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1. Der Argarsektor der Transformationsländer

Die Bedeutung des Agrarsektors in den ehemals sozialistischen Ländern schwankt aufgrund beachtlicher Unterschiede im volkswirtschaftlichen Entwicklungsstand und in den vererbten Agrarstrukturen. Während die Tschechische Republik mit einem Beschäftigungsanteil der Landwirtschaft (Agrarquote) von 5,6% und einem BIP-Anteil von 3,3% (Angaben 1993) traditionell zu den höher entwickelten Industrieländern zählt, fällt Albanien mit einer Agrarquote von über 50% (BIP-Anteil ca. 54%) eher in die Kategorie eines Entwicklungslandes (Tabelle 1, Anhang). Dies gilt auch für viele ehemalige bzw. noch bestehende linksorientierte Regime in Lateinamerika (Kuba, Nicaragua), Afrika (Angola, Mosambique) und Ostasien (China, Vietnam), deren Agrarpolitik maßgeblich von kommunistischen Leitbildern geprägt wurde.

Die meisten Staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie Bulgarien und Rumänien sind 1993 mit einer Agrarquote zwischen 14,3% (Rußland) und 35,2% (Rumänien) bzw. einem BIP-Anteil zwischen 6,3% und 20,2% als Schwellenländer der unteren bzw. mittleren Einkommenskategorie (Weltbankdefinition) einzustufen. Einen höheren Entwicklungsstand erreichen dagegen die fortgeschrittenen Reformländer Ungarn, Polen und Slowenien (BIP-Anteil der Landwirtschaft von 4,9% bis 6,4%), wobei die traditionell arbeitsintensive polnische Landwirtschaft allerdings eine wesentlich höhere Agrarquote (25,6%) als Ungarn (10,1%) und Slowenien (10,7%) aufweist (Tabelle 1, Anhang). Der deutlich höhere Anteil der Landwirtschaft an den Beschäftigen im Vergleich zum BIP weist in den Transformationsländern auf zum Teil erhebliche Produktivitätsreserven hin, die bei einem agrarstrukturellen Wandel mobilisiert werden können.

Die Produktivitätsdefizite und der agrarstrukturelle Anpassungsbedarf werden in einem Vergleich mit der Europäischen Union (EU) deutlich. Der Agrarsektor der MOE-Länder (ausgenommen Tschechische Republik) besitzt im Vergleich zu den Durchschnittswerten der Europäischen Union (EU 15: Agrarquote 5,7%, BIP-Anteil 2,5%) einen deutlich höheren Stellenwert (Tabelle 1, Anhang). Zu berücksichtigen ist allerdings, daß auch innerhalb der EU eine starke Differenzierung besteht. Beispielsweise hat die Landwirtschaft Griechenlands mit einem BIP-Anteil der Landwirtschaft von 16% und einer Agrarquote von ca. 20% eine größere Bedeutung als in den fortgeschrittenen Reformländer. Dies verdeutlicht, daß die Unterschiede im volkswirtschaftlichen Entwicklungsniveau und der agrarstrukturelle Anpassungsbedarf kein Hindernisgrund für eine Mitgliedschaft der MOE-Länder in der EU darstellen.

Die Bedeutung der mittel- und osteuropäischen Länder (MOE-Länder) für die internationalen Agrarmärkte wird daran deutlich, daß sie insgesamt über 20% der landwirtschaftlichen Anbaufläche und über 12% bis 16% der Tierbestände verfügen sowie etwa 8% der Weltbevölkerung stellen. Zudem hat der Importbedarf Osteuropas, obwohl er sich für die Region insgesamt verminderte, Implikationen für die Weltagrarmärkte. So wiesen in der zweiten Hälfte der 80er Jahre die MOE-Länder jährlich noch Netto-Agrarimporte von ca. 15 Mrd. US $ auf, wovon allein auf die ehemalige Sowjetunion 14 Mrd. US $ entfielen. Trotz beachtlicher Anstrengungen und Ertragssteigerungen konnte die Produktionsleistung den wachsenden Bedarf nicht decken. Nur Ungarn, Bulgarien und Rumänien waren Netto-Agrarexporteure, wobei Ungarn etwa ein Drittel der gesamten RGW-Agrarexporte auf sich vereinte.

Betrachtet man die agrarstrukturellen und institutionellen Ausgangsbedingungen zu Beginn der Transformation, so fällt auf, daß trotz gleicher marxistisch-leninistischer Leitbilder die Agrarsysteme untereinander nicht übereinstimmen. Markant ist zunächst der Unterschied zwischen der überwiegend bäuerlich strukturierten Landwirtschaft Polens und Jugoslawiens einerseits und der überwiegend kollektivierten Landwirtschaft der übrigen sozialistischen Staaten andererseits. Doch auch in Ländern mit sozialisierter Landwirtschaft entwickelten sich nach erheblichen Anfangs- und Folgeinvestitionen in das kollektivistische Agrarsystem deutliche agrarstrukturelle Unterschiede. Diese reichen von den linksradikalen Experimenten in China mit der Bildung der Volkskommunen über die in Bulgarien zumindest formal am weitesten vorangetriebene vertikale Integration (Verbindung zwischen Landwirtschaft und Industrie) bis hin zum Aufbau von Spezial-LPGs (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) in der DDR, welche die Spezialisierung zwischen Tier- und Pflanzenproduktion am weitesten vorantrieben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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