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7. Bildung für die Informationsgesellschaft

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Der Strukturwandel hin zur Informationsgesellschaft macht grundlegende Reformen im Bildungs- und Ausbildungssystem notwendig. Auf die nachhaltig veränderten Anforderungen an die Qualifikationsprofile der Erwerbstätigen müssen allgemeinbildende Schulen, Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten zügig und umfassend reagieren, soll das Bildungs- und Ausbildungssystem nicht zu einem neuen Engpaß für den Strukturwandel werden. Die Menschen müssen unabhängig von ihrer Herkunft die qualifikatorischen Grundlagen für den Umgang mit den neuen technischen Möglichkeiten erwerben können. Im Informationszeitalter müssen die Bildungseinrichtungen stärker das Lernen und Umlernen lehren: Immer wichtiger wird die Fähigkeit, sich Kenntnisse und Wissen selbstverantwortlich anzueignen. Reformen im Bildungs- und Ausbildungssystem sind eine grundlegende Voraussetzung für die Nutzung der Chancen und die Begrenzung der Risiken des informationsgesellschaftlichen Wandels. Die Politik muß die entsprechenden Innovationen auf allen Ebenen der Aus- und Weiterbildung anstoßen:

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Medienkompetenz

Nach Auffassung vieler Experten birgt die Informationsgesellschaft die Gefahr, daß eine Teilung der Bevölkerung in „information rich and information poor" entsteht. Ganz vordergründig geht es dabei zunächst um die reinen Fertigkeiten, mit den neuen Kommunikationsmitteln und Arbeitsmitteln umzugehen. Denn es liegt auf der Hand, daß mehr „Medienkompetenz" zu Vorteilen im gesamten gesellschaftlichen Wettbewerb führt. Im Hintergrund steht aber vor allem die Sorge, daß aufgrund mangelnder „Medienkompetenz" weite Kreise der arbeitsfähigen Bevölkerung generell immer weniger Chancen auf Teilhabe am Arbeitsmarkt haben werden.

Neben der vor allem auf die beruflichen Belange ausgerichteten Medienkompetenz, die mit mehr Ausbildung auf allen Ebenen (vom Kindergarten bis zur speziellen Berufsausbildung) erreicht werden soll, umfaßt „Medienkompetenz" auch das Postulat, mit der Fülle von Informationen (z.B. „Bilderflut") fertigzuwerden. Hier werden auf höherem quantitativen Niveau die Fragestellungen aufgegriffen, die Anfang der siebziger Jahre von der Medienpädagogik gestellt und weitgehend unbeantwortet geblieben waren. Explizit hat sich das 1996 gegründete Europäische Institut für Medienkompetenz in Nordrhein-Westfalen der Erhöhung der Medienkompetenz verschrieben.

Eine höhere Medienkompetenz als Eintrittskarte für die Informationsgesellschaft kann sicherlich nicht allein dadurch erreicht werden, daß man von Kindergarten bis Campus isoliert handwerkliche Fertigkeiten vermittelt. Medienkompetenz hat nämlich eine - der Alphabetisierung gleichkommende - tiefe gesellschaftspolitische Wurzel, die nur in gesellschaftlicher Gestaltung in vielerlei Hinsicht Früchte tragen kann.

  • Medienkompetenz als zentrales Bildungsziel etablieren: In Schulen und anderen Bildungseinrichtungen muß frühzeitig der kompetente, verantwortungsbewußte und kritische Umgang mit den elektronischen Medien gelernt werden. Medienkompetenz im umfassenden Sinne, die weit über die Aneignung technischer Computerkenntnisse hinausgeht, muß als zentrales Bildungsziel etabliert werden. Der Umgang mit dem PC als Kommunikationsinstrument sollte - ebenso wie Lesen, Schreiben und Fremdsprachenkenntnisse - zum elementaren Bildungsstandard zählen. Medienkompetenz muß auch die Fähigkeit umfassen, Medien in ihrer Wirkungsweise kritisch wahrnehmen zu können, Informationen in elektronischen Netzen aufzuspüren, differenziert zu beurteilen, bedarfsgerecht auszuwählen und eigenständig zu verarbeiten. Eine zukunftsorientierte Bildungspolitik muß einen Weg finden, sowohl die in einer Informationsgesellschaft geforderten technikbezogenen wie auch die sozialen Fähigkeiten - wie Entscheidungs-, Kooperations- und Konfliktfähigkeit - zu vermitteln. Bildungspolitik

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    und Curriculumsentwicklung sind gefordert, Lernzielkataloge entsprechend neu auszurichten und Lernziele herauszuarbeiten und verbindlich zu definieren, die einen pädagogisch verantwortungsvollen und umsichtigen Technikeinsatz in den einzelnen Unterrichtsfächern für die jeweiligen Lernziele bestimmen und in den Mix der Lehrmittel einbauen.
  • Medienkompetenz für Hauptschüler: Ein besonderer Schwerpunkt bei der Vermittlung von Medienkompetenz sollte in den Hauptschulen liegen. Gerade dort muß größter Wert darauf gelegt werden, Lehrer medienpädagogisch weiterzubilden, teamorientierte, auf aktives Lernen und intensive Kommunikation ausgerichtete Unterrichtsformen zu praktizieren und pädagogisch wertvolle Lern-Software einzusetzen. Weil auf dem Markt ein Defizit an pädagogisch anspruchsvoller Lern-Software besteht, sollte es zur Entwicklung dieser Software besondere staatliche Incentives geben.
  • „Klassenzimmer ans Netz": Sozial benachteiligte Familien sind meist nicht in der Lage, einen multimediafähigen Computer anzuschaffen. Um die Gefahr der Vertiefung der Wissenskluft und der sozialen Ausgrenzung zu vermeiden, muß die Schule vor allem den Schülern aus einkommensschwächeren Familien Zugang zu multimedialen Lehrmitteln und Programmen verschaffen. Dabei darf die Arbeit an Computern nicht auf Gymnasien beschränkt werden. Auch die Schüler in den Haupt- und Realschulen und den Gesamtschulen müssen den Umgang mit dem Computer erlernen. Finanzieller Rahmen und Zeithorizont des derzeitigen, vom Bundesbildungsministerium unterstützten Programms "Schulen ans Netz" sind auszubauen: Ziel muß es sein, alle deutschen Schulen mit multimediafähigen Computern und Lernprogrammen auszustatten. Jede Schule sollte pro Klasse mindestens über einen multimediafähigen Computer am Netz verfügen. Für die bisher nicht von dem Programm berücksichtigten laufenden Netzkosten ist ein besonderer, kostengünstiger „Schultarif" nötig. Weil mit der Computernutzung die variablen (Netz-) kosten in den Schulen erheblich steigen, muß durch eine Schulverwaltungsreform den Schulen mehr Spielraum bei der Budgetierung eingeräumt werden.
  • Neue Bildungspartnerschaft zwischen Staat und Privaten: Die Finanzknappheit der öffentlichen Haushalte darf kein unüberwindliches Hindernis beim Aufbruch in die Informationsgesellschaft werden. Die positiven Erfahrungen anderer Länder mit Modellen von Public-Private-Partnerships müssen auch in Deutschland genutzt werden. Der Weg einer gemeinsamen Finanzierung der Kommunikationsinfrastruktur in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen durch öffentliche Hand und private Träger muß in verstärktem Umfang auch in Deutschland beschritten werden. Es liegt im eigenen Interesse der privaten Wirtschaft, daß Berufsanfänger mit den neuen Informationstechniken vertraut sind. Auch Eltern und andere Privatpersonen sollten dafür gewonnen werden, sich an der Finanzierung der Kommunikationsinfrastruktur und an den laufenden Netzkosten zu beteiligen. Insgesamt müssen in verstärktem Maße gemischte, öffentlich-private Finanzierungsmodelle praktiziert werden, um die Kommunikationsinfrastruktur in den Schulen schnell und umfassend den Erfordernissen der Informationsgesellschaft anzupassen.
  • Aus- und Weiterbildung von Lehrern: Bislang mangelt es an Programmen zur informationstechnischen Qualifizierung der gegenwärtigen und künftigen Lehrergenerationen. Für Lehrer und Ausbilder an den Schulen muß eine Pflicht zur Weiterbildung sowohl in technischer als auch pädagogischer Hinsicht verankert werden. Bildungspolitik muß für die Bereitstellung der notwendigen Mittel sorgen und die entsprechenden Programme initiieren. Andernfalls würde die Anschaffung teurer Computer und multimedialer Lernprogramme ins Leere gehen.
  • Multimediale Bildungsoffensive inhaltlich gestalten: Die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik eröffnet neue Wege, um Lemprozesse multimedial zu unterstützen. Auf dem zukunftsträchtigen Gebiet der inhaltlichen Gestaltung multimedialer Lernformen sollten die Forschungsmittel erhöht und neue Entwicklungen in den Unternehmen aktiv unterstützt werden. Durch eine Qualitätsprüfung nach dem Muster der „Stiftung Warentest" sollte der Markt für multimedial unterstützte Lernformen transparenter gestaltet wer-

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    den. Schulen, Hochschulen, berufliche Aus- und Weiterbildung müssen bei der Nutzung neuer Medien und ihrer praxisorientierten Gestaltung ermutigt und für eine befristete Zeit mit Fördermitteln unterstützt werden, um den Durchbruch schaffen zu können.


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Lebenslanges Lernen

Kreativität, Wissen, technische und soziale Kompetenzen werden zu entscheidenden Erfolgsfaktoren in der Arbeitswelt der Informationsgesellschaft und zur Voraussetzung für die "Beschäftigungsfähigkeit" (employability) der Menschen. Weil die Informationsgesellschaft eine "lernende Gesellschaft" sein wird und die Bereitschaft und Fähigkeit zum "lebenslangen Lernen" zu den qualifikatorischen Grundanforderungen zählen, wird es unumgänglich sein, neue Möglichkeiten zur berufsbegleitenden Qualifizierung von Arbeitnehmern bereitzustellen. Die Weiterbildung muß neben Schule, Berufsschule und Hochschule zur vierten Säule unseres Bildungswesens werden. In kurz- und mittelfristiger Perspektive schlagen wir folgende Maßnahmen vor:

  • Zeit zum Lernen: Lernen, auch und gerade berufsbegleitendes Lernen, erfordert Zeit. Deshalb sind verstärkt Varianten einer sinnvollen Kopplung arbeitszeit- und qualifizierungspolitischer Initiativen zu erproben. Arbeitszeitverkürzungen und "Ausstiegszeiten", die zur Weiterqualifizierung genutzt werden, sind staatlicherseits besonders zu fördern. Entsprechende betriebliche und tarifvertragliche Gestaltungsmodelle müssen ebenso wie vergleichbare ausländische Erfahrungen evaluiert und auf ihre Übertragbarkeit hin überprüft werden.
  • Weiterbildungsinfrastruktur für lebenslanges Lernen: Der Staat ist aufgefordert, für eine Weiterbildungsinfrastruktur zu sorgen, die lebenslanges Lernen ermöglicht. In Anlehnung an das britische Projekt einer "University for Industry" sollten in Deutschland Bund und Länder kooperativ auf die Gründung einer nationalen Bildungseinrichtung in Form einer "public-private-partnership" hinwirken, die die Aufgabe hat, Erwachsenen am Arbeitsplatz, zu Hause oder in lokalen Bildungszentren Lernmöglichkeiten – insbesondere im Bereich der Informations- und Kommunikationstechniken – zu eröffnen.
  • Europäischer Computerführerschein: Grundlegende Computerkenntnisse - von Betriebssystem über Textverarbeitung bis zu Datenbanken) gehören immer mehr zur selbstverständlichen Kompetenz im Arbeitsalltag. Während in Schweden und in Dänemark monatlich rund 10.000 Menschen ihre "Computerführerscheinprüfung" machen, es in Österreich und England Hunderte und Tausende tun, legen in Deutschland monatlich gerade einmal zehn Prüflinge ihre "Computerführerscheinprüfung" ab. Der Europäische Computer-Führerschein ist eine Initiative des Council of European Professional Informatics Societies (CEPIS) in Zusammenarbeit mit der EU. Der Führerschein bietet jedem Computernutzer als europaweit anerkanntes Zertifikat einen Nachweis seiner Fertigkeiten, den er bei seinem beruflichen Fortkommen oder bei der Arbeitsplatzsuche einsetzen kann. In Deutschland wird die Aktivität durch die renommierte Gesellschaft für Informatik (GI) getragen. Andere Verbände, aber auch viele Großunternehmen schließen sich der Aktivität bisher hauptsächlich deswegen nicht an, weil sie vermuten, dies störe den Frieden der Tarifpartnerorganisationen und der Kultusbürokratien. In den anderen europäischen Ländern werden Kursgebühren und die geringen Prüfungsgebühren sowohl von Arbeitgebern als auch von Privatleuten bezahlt, in einigen Ländern übernehmen dies sogar auch staatliche Weiterbildungsprogramme. In Deutschland hat noch nicht einmal die Diskussion darüber so recht angefangen, dabei liegt auch hierzulande eine pragmatische Lösung auf der Hand. Dieses Beispiel zeigt deutlich auf, daß in Deutschland zusätzliche Initiativen und Kampagnen für die Informationsgesellschaft im Rahmen eines Masterplans erforderlich sind, wenn man auch nur mit den anderen europäischen Ländern mithalten will.
  • Qualifikation ans Netz: Wo schon beim Mitziehen auf europäischem Niveau Ängstlichkeiten und Abwarten unserer Institutionen das Bild beherrschen, wird dies bei grundlegend neuen innovativen Vorschlägen noch sehr viel schlimmer. So berichtete Dieter Klumpp von

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    den Reaktionen auf seinen Vorschlag vom Frühjahr 1997, im Rahmen einer Aktion "Qualifikation ans Netz" (QAN) Millionen von Tarifangestellten in der Wirtschaft einen Multimedia-PC samt Onlineanschluß zu schenken, die erwartbaren Reaktionen (und Nichtreaktionen) seien eingetreten. Als Haupthürde hatte Klumpp bereits bei der Formulierung des QAN-Vorschlags genannt, daß die Finanzbehörden dieses Geschenk des Arbeitgebers nicht als "geldwerte Leistung" steuerlich veranlagen sollten. Die vorhersehbare zweite große Hürde war, daß die Unternehmen für ein solches Aktionsprogramm nicht unerhebliche Geldsummen aufbringen müssen, die Gegenrechnung aber nicht in Geld, sondern in zusätzlicher Leistung der Tarifangestellten erfolgt. Obwohl der verblüffende Vorschlag, der ja immerhin partielle Arbeitszeitverlängerungen und Auslagerungen von Fortbildungsaktivitäten aus den Betrieben beinhaltete, selbst in Gewerkschaften mit wohlwollendem Interesse aufgenommen wurde, wagte es weniger als eine Handvoll Firmen, den Vorschlag umzusetzen (allerdings heimlich, ohne die erwähnte fiskalische Voraussetzung zu erfüllen). Hier könnte - bei entsprechender Neuausrichtung einer Innovationspolitik - der moderne Staat mit einem einzigen Federstrich einen großen Schritt in den Aufbau einer Breitenkompetenz der Bürger tun. Im Sommer 1998 haben die schwedische und die niederländische Regierung verfügt, daß das Geschenk eines PC durch den Arbeitgeber an seine Arbeitnehmer nicht mehr als geldwerte Leistung versteuert werden muß.
  • Kulturelles Gedächtnis sichern: Da Informationen und Wissen zunehmend und oft ausschließlich in elektronischer Form vorliegen, kommt der langfristigen Speicher- und Archivierbarkeit wachsende Bedeutung zu. Dies ist notwendig, um auch in der Informations- und Wissensgesellschaft das "kulturelle Gedächtnis" der Gesellschaft und die Kontinuität des Wissens zu gewährleisten. Bibliotheken sind hier in Zusammenarbeit mit den Universitäten, Hochschulen und Fachhochschulen beim Aufbau "digitaler Archive" gefordert. Ebenso wie es bei Büchern, Zeitschriften und Aufsätzen Belegexemplare in den Bibliotheken gibt, sollten "digitale Belegexemplare" erstellt und für die Allgemeinheit zugänglich gemacht werden. So könnte die Deutsche Bibliothek in Frankfurt zusammen mit den Bibliotheken in den Bundesländern wichtige und bewahrenswerte deutschsprachige Informationsangebote katalogisieren, aktualisieren und archivieren. Für den wissenschaftlichen Bereich bestehen zur Pflege und Archivierung digitaler Informationen erste institutionelle Absicherungen, beispielsweise in Universitäten, Hoch- und Fachhochschulen und Fachinformationszentren (FIZ). Die erforderlichen Kapazitäten müssen jedoch erheblich ausgebaut werden.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

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