten Arbeitsorganisation ist es freilich schwierig, den individuellen Beitrag des Arbeitnehmers zur betrieblichen Leistung exakt zu ermitteln, ohne Konflikte in der Belegschaft hervorzurufen. In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Problem des japanischen Beschäftigungssystems zu erwähnen, das sich ebenfalls als Belastung der Unternehmen auswirkt: Da es kein staatlich reguliertes berufliches Ausbildungssystem und keinen entwickelten Arbeitsmarkt mit standardisierten und zertifizierten Qualifikationsstufen und entsprechenden Anforderungsprofilen gibt, müssen die Unternehmen die Leistungen dieser Systeme selbst erbringen. Das Fehlen eines externen Arbeitsmarkts führt zu einer unzureichenden unternehmensunabhängigen Standardisierung der Arbeitskraft, zur Einschränkung ihrer Handelbarkeit, was zur Substitution der marktmäßigen Preismechanismen durch unternehmensinterne, managementintensive Bewertungs-, Anreiz- und Sanktionssysteme zwingt. Je weniger die Arbeitskraft standardisiert und handelbar ist und je ausgeprägter die unternehmensspezifischen Anforderungen an die Arbeitskräfte sind, desto höher steigen der Management-Input pro Beschäftigtem und die Kosten des Personalmanagements. Die Auslagerung und Delegation von Tätigkeiten an Zulieferfirmen folgt daher auch dem Motiv, den internen Arbeitsmarkt so klein wie möglich und die Kosten des Personalmanagements in Grenzen zu halten. Die Unternehmerverbände stellen zwar das Prinzip der langfristig stabilen Beschäftigung nicht offen zur Disposition, sie drängen aber darauf, den Anteil der typischen lebenslangen Beschäftigungsverhältnisse zugunsten anderer Beschäftigungsformen abzubauen. Nikkeiren zufolge soll eine verbleibende Kerngruppe unternehmensspezifisch ausgebildeter und langfristig beschäftigter Arbeitnehmer ergänzt werden durch eine zweite Gruppe von "Spezialisten" mit spezifischen Fähigkeiten, die aber nicht langfristig beschäftigt sind, sowie drittens durch eine flexible Peripheriebelegschaft kurzfristig Beschäftigter. Das neue Element in diesem Zusammenhang sind die Spezialisten. Die Unternehmer sehen offensichtlich die Gefahr, daß unternehmenszentrierte Ausbildungssysteme und Arbeitsmärkte Vorteile der Spezialisierung nur unzureichend ausschöpfen. Die Einführung einer neuen Beschäftigungskategorie von Spezialisten setzt freilich voraus, daß ein unternehmensübergreifender Arbeitsmarkt für qualifizierte Tätigkeiten entsteht, was wiederum die Einführung standardisierter Ausbildungsgänge und Zertifizierungssysteme zur Bedingung hat.
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