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TEILDOKUMENT:




6. Chancen für Wandel in der Arbeitswelt

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Im Übergang zur Informationsgesellschaft verändert sich die Arbeitswelt grundlegend: Es entstehen neue Beschäftigungsmöglichkeiten und Berufe, gleichzeitig fallen Arbeitsplätze weiterhin den Rationalisierungseffekten des technisch-organisatorischen Wandels zum Opfer. Digitalisierung und Vernetzung ermöglichen zeitlich und örtlich flexible und chancenreiche Arbeitsformen wie die Telearbeit. Das überkommene „Normalarbeitsverhältnis" des Industriezeitalters und die darauf fokussierten arbeits- und sozialrechtlichen Regulierungsmechanismen verlieren in der Arbeitswelt der Informationsgesellschaft an prägender Kraft.

Wie in kaum einem anderen Bereich wächst hier die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften, damit kreative und innovative Potentiale entfaltet und zugleich soziale Verwerfungen vermieden werden können. Politisches Handeln in diesem Gestaltungsfeld sollte sich kurz- und mittelfristig auf folgende Schwerpunkte konzentrieren:

  • Die Förderung von Beschäftigung,
  • die Ausschöpfung des Chancenpotentials der Telearbeit,
  • die Modernisierung des Arbeits- und Sozialrechts.


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Beschäftigung fördern

Angesichts anhaltender Massenarbeitslosigkeit liegt die wichtigste Herausforderung für alle Akteure darin, die Beschäftigungsbilanz der „digitalen Revolution" positiv zu gestalten. Die Vorstellung, daß die Informationsgesellschaft als eine Art „Jobmaschine" wirke, die wundersamerweise sämtliche Arbeitsmarktprobleme löse, hat sich als unhaltbar erwiesen. Sollen die positiven Beschäftigungspotentiale der neuen Techniken erschlossen werden, so bedarf es hierzu gezielter unterstützender Initiativen der Politik. Unsere Empfehlungen hierzu sind:

  • „Bündnis für Arbeit in der Informationsgesellschaft": Das von einer neuen Bundesregierung zu initiierende „Bündnis für Arbeit" muß dem Problemkomplex „Informationsgesellschaft und Beschäftigung" zentrale Aufmerksamkeit widmen. In einem ersten Schritt sollte dabei versucht werden,
    • die bisherigen Erkenntnisse zu den Arbeitsplatzeffekten des technisch-organisatorischen Wandels zu systematisieren und auszuwerten,
    • Innovationsfelder zu identifizieren, die als besondere" Hoffnungsträger" im beschäftigungspolitischen Sinn gelten können und
    • für diese gezielte Vorgehensweisen zur raschen Ausschöpfung maximaler Beschäftigungspotentiale zu vereinbaren.
  • Regulierung auch industrie- und beschäftigungspolitisch ausrichten: Bei der aktiven Regulierung des Medien- und Telekommunikationssektors ist unter beschäftigungspolitischen Aspekten die Entwicklung auf den internationalen Märkten im Auge zu behalten. Wichtig ist eine globale Perspektive, die alle nationalen und internationalen Marktteilnehmer umfaßt. Es bedarf einer mittel- und langfristigen industriepolitischen Strategie in Deutschland und in Europa, um die Position unserer Unternehmen auf den globalen Märkten der Medien- und Telekommunikationswirtschaft zu festigen und auszubauen. Oberstes Ziel muß dabei sein, möglichst viele attraktive, zukunftssichere Arbeitsplätze von morgen zu schaffen und die Informationsgesellschaft auch auf der Produktionsseite erfolgreich zu gestalten.
  • Funktionsfähigkeit der Arbeitsmärkte optimieren: Funktionsfähigkeit und Transparenz der Arbeitsmärkte lassen sich durch verstärkte Nutzung von IuK-Technik deutlich erhöhen. Deshalb sind nationale und europaweite Projekte zur Arbeitsvermittlung im Internet und die Verbreitung elektronischer Bewerbungsverfahren in besonderem Maße zu fördern.

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    Aufgegriffen werden sollten hier auch Initiativen wie die „Stellenbörse zur Telearbeit im Internet", die für diese neue Arbeitsform hilfreich sind.


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Telearbeit fördern und gestalten

Telearbeit ist die bekannteste und relevanteste Erscheinungsform der Auflösung traditioneller Raum-/Zeitbindungen in der „digitalen Arbeitswelt" der Informationsgesellschaft. Telearbeit in geeigneten Gestaltungsformen kann u.a.

  • die Vereinbarkeit familiärer und beruflicher Verpflichtungen erleichtern,
  • behinderten Menschen Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe am Arbeitsprozeß eröffnen,
  • zur Erweiterung zeitlicher Dispositionsspielräume beitragen,
  • Kosteneinsparungen ermöglichen - u.a. durch Reduzierung von Büroflächen und Vermeidung von Reisekosten,
  • Produktivität, Motivation und Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten fördern,
  • die organisatorische und zeitliche Flexibilität der Unternehmen erhöhen wie auch
  • durch Verkehrsvermeidung ökologisch positive Effekte zeitigen.

Gleichwohl bleibt die Verbreitung von Telearbeit in Deutschland bisher deutlich hinter den Erwartungen zurück. Erkennbare Diffusionsbarrieren liegen insbesondere in rechtlichen Unsicherheiten und in unzureichenden Informationen über die Gestaltungsmöglichkeiten dieser Arbeitsform. An diesen Defiziten müssen politische Initiativen zur Förderung dieser innovativen und chancenreichen Arbeitsform ansetzen. Unsere Empfehlungen lauten:

  • Regelungslücken schließen: Die Verbreitung von Telearbeit wird in vielen Sektoren – insbesondere dort, wo Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen nicht greifen können – durch Regelungslücken und rechtliche Unsicherheiten behindert, wie eine große Untersuchung des Fraunhoferinstituts für Arbeitswirtschaft und Organisation aus dem Jahr 1997 gezeigt hat. Der Abschlußbericht dieser im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung erarbeiteten Studie enthält eine Fülle von Handlungsempfehlungen für gesetzliche Mindestregelungen zur Telearbeit. Diese reichen von der Notwendigkeit, den Arbeitnehmer- wie den Betriebsbegriff zeitgemäß zu definieren (s.u.) bis zu einer ganzen Reihe individualrechtlicher Regelungsvorschläge z.B. zur Haftung, zur Frage der Zutrittsrechte zu Telearbeitsplätzen, zur Gewährleistung des Arbeitsschutzes und zur Informations- und Beratungsrechten der Beschäftigten in der Planungsphase von Telearbeit. Entsprechende Mindestbedingungen, die ausreichend Raum für tarifvertragliche und betriebliche Ausgestaltungen lassen müssen, sollten in einem Artikelgesetz gesetzlich verankert werden.
  • Informationsdefizit beseitigen: Die Akzeptanz und praktische Realisierung von Telearbeit wird nicht nur durch das erwähnte Regelungsdefizit beeinträchtigt. Ebenso hinderlich ist ein verbreitetes Informationsmanko bei denjenigen, die Telearbeit anbieten oder als Telearbeiter tätig werden wollen. Offensichtlich gibt es eine ausgeprägte „Consulting-Lücke" in Sachen Telearbeit - und zwar sowohl im Management als auch bei Betriebsräten, sowohl bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als auch bei Freelancern und Selbständigen aller Schattierungen. Die politischen Bemühungen zur Beseitigung dieses Informationsdefizits müssen vor diesem Hintergrund intensiviert und verstetigt werden. Initiativen wie das Projekt „Telearbeit im Mittelstand" oder das von Postgewerkschaft, Telekom und BMBF getragene „Online Forum Telearbeit" verdienen deshalb besondere Förderung.
  • Bildungsangebote unterstützen: Erfolgreiche Telearbeit setzt bestimmte Qualifikationen der Beschäftigten voraus – z.B. Fähigkeiten zur Selbstorganisation und zum Zeitmanagement ebenso wie PC-Kenntnisse. „Telearbeitsfähigkeit" sollte von daher in der schulischen, beruflichen und berufsbegleitenden Bildung zum speziellen Qualifizierungsziel erhoben werden. Entsprechende Bildungsangebote sind gezielt zu unterstützen.

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Arbeits- und Sozialrecht modernisieren

Die überkommenen Regulierungsmechanismen des Arbeits- und Sozialrechts geraten in der Arbeitswelt der Informationsgesellschaft, die durch Digitalisierung und Vernetzung, eine „Entbetrieblichung" der Produktionsprozesse und die Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses" gekennzeichnet ist, zunehmend unter Anpassungsdruck. Auf der Tagesordnung steht eine umfassende Modernisierung des Arbeits- und Sozialrechts, bei der es im Kern um die Schaffung eines Rahmens gehen muß, „der Firmen und einzelnen Arbeitnehmern mehr Flexibilität ermöglicht und gleichzeitig den Arbeitnehmern ein angemessenes Maß an Sicherheit bietet" (EU-Grünbuch „Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft"). Wir empfehlen folgende Maßnahmen:

  • Neudefinition des Betriebs- und Arbeitnehmerbegriffs: Zentrale arbeits- und sozialrechtliche Kategorien müssen angesichts der „digitalen Revolution" neu justiert werden. Besondere Bedeutung kommt dabei zum einen einer erweiterten gesetzlichen Definition des Betriebsbegriffs zu, die sicherstellen muß, daß jeder Beschäftigte einem Betrieb im betriebverfassungsrechtlichen Sinne zugeordnet und Mitbestimmung auch in vernetzten Wertschöpfungsverbünden und virtuellen Unternehmensstrukturen auf tragfähigen rechtlichen Grundlagen basieren kann. Zum zweiten sollte der Arbeitnehmerbegriff so gefasst werden, daß alle Erwerbstätigen, welche nicht im eigentlichen Sinne eigenständig unternehmerisch aktiv bzw. weder in persönlicher noch in wirtschaftlicher Hinsicht selbständig sind, in den Geltungsbereich des Arbeitsrechts einbezogen werden.
  • Arbeitnehmerdatenschutz: Die Informatisierung der Arbeitswelt, die wachsende Leistungsfähigkeit von Datenverarbeitungssystemen und die Verlagerung von Arbeitsprozessen auf elektronische Netze erschließen neue Möglichkeiten zur Sammlung, Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten. Daraus resultiert ein erhebliches Gefährdungspotential für den Schutz der Privatsphäre und das informationelle Selbstbestimmungsrecht von Arbeitnehmern, das eine gesetzgeberische Initiative zum Arbeitnehmerdatenschutz erforderlich macht.
  • Zugang zu Netzen: Bei Telearbeit und anderen Formen der Telekooperation nimmt die Bedeutung elektronischer Kommunikation zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten erheblich zu. Eine allgemeine Möglichkeit des gleichberechtigten Zugangs von betrieblichen Interessenvertretungen zu unternehmensinternen Kommunikationsnetzen gibt es nach gegenwärtiger BAG-Rechtsprechung nicht. Dies hat verschiedentlich bereits zu rechtlichen Auseinandersetzungen geführt. Vor diesem Hintergrund empfehlen sich gesetzliche Regelungen, die sicherstellen, daß betriebliche Interessenvertretungen elektronische Kommunikationsnetze zum Kontakt mit der Belegschaft - auch bei räumlichen Auslagerungen - in gleichem Maße nutzen können, wie dies im klassischen betrieblichen Rahmen durch persönliche Ansprache möglich ist. Analog wären auch die vorhandenen gewerkschaftlichen Zugangsrechte zum Betrieb um eine solche „elektronische Komponente" zu ergänzen. Auch ein „virtueller Betrieb" sollte - im Interesse der Beschäftigten - für Arbeitnehmerorganisationen zugänglich sein.
  • Internationale Mindeststandards: Die durch die Informations- und Kommunikationstechniken beschleunigte Globalisierung der Arbeitsmärkte macht die Verankerung sozialer und arbeitsrechtlicher Mindeststandards in internationalen Abkommen erforderlich, soll ein ruinöser Unterbietungswettbewerb zwischen nationalen Volkswirtschaften verhindert werden. Dabei geht es z.B. um die Garantie der Koalitionsfreiheit, das Recht auf Kollektivverhandlungen und das Verbot von Zwangs- und Kinderarbeit. Die Bundesregierung sollte – anders als bisher – in internationalen Konferenzen (z.B. im Rahmen der WTO) entsprechende Initiativen ergreifen und nachdrücklich unterstützen.
  • Soziale Sicherungssysteme anpassen: Wegen der Ausbreitung neuer, vom „Normalarbeitsverhältnis" abweichender Beschäftigungsverhältnisse in der Informationsgesellschaft müssen die Finanzierungsgrundlagen der sozialen Sicherungssysteme erweitert werden. Notwen-

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    dig sind sozial abgesicherte Arbeitsplätze für alle. Ziel muß es sein, die Rentenversicherungspflicht auf alle Erwerbstätigen auszudehnen. Durch Vergrößerung des Kreises der Beitragszahler kann der Erosion der Beitragsbasis der Sozialversicherungen begegnet, können die Beitragssätze zur Rentenversicherung gesenkt und langfristig auf niedrigerem Niveau stabilisiert werden. Deshalb müssen Scheinselbständige und bisher nicht versicherte Selbständige in die Rentenversicherung einbezogen werden. Dabei ist zu klären, wie - analog zur bisherigen gemeinsamen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer - eine angemessene Beitragsaufteilung zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern ermöglicht werden kann.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

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