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4. Dekollektivierung und betriebliche Restrukturierung

Eine Änderung der Betriebsstrukturen, der zweite wesentliche Schritt der Agrarreformen, ist zwingend, weil in den ehemals sozialistischen Ländern landwirtschaftliche Großbetriebe mit oftmals mehreren tausend ha Fläche entstanden sind, die mit der Nutzung von economies of scale nicht mehr begründbar waren. Im Gegenteil: Hohe Verwaltungs- und Organisationskosten sowie geringe Flexibilität (vor allem nötig bei Arbeitsspitzen u.a. beim Ernteeinsatz) waren für die geringe Effizienz der Kollektiv- und Staatsbetriebe verantwortlich. Eine gewisse Entlastung bot die private Nebenproduktion auf Kleinstparzellen (Hoflandwirtschaft) der Genossenschafts- und Staatsgutarbeiter, die von Land zu Land unterschiedlich vor allem bei Gemüse und Fleisch einen wichtigen Beitrag zur Nahrungsmittelversorgung leistete.

Zahlreiche Hindernisse stehen jedoch einer raschen betrieblichen Dekollektivierung und Restrukturierung im Wege. Vor allem dort, wo die Kollektivierung weit zurückliegt, also insbesondere in der ehemaligen Sowjetunion, ist die Neigung seitens der Genossenschaftsbauern gering, selbständige Bauernwirtschaften zu gründen. Dies ist nur zum Teil auf die fehlende bäuerliche Tradition zurückzuführen, sondern hat handfeste soziale, politische und ökonomische Gründe. Genossenschafts- bzw. Staatsbetriebe haben oftmals im ländlichen Raum zusätzliche soziale Funktionen übernommen (Kindergärten, kommunale Verwaltung, Schulen), die mit Auflösung der Unternehmen wegen fehlender Finanzmittel erst langsam von kommunalen Institutionen übernommen werden können. Genossenschaftsbauern befürchten den Wegfall solcher sozialen Leistungen sowie der relativ sorgenfreien Existenz mit geregelter Arbeitszeit. Zudem besitzen vielfach die ehemaligen Kolchosvorsitzenden noch eine dominierende Position im ländlichen Raum, um mit politischen Druck und/oder ökonomischen Sanktionen, u.a. bei der Belieferung mit knappen Betriebsmitteln oder bei der Landvergabe, die Gründung neuer Bauernwirtschaften zu verhindern.

Ökonomisch steht die Dekollektivierung insofern vor großen Problemen, als der bestehende Kapitalstock und die damit verbundene Agrartechnologie (Maschinen, Ackergeräte, Gebäude, Stallanlagen) auf großbetriebliche Strukturen ausgerichtet sind. Eine physische Aufteilung des Maschinenparks und der Gebäudeeinrichtungen ist technisch schwierig oder ökonomisch nicht sinnvoll. Diese Schwierigkeiten erklären, daß vielfach landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften meist nur formell aufgelöst und teilweise, wenn auch verkleinert, in andere Organisations- und Rechtsformen (u.a.neue Kooparativen, AGs oder GmbHs) umgewandelt wurden. Zwar wird dadurch eine Neudefinition der Eigentumsrechte vorgenommen, doch deuten die alten ökonomischen und sozialen Strukturen in vielen Ländern, insbesondere in der ehemaligen Sowjetunion, eher auf "Scheinprivatisierungen" hin.

Zweifelhaft ist deshalb, ob diese modifizierten Genossenschaften langfristig überleben können. Dies gilt insbesondere dann, wenn der alte Kapitalstock abgeschrieben ist und Neuinvestitionen notwendig sind. In diesem Moment vermindern sich die Vorzüge überdimensionierter Organisationseinheiten mit kollektivwirtschaftlichem Charakter (Nutzung des bestehenden Kapitalstocks). Zudem werden die Banken unter der Bedingung einer harten Budgetschranke Sicherheiten verlangen und auf eine Klärung der Eigentumsrechte und auf effizientere Organisationsformen drängen, wenn Neuinvestitionen getätigt werden sollen. Abhängig vom Produktionszweig können dabei differenzierte Betriebseinheiten (große Produktionseinheiten im extensiven Getreideanbau, kleinere Betriebe bei arbeitsintensiven Früchten und in der Tierproduktion) entstehen. Die Einführung neuer angepaßter Agrartechniken und entsprechender Gebäudeeinrichtungen wird allerdings durch Kapitalmangel und ein völlig unzureichendes Kreditsystem bzw. einen unterentwickelten Kapitalmarkt erschwert. Darüber hinaus ist der Übergang zu angepaßten Betriebsgrößen durch unzureichende Bodenmärkte blockiert, so daß der Übergang zu einem effizienten Agrarsystem nur mittel- und langfristig zu erwarten ist.

Die Bedeutung der Agrartechnologie und des vom allgemeinen Entwicklungsstand abhängigen Kapitaleinsatzes wird insofern deutlich, als in weniger entwickelten Ländern mit einfacher Agrartechnologie die Dekollektivierung wesentlich rascher als in höher entwickelten Volkswirtschaften vollzogen wird. China, Vietnam (beide Länder sogar noch unter kommunistischen Vorzeichen) Albanien, Rumänien und Armenien haben beispielsweise in einem atemberaubenden Tempo ihre Kollektivbetriebe aufgelöst und sind zu privater Landbewirtschaftung übergegangen. Einige hundert private Landwirtschaftsbetriebe sind dort an die Stelle des Kollektivbetriebs getreten. Während in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion modifizierte Kollektiv- bzw. Staatsbetriebe vielfach fortbestehen, zeichnen sich jedoch in den fortgeschrittenen Reformländern teilweise völlig neuartige Organisationsformen in der Landwirtschaft ab, die sowohl Merkmale einer Kooperative als auch eines neuen Familienbetriebes aufweisen. Solche Kooperationsformen unterschiedlicher Integrationstiefe versuchen die Nachteile der nur wenig modifizierten Genossenschaften einerseits (fehlende betriebliche Umstrukturierung, Management und Organisationsprobleme) und die negativen Folgen einer zu starken Fragmentierung durch die Auflösung von größeren Betriebseinheiten andererseits zu überwinden.

Manchmal gründen selbständige Familienbetriebe Erzeugergemeinschaften, in denen die Betriebe unabhängig bleiben, jedoch in einzelnen Bereichen miteinander kooperieren. In anderen Fällen bringen selbständige Bauern ihr Land wieder in eine gemeinsame Anbaufläche und Bewirtschaftung ein und gründen eine Personengesellschaft. Manche Kooperationsformen gehen dagegen auf im Westen bewährte Lösungen vor allem in der Pflanzenproduktion (Maschinenringe und Maschinengemeinschaften) sowie im vor- und nachgelagerten Bereich (Dienstleistungs- und Absatzgenossenschaften) zurück. In anderen Fällen geht man von den kollektiven Betriebsstrukturen aus, die entweder über Leasing-Verträge oder durch Übertragung des Betriebsvermögens in kleinere Einheiten als "autonome Profitcenter" überführt werden. Ob sich die einzelnen Organisationsformen langfristig bewähren, werden Wettbewerb und Strukturwandel zeigen. Darüber hinaus entstehen nach westlichem Vorbild Bezugs- und Absatzgenossenschaften oder Interessenverbände, um die Nachteile der ungünstigen Marktposition der Landwirtschaft abzumildern.

In einigen MOE-Ländern, vor allem aber in der ehemaligen Sowjetunion ist eine völlige Auflösung der Genossenschaften eher selten. Vielfach gründen dort ehemalige Genossenschaftsmitglieder private Landwirtschaftsbetriebe, indem sie ihren Boden- und Kapitalanteil aus der Genossenschaft bzw. Nachfolgeorganisation herauslösen. Zudem werden Privatbetriebe im städtischen Einzugsbereich von Personen aufgebaut, die zuvor nicht landwirtschaftlich tätig waren. Obwohl in Rußland bis Ende 1995 kein einziger Kollektivbetrieb vollständig aufgelöst und in Familienbetriebe umgewandelt wurde, sind durch Herauslösung aus Genossenschaften und durch Neugründungen bis Ende 1994 etwa 280.000 private Landwirtschaftsbetriebe entstanden. Die Durchschnittsgröße dieser Betriebe liegt bei ca. 40 ha, wobei allerdings ein hoher Anteil an Brachflächen darin enthalten ist. Wie instabil die Situation der Privatbetriebe in Rußland ist, wird daran deutlich, daß deren Zahl trotz größeren Flächenangebots 1995 auf 235.000 sank.

In den anderen MOE-Ländern variiert die Durchschnittsfläche der privaten Familienbetriebe dagegen zwischen 1 ha in Albanien und 10 ha in Ungarn. Abgesehen von Albanien, Armenien, Rumänien und den Ländern mit traditionell bäuerlicher Landwirtschaft (Polen, Ex-Jugoslawien) ist der Flächen- und Produktionsanteil der privaten Landwirtschaft eher gering und ihre Entwicklung durch geringe Investitionsmittel und hohe Kosten (u.a. Zinsen) behindert. Tabelle 3 und 4 (Anhang) zeigen dabei, daß trotz der Neugestaltung der Eigentumsrechte (bis auf die genannten Ausnahmen) landwirtschaftliche Großbetriebe vorherrschen. Dagegen sind die in der EU üblichen mittleren Betriebsformen unterrepräsentiert. Dennoch ist zu beobachten, daß sich die vorherrschende dualistische Agrarstruktur (Großbetriebe einerseits, private Kleinstbetriebe andererseits) insofern abschwächt, als die Betriebsfläche der landwirtschaftlichen Großunternehmen rückläufig, die der Privatlandwirtschaft jedoch steigend ist.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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