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2. Der Agrarsektor im Übergang zur Marktwirtschaft

Der Agrarsektor der MOE-Länder durchläuft eine tiefgreifende, maßgeblich vom Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft bestimmte Wandlung. Die Landwirtschaft mußte zu Beginn der Transformation, Anfang der 90er Jahre, zunächst völlig veränderte makroökonomische Rahmenbedingungen verkraften. Preisliberalisierung, Subventionsabbau, stabilitätspolitische Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation und der Einkommensrückgang in den nicht-landwirtschaftlichen Bereichen führten in allen ehemals sozialistischen Ländern zu einem Nachfragerückgang bei Nahrungsmitteln und in dessen Folge zu einem realen Verfall der landwirtschaftlichen Erzeugerpreise (die Agrarpreise stiegen weit weniger als das allgemeine Preisniveau). Zudem erhöhten sich die landwirtschaftlichen Inputpreise drastisch, so daß sich die Preis-Kosten-Relationen und damit die Rentabilität der Agrarproduktion nachhaltig verschlechterten (Schaubild 2, Anhang). Diese Situation wurde zunächst noch durch staatliche und vorwiegend zentralisierte Vermarktungs- und Bezugssysteme verstärkt, die sowohl Monopolrenten abschöpften als auch Preissignale nicht weitergaben.

Als Folge dieser kombinierten Entwicklung gingen die Agrarproduktion und landwirtschaftliche Einkommen in der ersten Hälfte der 90er Jahre deutlich zurück (Schaubild 1, Anhang). In den meisten MOE-Ländern sank insbesondere die Tierproduktion, da die Nachfrage nach Fleisch aufgrund der Subventionskürzungen am stärksten einbrach. Hinzu kamen Anpassungsprozesse auf der Angebotsseite, da die ineffizienten landwirtschaftlichen Großbetriebe vor allem in der Tierproduktion Strukturreformen einleiten mußten. Insgesamt hat sich dadurch in den letzten Jahren das Gewicht der Pflanzenproduktion an der gesamten landwirtschaftlichen Erzeugung deutlich erhöht. Die Agrarproduktion und die landwirtschaftlichen Einkommen stabilisierten sich nur langsam im Zuge des einsetzenden Wirtschaftswachstums. Begünstigt durch vorteilhafte Witterungsbedingungen zeichnete sich 1995 erstmals wieder ein deutlicheres Wachstum der Agrarproduktion in den MOE-Ländern ab. Günstigere Preisrelationen und makroökonomische Rahmenbedingungen dürften für die kommenden Jahre in den meisten MOE-Ländern die Grundlage für ein moderates Wachstum der Agrarproduktion bieten.

Eine Ausnahme hinsichtlich der makroökonomischen und agrarökonomischen Effekte beim Übergang zur Marktwirtschaft bilden bei einer grundsätzlichen Betrachtung der Transformationsprozesse die ostasiatischen Landwirtschaften in China und Vietnam. Im Zuge der Transformation, die sich noch unter kommunistischen Vorzeichen vollzieht, waren beachtliche Produktions- und Einkommenssteigerungen im ländlichen Raum zu beobachten. Die zuvor weitgehend auf Subsistenzniveau produzierende und kaum subventionierte Landwirtschaft konnte aufgrund des Übergangs zu privaten Bewirtschaftungsformen und entsprechender Preisanreize ein erhebliches Produktionspotential mobilisieren. Zudem expandierte die Nachfrage nach Nahrungsmitteln in quantitativer und qualitativer Hinsicht, was durch das starke Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum begünstigt wurde. Dabei stellte sich Ostasiens ökonomische Rückständigkeit im Transformationsprozeß insofern als vorteilhaft heraus, als "nur" die Aufgabe eines durch die Industrialisierungsprozesse induzierten Strukturwandels (Übergang von Landwirtschaft zur Industrie) einzuleiten ist, durch den vergleichsweise "einfach" hohe Wachstumsraten generiert werden können. Die ökonomisch weiterentwickelten MOE-Länder haben dagegen mit erheblichen Strukturanpassungen zu kämpfen, die das Ergebnis einer verfehlten Industrialisierung darstellen und in deren Folge Produktionseinbrüche zwangsläufig sind.

Der ländliche Raum in den MOE-Ländern hat auch weiterhin unter niedrigen Einkommen, hoher Verschuldung der Agrarbetriebe und großer Arbeitslosigkeit, auch als Ergebnis von Rationalisierungseffekten der zuvor deutlich überbesetzten Großbetriebe zu leiden. Knappheitspreise, die Expansion des Privatsektors, eine stärkere Selbständigkeit der staatlichen bzw. genossenschaftlichen Produzenten (bzw. ihrer Nachfolgeorganisationen) und des vor- und nachgelagerten Bereichs führten allerdings zu einem effizienteren Einsatz der Produktionsfaktoren und zu deutlich weniger Verschwendung in Produktion und Vertrieb. Belege hierfür sind, daß die Agrarerzeugung vielfach weit weniger gesunken ist, als Flächenreduzierungen, Rückgang der Viehbestände und der reduzierte Betriebsmitteleinsatz vermuten lassen. Ähnliches gilt für den privaten Nahrungsmittelverbrauch, der geringer als die Produktion gesunken ist und sich auf ein Niveau (insbesondere bei Fleisch) einpendelte, welches Ländern mit ähnlichen Pro-Kopf-Einkommen entspricht.

Sieht man von wenigen Ausnahmen und regionalen Sonderbedingungen (Länder mit kriegerischen Auseinandersetzungen) ab, so kam es im Zuge der Transformation nicht zu Versorgungsengpässen, die eine Unterversorgung der Bevölkerung zur Folge gehabt hätten. Im Gegenteil: Nach einer kritischen Übergangsphase hat sich vor allem das qualitative Angebot von Nahrungsmitteln deutlich verbessert. Die Konsumgütermärkte haben sich in den meisten Ländern insofern "normalisiert", als in den ehemals sozialistischen Ländern typische Phänomene der Mangelwirtschaft (Schlangen und Rationierung) verschwunden sind. Das Geld hat damit seine normale Zahlungsfunktion wiedererlangt. Der Konsum ist, wie in "normalen Ökonomien" üblich, vorrangig vom Einkommen abhängig. Zu beobachten ist allerdings eine größere soziale Differenzierung, die sozialpolitisch abzufedern ist, um die Grundversorgung sozial schwächerer Schichten zu garantieren. Dies gelingt angesichts der finanziellen Engpässe der Staatshaushalte nur unzureichend.

Die veränderten makroökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen führten auch zu Anpassungen im Agraraußenhandel. Die meisten MOE-Länder wurden mit Ausnahme Ungarns, Bulgariens und Estlands in den letzten Jahren zu Netto-Agrarimporteuren. Zudem wirkte sich der Zusammenbruch des ehemaligen RGW-Handels (insbesondere der Handel mit der ehemaligen Sowjetunion) ungünstig auf den MOE-Agrarhandel aus. Während beispielsweise die sowjetischen Getreideimporte Ende der 80er Jahre etwa 15% des gesamten Weltgetreidehandels umfaßten, gingen die Getreideeinfuhren Rußlands 1992 bis 1994 von 20 auf 0,4 Mio. t drastisch zurück. Im Handel mit dem Westen, der auch im Agrarbereich zum wichtigsten Handelspartner aufstieg, wirkten für die MOE-Länder die Streichung von Exportsubventionen und westliche Handelsbeschränkungen sowie qualitative Probleme einer dynamischen Exportentwicklung entgegen. Dagegen konnte insbesondere die EU ihre Agrarexporte in die MOE-Länder deutlich steigern und weist seit 1992 Überschüsse mit dieser Ländergruppe aus. Günstigere Witterungsbedingungen und eine gewisse Stabilisierung in der ehemaligen Sowjetunion führten dazu, daß es den MOE-Ländern 1994 und 1995 gelang, ihre gesamte Agrarhandelsbilanz positiv zu gestalten.

Die drastisch gestiegenen Inputpreise bewirkten insofern positive Umwelteffekte, als der durch Betriebsmittelsubventionen hervorgerufene ökologisch bedenkliche Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmittel zurückging. Zudem führte die rückläufige Industrieproduktion dazu, daß die Umweltverschmutzung, insbesondere die Luftemission, in den MOE-Ländern nachließ. Struktureffekte (Rückgang der Schwerindustrie), ein rationaleres Preissystem, internationale Verpflichtungen sowie ein verändertes Umweltbewußtsein lassen erwarten, daß das künftige gesamtwirtschaftliche und landwirtschaftliche Wachstum umweltverträglicher als in der Vergangenheit verläuft. Insbesondere die arbeitsintensive polnische Landwirtschaft besitzt das Potential für eine ökologisch orientierte Landbewirtschaftung.

Während im Zuge der Transformation der Anteil des Agrarsektors am BIP in allen Ländern, ausgenommen Rumänien, zurückging, können zwischen den MOE-Ländern Unterschiede in der Beschäftigungsentwicklung beobachtet werden. In einigen Ländern übernahm die Landwirtschaft angesichts der gesamtwirtschaftlichen Krise eine gewisse Pufferfunktion, da die Zahl der landwirtschaftlichen Beschäftigten und die Agrarquote stiegen. In Bulgarien, Rumänien, Albanien und im Baltikum hat die Umwandlung bzw. Auflösung der Genossenschaften eine arbeitsintensivere Agrarproduktion in Privatbetrieben gefördert und Arbeitskräfte im Agrarsektor absorbiert. Auch in Polen und im ehemaligen Jugoslawien konnte die privatbäuerliche, oft im Nebenerwerb betriebene Landwirtschaft diese Pufferfunktion übernehmen, was auch in einem regionalen Vergleich der polnischen Agrarstruktur deutlich wird (Regionen mit dem größten Anteil an Staatsbetrieben weisen die höchste Arbeitslosigkeit auf). Die Zunahme der landwirtschaftlichen Beschäftigtenzahl in Rußland ist sicherlich einerseits durch fehlende betriebliche Anpassungen, anderseits auch durch einen Zustrom von Arbeitskräften in dem neu entstandenen landwirtschaftlichen Privatsektor erklärbar.

In den anderen volkswirtschaftlich höher entwickelten Transformationsländern mit kollektiver Landwirtschaft, in denen der Reformprozeß und die wirtschaftliche Erholung weiter vorangeschritten sind (Tschechien, Slowakei, Ungarn), hat der Beschäftigungsanteil der Landwirtschaft dagegen deutlich abgenommen. Dieser Prozeß ist nicht nur durch die Freisetzung überflüssiger Arbeitskräfte, sondern auch durch die Restrukturierung der Großbetriebe erklärbar. Ein Teil der zuvor in den Genossenschaften integrierten Funktionen (Dienstleistungen, Reparatur, Absatz) wurde in eigenständige außerlandwirtschaftliche Unternehmen ausgelagert. In einigen Fällen begünstigen auch eine neuartige statistische Erfassung, die außerlandwirtschaftliche Tätigkeiten genauer registriert, diese Änderungen in der Beschäftigungsstruktur. Die sich in einigen Ländern abzeichnende wirtschaftliche Erholung wird mittelfristig positive Strukturänderungen in der Landwirtschaft begünstigen. Das unterentwickelte Bezugs- und Absatzsystem sowie der Dienstleistungsbereich bieten zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten, doch wird der ländliche Raum vor erheblichen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen stehen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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