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Vertiefung und Erweiterung des MERCOSUR

Die erste Phase des MERCOSUR, die Bildung einer Freihandelszone und die Einigung auf einen gemeinsamen Außenzoll, ist relativ erfolgreich verlaufen. Die nächste Etappe wird höchstwahrscheinlich größere Probleme aufwerfen, da jetzt keine großen, spektakulären Ziele mehr erreicht werden können, sondern vor allem technische Kleinarbeit, wie die Verhandlungen über die Einbeziehung aller Produkte in die Zollunion, geleistet werden muß. Die Vervollständigung der Zollunion und der Wegfall der zahlreichen länder- und produktspezifischen Ausnahmeregelungen, wird daher in den nächsten zehn Jahren das vorrangige Ziel des MERCOSUR sein. Erst dann wird die Harmonisierung bestimmter Rechtsnormen sowie die Koordination bestimmter Politikbereiche zur Schaffung eines südamerikanischen Marktes ernsthaft in Erwägung gezogen werden.

Auf dem MERCOSUR-Gipfeltreffen am 7. Dezember 1995 in Punta del Este (Uruguay) wurde das Aktionsprogramm "MERCOSUR 2000" verabschiedet, das bis zur Jahrtausendwende ein anspruchsvolles Programm mit einem konkreten Zeitplan vorsieht:

Die Vervollständigung der Zollunion bis 2006 durch den allmählichen Abbau der länder- und produktspezifischen Sonderregelungen.

Die Entwicklung einer gemeinsamen Handelspolitik, vor allem im Bereich der Textil-, Automobil- und zuckerverarbeitenden Industrie. Hier sollen auch kleine- und mittelständige Betriebe stärker gefördert werden.

Die Vorbereitung eines gemeinsamen Marktes mit freiem Waren-, Kapital-, und Dienstleistungsverkehr. Das erfordert notwendigerweise eine Rechtsangleichung sowie die Formulierung einer gemeinsamen Wirtschafts-, Industrie-, Agrar- und Energiepolitik oder zumindest einer gemeinsamen Strategie in den Schlüsselsektoren der Wirtschaft.

Der Ausbau der internationalen Beziehungen des MERCOSUR. Hier steht die EU an erster Stelle, noch vor den USA. Das spiegelt die momentanen außenpolitischen Prioritäten des MERCOSUR wider.

Darüber hinaus sind zahlreiche Infrastrukturprojekte (Staudämme, Wasserverbindung Paraná-Paraguay, Bahnnetze, Autobahnen, Erdgaspipelines, etc.) geplant, denn ohne eine physische Vernetzung der Mitgliedsstaaten kann kein funktionsfähiger Markt entstehen. Die Interamerikanische Entwicklungsbank schätzt, daß allein für die Infrastrukturprojekte im Energie-, Kommunikations- und Transportsektor bis zum Jahr 2000 Investitionen von bis zu 20 Milliarden Dollar jährlich notwendig wären. Hier spielen daher ausländisches Know how und Kapital eine zentrale Rolle. Um ausländische Partnerfirmen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, hat der MERCOSUR in Europa auf zahlreichen Veranstaltungen für seine Infrastrukturprojekte geworben. Aus Sicht der europäischen Unternehmer bestehen vor allem in den Bereichen Energiegewinnung, Kommunikation und Transport lukrative Investitionsmöglichkeiten.

Obwohl im Bereich der makroökonomischen Harmonisierung noch keine konkreten Maßnahmen in Angriff genommen wurden, sind in Argentinien und Brasilien bereits erste Schritte zur Angleichung ihrer Wirtschaftspolitiken zu erkennen. Die Reformprogramme sind nahezu austauschbar, und beide Partner haben eine Währungsreform mit "Parität" zum Dollar durchgeführt. Das zeigt, daß ein Konsens über die grundlegenden wirtschaftlichen Prioritäten und Zielsetzungen vorhanden ist. Die Einführung eines gemeinsamen Marktes erfordert jedoch, wie oben erwähnt, Veränderungen in der institutionellen Struktur und ein gewisses Maß an Supranationalität, das bisher von beiden Ländern abgelehnt wird.

Die künftige Entwicklung des MERCOSUR ist in erster Linie vom Erfolg der gegenwärtigen wirtschaftlichen Reformprozesse in den einzelnen Ländern abhängig. Die Entwicklung in Argentinien macht dabei die Gefahren des neuen Entwicklungsmodells deutlich: Nach einem kurzfristigen durch die Privatisierung von Staatsunternehmen und unproduktiven Investitionen ausgelösten Wachstumsboom folgten Rezession, Arbeitslosigkeit und Kaufkraftverlust. 1995 verzeichnete das Land ein negatives Wachstum von 2,5 Prozent, die Arbeitslosenquote liegt inzwischen bei fast 20 Prozent und ist damit nach Nikaragua die höchste Lateinamerikas. In Argentinien waren Privatisierung und Rationalisierung von Staatsunternehmen ein weniger lukratives Geschäft als angenommen. Kurzfristig erzielte Gewinne wurden auf Kosten gefährlicher Langzeitfolgen erzielt, da der Abbau des Staatsapparats auch Arbeitslosigkeit, Kaufkraftverlust und politische Instabilität bedeutet. So lassen sich die sozialen Unruhen in zahlreichen argentinischen Provinzen unmittelbar auf den brüsken Personalabbau der regionalen staatlichen Verwaltung zurückführen, die vor allem in den Provinzen der wichtigste Arbeitgeber ist.

Es ist nicht auszuschließen, daß die gegenwärtige Rezession in Argentinien einen Domino-Effekt im MERCOSUR haben wird. Das würde die bisherige Integrationseuphorie dämpfen, könnte den Reform- und wirtschaftlichen Öffnungsprozeß gefährden und einen Rückzug auf nationale Belange einleiten. Dafür gibt es bereits erste Anzeichen. Das Wachstum hat sich in allen Ländern abgeschwächt, Armut und soziale Defizite nehmen zu, das Problem der Arbeitslosigkeit beginnt sich auch auf andere Länder (Uruguay) zu übertragen. Als mit Abstand größte Wirtschaftsmacht ist die Entwicklung Brasiliens ein ausschlaggebendes Barometer für die Zukunft des MERCOSUR. Trotz einer positiven makroökonomischen Bilanz seit der Verabschiedung des Stabilisierungsprogramms Plano Real - die Inflation ist von vierstelligen Zahlen auf monatlich 5 Prozent gesunken, das BIP steigt - hat Brasilien auch weiterhin die schlechtesten sozialen Indikatoren in Südamerika: Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 66 Jahren, 47 Prozent der Bevölkerung gelten als arm und 20 Prozent sind Analphabeten.

Wie läßt sich ein solcher Dominoeffekt verhindern? Es muß vor allem ein gewisser Ausgleich zwischen externen und internen Märkten geschaffen werden, um die Kaufkraft in den einzelnen Länder zu erhöhen und die sozialen Kosten zu senken. Es sei in diesem Zusammenhang angemerkt, daß die Kaufkraft im MERCOSUR immerhin fünfmal geringer ist als in der EU. Falls der Ausbau der Binnenmärkte nicht gelingen sollte, stellt sich die Frage, wem der ohnehin schon schmerzliche wirtschaftliche Stabilisierungsprozeß nutzen soll. Deshalb ist eine stärkere wirtschaftliche und soziale Harmonisierung zwischen und innerhalb der MERCOSUR-Mitgliedsstaaten eine entscheidende Voraussetzung für den langfristigen Erfolg des Projekts. Bisher sind die Einrichtung sozialer Kohäsionsfonds für die weniger entwickelten Länder wie Paraguay, oder die Förderung entwicklungsschwacher Regionen wie der brasilianische Nordosten, ebenso wenig vorgesehen wie eine gemeinsame Sozialpolitik. Umfrageergebnisse bestätigen die wachsende Bedeutung der sozialen Dimension des MERCOSUR: Argentinier und Brasilianer sehen die größten Nachteile des MERCOSUR im ungleichen Entwicklungsstand seiner Mitgliedstaaten und im Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Ein weiterer entscheidender Faktor für den Erfolg des MERCOSUR ist die Reform des in allen vier Staaten z.T. ineffizienten und überdimensionierten Staatsapparats. Je transparenter und pragmatischer die nationale Verwaltung, desto schneller können Integrationsentscheidungen auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Das leitet zum Problem der lateinamerikanischen "Wirtschaftskultur" über. So ist Chile zur Zeit der einzige lateinamerikanische Staat mit einer gut verwalteten Wirtschaft, einer hohen nationalen Sparquote und einer konstanten Erhöhung der Sozialausgaben. In allen übrigen Ländern stehen Bürokratie, Korruption und Klientelismus einer effizienten Wirtschafts- und Sozialpolitik noch immer entgegen.

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Die "Andenerweiterung" des MERCOSUR

Im Sinne des offenen Regionalismus sieht der MERCOSUR seit der Aufhebung der Sperrklausel 1996 eine Erweiterung seiner Mitgliedschaft vor. Bolivien und Chile, die als Beobachter an zahlreichen Gipfeltreffen teilnahmen, aber auch Kolumbien, Venezuela und Peru haben bereits Interesse an einem Beitritt bekundet. Als ersten Schritt unterzeichnete Bolivien am 7. Dezember 1995 ein vorläufiges Handelsabkommen mit dem MERCOSUR, das noch 1996 durch ein umfassenderes Freihandelsabkommen ersetzt werden soll. In zehn Jahren, d.h. bis 2006 - wenn die Zollunion wirklich steht - werden demnach alle Handelsbarrieren fallen, und dann wird erneut über eine Mitgliedschaft Boliviens im MERCOSUR verhandelt werden. Dabei ist Bolivien schon jetzt eng mit seinen MERCOSUR-Nachbarstaaten verbunden. Diese sind die wichtigsten Abnehmer seiner Waren und über die Beteiligung an den geplanten Infrastrukturprojekten kann sich Bolivien einen permanenten Zugang zum Atlantischen Ozean sichern.

Chile wird voraussichtlich am 25. Juni 1996 einen wirtschaftlichen Assoziationsvertrag mit dem MERCOSUR unterzeichnen. Das Abkommen ist das Ergebnis langjähriger Verhandlungen, die nach dem 1994 formulierten Angebot der USA, Chile in die NAFTA aufzunehmen, zeitweilig an Dynamik verloren hatten und erst zu Beginn dieses Jahres fortgesetzt wurden. Letztendlich kamen beide Seiten auf dem Treffen der amerikanischen Handelsminister in Cartagena de Indias (Kolumbien) Ende März 1996 überein, auf dem nächsten MERCOSUR-Gipfel dies umfassende Abkommen, das u.a. die Bildung einer Freihandelszone und einen institutionellen Dialog vorsieht, zu unterzeichnen. Der positive Ausgang der Gespräche mit Chile steht in Zusammenhang mit der Verzögerung der Verhandlungen um den Nafta-Beitritt des Andenlandes, die aus wahltaktischen Gründen bis 1997 praktisch auf Eis gelegt wurden. Chile wird in nächster Zukunft nicht der Zollunion beitreten, da das Land im Gegensatz zum MERCOSUR, der Zölle von bis zu 20 Prozent erhebt, alle Einfuhren aus Drittländern mit einem Einheitstarif von 11 Prozent belegt hat. Dennoch hat der argentinische Außenminister Guido di Tella das Abkommen bereits als "ersten Schritt zur chilenischen Mitgliedschaft im MERCOSUR" interpretiert. Ein Beitritt Chiles hätte vor allem für die MERCOSUR-Staaten eindeutige Vorteile:

Chile ist ein stabiler, technologisch fortgeschrittener Partner mit einer regional vorbildlichen wirtschaftlichen Bilanz (1995 betrug das Wirtschaftswachstum 8 Prozent, das Sparaufkommen 27 Prozent des BIP). Chile bietet eine neue Produktpalette und durch seine Zugehörigkeit zur APEC Zugang zum südostasiatischen Markt. Das Land hat seinen Außenhandel diversifiziert, und die EU ist ebenso wie im Falle des MERCOSUR sein wichtigster Partner außerhalb der Region (Chile wird am 23. Juni 1996 ein neues Rahmenabkommen mit der EU unterzeichnen).

Aus chilenischer Sicht liegen die Vorteile allerdings weniger klar auf der Hand: Der wirtschaftliche Stabilisierungs- und Öffnungsprozeß ist in keinem der vier MERCOSUR-Staaten beendet, es erschließt sich kein neuer Markt, die Handelsverflechtungen sind nicht spektakulär (Chile exportiert rund 16 Prozent seiner Waren in den MERCOSUR), und die Zollsätze des MERCOSUR sind zum Teil wesentlich höher als die chilenischen. Attraktiv wäre hingegen die Beteiligung an den zahlreichen Infrastrukturprojekten des MERCOSUR und der Zugang zu neuen Technologien (vor allem im Informatikbereich). Allerdings hat Chile auch ohne eine direkte Mitgliedschaft Zugang zur Energieversorgung im MERCOSUR. Man plant zusammen mit Argentinien, seinem bedeutendsten Wirtschaftspartner in Südamerika, den Bau einer Gaspipeline. Durch seine Rolle als zurückhaltender Beobachter hat sich Chile, das als einziges lateinamerikanisches Land keinem subregionalen Integrationsmechanismus angehört, den Ruf des "Großbritannien Lateinamerikas" erworben und ist damit bisher nicht schlecht gefahren. Langfristig gesehen wird Chile jedoch seine Außenseiterposition aufgeben. So erklärte der chilenische Außenminister José Miguel Insulza im Mai in Madrid, daß der MERCOSUR-Beitritt seines Landes bisher vor allem an technischen Problemen gescheitert ist.

Sollte sich Chile wider Erwarten für eine Mitgliedschaft entscheiden, wäre der MERCOSUR mit 220 Millionen Einwohnern und einem BIP von 1,3 Billionen Dollar der mit Abstand bedeutendste Wirtschaftsblock in Lateinamerika.

Gleichzeitig haben 1995 auf brasilianische Initiative, unabhängig von den Verhandlungen mit Bolivien, erste Gespräche mit dem vor kurzem in "Gemeinschaft der Andenländer" umgetauften Andenpakt über die Bildung einer gemeinsamen Freihandelszone begonnen. Brasilien hat aus innenpolitischen Gründen ein besonderes Interesse an einer Südamerikanischen Freihandelszone (SAFTA), um damit den Forderungen der Elite im Norden des Landes, die dem MERCOSUR skeptisch gegenübersteht, gerecht zu werden. Beide Partner einigten sich auf die Formel 4 + 1, d.h., der MERCOSUR verhandelt als Block mit den einzelnen Migliedsstaaten der Gemeinschaft der Andenländer. Abgesehen von Bolivien haben auch Venezuela und Kolumbien Interesse an engeren Wirtschaftsbeziehungen zum MERCOSUR angemeldet. Aus der Perspektive des MERCOSUR wäre dies durchaus positiv: Trotz politischer Krisenlage haben beide Länder ein erhebliches wirtschaftliches Potential und verfügen zudem über Erdöl- und Erdgasressourcen. Allerdings ist Venezuela zusammen mit Kolumbien und Mexiko gleichzeitig Mitglied der "Gruppe der Drei" (G3) und der neugegründeten "Assoziation der Karibischen Staaten". Daher sollte das Interesse dieser beiden Staaten eher als Ausdruck des momentanen "Integrationsfiebers", denn als ernsthafte Anwärterschaft interpretiert werden.

Wie der äußerst langsame Annäherungsprozeß Boliviens und Chiles an den MERCOSUR zeigen, deren Beitritt nicht vor der Jahrtausendwende erfolgen wird, liegt die Andenerweiterung des MERCOSUR zunächst einmal in weiter Ferne. Obwohl eine direkte Mitgliedschaft der Andenländer mit Ausnahme von Bolivien nicht zu erwarten ist, zeigen die jüngsten Verhandlungen, daß mittelfristig eine gemeinsame Freihandelszone zwischen dem MERCOSUR und den Andenländern, vergleichbar mit dem gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum EU-EFTA, nicht völlig ausgeschlossen ist.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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