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Die interne Dynamik: wirtschaftliche Fortschritte, institutionelle Defizite

Der anfänglichen Skepsis der MERCOSUR-Staaten ist inzwischen durch eine regelrechte "Integrationseuphorie" ersetzt worden. Das ist für die künftige Entwicklung des MERCOSUR nicht ungefährlich, da hochgesteckte Erwartungen entstehen und die kleinsten Hindernisse bereits als Scheitern ausgelegt werden können. Andererseits ist der Optimismus durchaus berechtigt: Die internen Handelsschranken sind aufgehoben, 85 Prozent der importierten Waren haben einen einheitlichen Außenzoll von 0-20 Prozent, der intraregionale Handelsaustausch hat sich seit 1991 vervierfacht und das Bruttoinlandsprodukt des MERCOSUR steigt jedes Jahr um durchschnittlich 4 bis 5 Prozent. Der ehemalige spanische Außenminister und jetzige NATO-Sekretär Javier Solana wies deshalb Ende 1995 auf die "spektakulären Erfolge des MERCOSUR in kürzester Zeit" hin.

Die vier Staaten haben in wenigen Jahren nicht nur eine Freihandelszone, sondern auch eine, wenn auch noch unvollständige, Zollunion für 9000 Produkte verwirklicht. Die gleichen Ziele wurden von der EU in knapp zehn Jahren realisiert. Allerdings muß dabei in in Rechnung gestellt werden, daß jedes Land momentan bis zu 300 Produkte von der Zollunion ausschließen kann (Paraguay sogar 399), die damit erst in zehn Jahren vollendet sein wird. Nach dem Zeitplan von Ouro Prêto sollen bis zum Jahr 2001 die Kapitalgüter und der Automobilsektor einbezogen werden und bis 2006 dann der Informatik- und Telekommunikationsbereich. Allerdings stimmen Theorie und Praxis noch nicht überein. In den letzten Monaten haben sich zahlreiche ausländische Unternehmer darüber beklagt, daß Argentinien im Augenblick das einzige Land sei, das den gemeinsamen Außenzoll respektiere, während alle übrigen Staaten eine nochmalige Zahlung verlangen, so daß bis zu dreimalige Zollabgaben keine Seltenheit sind.

Die Handelsliberalisierung hat vor allem innerhalb des MERCOSUR positive wirtschaftliche Impulse hervorgebracht: Zwischen 1991 und 1995 stieg die Bedeutung des intra-MERCOSUR-Handels von 15 auf 30 Prozent. Dieser positive Trend hielt auch 1995 an, als der Binnenhandel von 9,4 Milliarden im Vorjahr auf 15,3 Milliarden Dollar anstieg. Bemerkenswert war die Entwicklung der argentinischen Ausfuhren nach Brasilien, die im vergangenen Jahr eine spektakuläre Steigerung von 60 Prozent erzielten. Weniger positiv war der umgekehrte Warenstrom: Brasiliens Exporte nach Argentinien gingen 1995 um 5 Prozent zurück. Das zeigt die unterschiedlichen Entwicklungsphasen beider Staaten: Während Argentinien im Zuge der Rezession seine Einfuhren reduzierte, setzte in Brasilien mit der neugewonnenen Stabilität ein regelrechter Importboom ein.

Mit einem Anteil von 30 Prozent am gesamten Außenhandel ist der MERCOSUR inzwischen der wichtigste Wirtschaftspartner Argentiniens (1991 machte er lediglich für 12 Prozent des Handels aus), und Brasilien exportiert heute immerhin 18 Prozent seiner Waren in den MERCOSUR, nahezu ausschließlich nach Argentinien. Für Paraguay und Uruguay sind die AB-Staaten traditionell die wichtigsten Abnehmer ihrer Produkte. Damit hat der MERCOSUR eine grundlegende Voraussetzung der Integration erfüllt: die zunehmende Wirtschaftsverflechtung seiner Mitgliedsstaaten, denn für Argentinien, Paraguay und Uruguay ist der MERCOSUR inzwischen der bedeutendste Exportmarkt. Das gilt auch für Investitionen und Unternehmenskooperation. Seit der Gründung des MERCOSUR sind 200 neue joint ventures entstanden, zahlreiche brasilianische Firmen haben Filialen in Argentinien eröffnet und beteiligen sich am Privatisierungsprogramm und den neuen Projekten im Energiesektor.

Dieser Trend wirkte sich positiv auf die nationalen Wirtschaften aus, die in den letzten Jahren einen Anstieg des BIP von durchschnittlich 5 Prozent verzeichneten. Allerdings hat sich das Wachstum 1995 im Vergleich zum Vorjahr um 1.5 Punkte abgeschwächt und liegt inzwischen nur noch bei 3,5 Prozent. Das läßt sich in erster Linie auf die Rezession in Argentinien und Uruguay zurückführen, die sich in einem Rückgang des BIP um jeweils -2,5 Prozent und -1,5 Prozent niederschlug. Deutliche Erfolge wurden hingegen bei der Reduzierung der Inflationsraten erzielt, die inzwischen in allen vier Ländern unter 10 Prozent monatlich liegt.

Diese positiven wirtschaftlichen Impulse im MERCOSUR sind das unmittelbare Ergebnis der Reformprozesse, die in Argentinien und Brasilien zügig vorangehen. Der wirtschaftliche Öffnungs- und Stabilisierungskurs, der auf Inflationsbekämpfung, Exportförderung, Währungsstabilität und Privatisierung von Staatsbetrieben setzt, ist in Argentinien am weitesten fortgeschritten; in Brasilien wird er im Rahmen des 1994 verabschiedeten Wirtschaftsprogramms Plano Real von Präsident Henrique Cardoso erfolgreich fortgesetzt. In Argentinien wurden zwischen 1989 und 1994 Staatsbetriebe im Wert von 28 Milliarden Dollar privatisiert, darunter die nationale Fluggesellschaft, Wasserwerke und künftig auch Flughäfen und Atomkraftwerke. In Brasilien hat das Parlament vor kurzem grünes Licht zur Aufhebung der bisherigen Diskriminierung ausländischer Investoren gegeben. Um die Privatisierung von Staatsbetrieben zu ermöglichen, wurden sogar Verfassungsänderungen durchgesetzt, die das bisherige Staatsmonopol über Erdöl und Erdgas, Bergbau und Telekommunikation wieder rückgängig machen sollen. Weniger deutlich waren die Fortschritte in den beiden kleineren Ländern: In Uruguay ist nach dem negativen Ausgang des Referendums über die Privatisierung von Staatsbetrieben und nach dem Regierungswechsel von Präsident Lacalle zu Sanguinetti der Rhythmus der Reformen verlangsamt worden, und auch in Paraguay geht die Modernisierung aufgrund des enormen Nachholbedarfs des Landes nur zögernd voran.

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Die institutionelle Debatte

Um die negativen Erfahrungen anderer Integrationsräume (wie z.B. des Andenpaktes) nicht zu wiederholen, einigte man sich im MERCOSUR von Anfang an auf eine einfache institutionelle Struktur. Im Gegensatz zur EU basiert der MERCOSUR daher nicht auf supranationalen Institutionen, sondern auf zwischenstaatlichen Organen. Die institutionelle Struktur ist im Vertrag von Asunción und dem 1994 unterzeichneten Protokoll von Ouro Prêto rechtlich verankert. Demnach wird der MERCOSUR von sechs Institutionen gesteuert:

Der Rat des MERCOSUR (Consejo del MERCOSUR) ist das oberste Entscheidungsorgan, in dem die Außenminister Länder und zweimal im Jahr die Präsidenten vertreten sind.

Die Gruppe des Gemeinsamen Marktes (Grupo del Mercado Común) ist das ausführende Organ des MERCOSUR, dessen elf Unterausschüsse die notwendige Vor- und Nachbereitung der Sitzungen leisten.

Die Handelskommission (Comisión de Comercio) soll eine gemeinsame Handelspolitik entwickeln und ist gleichzeitig für den Abschluß von Verträgen mit Drittländern verantwortlich.

Im Wirtschafts- und Sozial-Forum (Foro Económico y Social) sind Unternehmensverbände und Gewerkschaften vertreten, die beratende Funktionen übernehmen und über alle wichtigen Entscheidungen des MERCOSUR informiert werden müssen.

Die Gemeinsame Parlamentarische Kommission des MERCOSUR (Comisión Parlamentaria Conjunta del MERCOSUR) setzt sich aus je 16 Parlamentariern der vier Länder zusammen. Aus der Kommission soll langfristig ein eigenes Parlament des MERCOSUR entstehen.

Das ständige Verwaltungssekretariat des MERCOSUR (Secretaría Administrativa) in Montevideo ist für alle administrativen Aufgaben zuständig.

Nach dem Vorbild der EU finden alle sechs Monate MERCOSUR-Gipfeltreffen statt, auf denen die politischen und wirtschaftlichen Leitlinien des Integrationsprozesses festgelegt und alle notwendigen Entscheidungen getroffen werden. Umgesetzt werden diese dann von der Grupo del Mercado Común und ihren Unterausschüssen, bzw. von den entsprechenden nationalen Organen. Im Gegensatz zur EU hat der MERCOSUR keine eigenen Funktionäre, sondern wird von Beamten geleitet, die gleichzeitig für nationale Belange zuständig sind. Außerdem fehlt bisher eine klare Kompetenzzuweisung der einzelnen Institutionen, so daß sich bestimmte Funktionen, vor allem im Bereich der Handelspolitik, klar überschneiden. Die augenblickliche Debatte über die Einrichtung eines ständigen Sitzes der 1994 gegründeten Handelskommission - sowohl Paraguay als auch Uruguay haben Interesse bekundet - und der brasilianische Vorschlag, ein pro-tempore Sekretariat nach dem Rotationsprinzip einzurichten, zeigten, daß die Mitgliedsländer noch keine Einigung über die institutionelle Gestaltung des MERCOSUR erzielt haben. Um die Debatte in diesem Bereich voranzubringen, wurde 1995 eigens eine spezielle ad-hoc Gruppe für institutionelle Fragen gegründet.

Die momentane institutionelle Struktur unterstreicht Schwächen und Stärken des MERCOSUR gleichermaßen: einerseits verdankt er seine äußerst positive Anfangsdynamik u.a. den pragmatischen und unbürokratischen Entscheidungsstrukturen, andererseits ist ein gemeinsamer Markt ohne eigene supranationale Organe kaum funktionsfähig. Es bleibt unklar, wie eine gemeinsame Handelspolitik oder aber Verhandlungen mit Drittländern über einen Abbau der Zollschranken ohne eigenständige Institutionen mit entsprechendem Personal funktionieren sollen. Diese Frage wird auch im Gründungsvertrag von Asunción nicht beantwortet, der lediglich eine institutionelle Struktur in der "Übergangsphase" zum gemeinsamen Markt festlegt (Artikel 9). Das Konsensprinzip zwischen allen Mitgliedsländern hat zwar bisher dank eines starken politischen Willens funktioniert, das bedeutet aber keineswegs, daß sich das instititutionelle System bewährt hat, sondern vielmehr, daß bisher keine größeren Hindernisse aufgetreten sind. Sollte ein Land wie Paraguay seine Zustimmung zu einer gemeinsamen Politik versagen, könnte daran letztendlich das gesamte Projekt scheitern.

Angesichts der hochgesteckten Ziele des MERCOSUR müssen deshalb zwangsläufig institutionelle Veränderungen vorgenommen werden, sonst ist ein gemeinsamer Markt nicht zu verwirklichen. Hier setzt die in der EU so überstrapazierte Souveränitätsdebatte um supranationale oder nationale Institutionen ein. Bisher wurde das Thema innerhalb des MERCOSUR vorsichtig umgangen, aber langfristig führt an der institutionellen Debatte, die zudem in keinem Integrationsverband - nicht einmal in der EU - gelöst ist, kein Weg vorbei. Experten verweisen auf die Nachteile der zwischenstaatlichen Struktur: Es sind keine autonomen Entscheidungen möglich, der Konsensfindungsprozeß ist äußerst problematisch und langwierig, und es besteht die Gefahr einer Stagnation, sollte der politische Wille einmal nicht vorhanden sein. Darüber hinaus wird das Einstimmigkeitsprinzip bei einer Erweiterung der Mitgliedschaft des MERCOSUR um Chile oder Bolivien höchstwahrscheinlich nicht mehr funktionieren. Der Widerstand gegen supranationale Organe geht vor allem von den Regierungen aus, denn Umfragen zufolge befürwortete sowohl in Argentinien als auch in Brasilien eine deutliche Mehrheit die Schaffung supranationaler Institutionen des MERCOSUR.

Die extreme Abhängigkeit von nationalen Entscheidungen stand bereits in den 60er Jahren einer erfolgreichen Integration in Lateinamerika entgegen, da die jeweiligen Probleme des Staatsapparats wie Ineffizienz, Korruption und Bürokratisierung automatisch auf den Integrationsprozeß übertragen wurden. Gleichzeitig entstehen durch die zwischenstaatliche Struktur auch praktische Probleme. So hat ein ausländisches Unternehmen, das im MERCOSUR investiert, im Konfliktfall keinen zentralen Ansprechpartner, da nach dem am 17. Dezember 1991 unterzeichneten Protokoll von Brasilia die jeweiligen nationalen Rechtssprechungsorgane für die Regelung von Konflikten zuständig sind. Vor allem ausländische Unternehmen haben daher den Wunsch nach einem eigenen MERCOSUR-Gerichtshof geäußert.

Andererseits hat eine zwischenstaatliche Struktur auch Vorteile. Es entsteht keine Bürokratie, die Entscheidungen sind leicht nachzuvollziehen, der politische Wille ist durch das Einstimmigkeitsprinzip vorhanden, das Rechtssystem ist einfach und transparent. Hier ist die EU mit ihrer kostspieligen Bürokratie und einem nahezu undurchschaubaren Regelwerk für viele ein negatives Beispiel, dessen Nachahmung die MERCOSUR-Staaten mehrfach entschieden abgelehnt haben. So läßt sich durchaus darüber diskutieren, ob sich die institutionelle Struktur der EU positiv oder negativ auf die Schaffung des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes ausgewirkt hat. Daß ein meinsamer Markt ohne supranationale Organe funktionieren kann, scheint gleichwohl langfristig eher unwahrscheinlich.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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