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4. CHANCEN UND RISIKEN

[Seite der Druckausgabe: 45]

Wir wollen, um im Politikerdeutsch zu reden, die Multimediawelt aktiv gestalten, ihre Chancen erkennen und mit ihren Risiken fertigwerden. Diese Studie versucht, an Hand von Beispielen anschaulich zu machen, worauf wir uns einzulassen haben.

Es gibt allerdings eine alte Erfahrungstatsache, die lautet, der Quotient aus Risiko und Chance ist immer konstant. Mit anderen Worten: Wer nicht bereit ist, Risiken auf sich zu nehmen, wird auch die Chancen nicht wahrnehmen, die in der Veränderung verborgen liegen.

Drei Themen werden in diesem Kapitel noch einmal durch diese Brille betrachtet, nämlich erstens das kaum auszuschöpfende Thema Strukturwandel der Arbeit, zu dem bereits unter dem Stichwort Informationssektor einige Bemerkungen gemacht worden sind, die hier etwas weiter ausgeführt werden sollen. Zum zweiten das Thema Ressourcenschonung, das ebenfalls bereits angesprochen wurde und in diesem Kapitel vertieft werden soll, so spekulativ das sein mag. Drittens noch einmal das Problem des Schutzes der Privatsphäre, für das es Datenschutzbeauftragte des Bundes und der Länder gibt, die allerdings, im Gegensatz zu Multimediaanwendungen, nicht grenzüberschreitend tätig werden können. Das Überspringen nationaler Grenzen und Rechtsräume ist vermutlich eines der spannendsten Probleme, die durch Multimedia eine neue Dimension erhalten.

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4.1. Strukturwandel der Arbeit

Wer über den Strukturwandel der Arbeit im Zusammenhang mit Multimediaanwendungen nachdenkt, kommt nicht an der Tatsache vorbei, daß solche Anwendungen bisher viel zu sporadisch und unbedeutend sind, um schon viel bewirkt zu haben. Die gewählten acht Beispiele im vorigen Kapitel deuten allerdings eine Entwicklung an, die zum Weiterdenken zwingt: Zum ersten könnten sich neue Multimediaapplikationen außerordentlich schnell ausbreiten (weil sie Kosten senken). Zum zweiten, und das ist nur die andere Seite der Medaille, sind sie fast durchweg mit Produktivitätssteigerungen erheblichen Ausmaßes verbunden (das PC-Fax oder gar die codierte Textübermittlung sparen Netzkapazität, Home Banking spart Bankangestellte, der Fahrtrainer spart Fahrlehrer etc.). Drittens werden die realen Produktivitätsgewinne systematisch unterschätzt, weil Substitutionseffekte schwer meßbar sind (Electronic Mail substituiert Leistungen der Gelben Post, Verkehrsleittechnik spart Straßenbaumaßnahmen und reduziert Verkehrsstaus, ein Produktivitätsfresser ersten Ranges).

Nun wäre es für die Beschäftigten ganz und gar kein Nachteil, sondern ein Vorteil, wenn sie mit weniger Arbeit mehr und umweltfreundlicher konsumieren, wenn weniger Investitionen zu mehr volkswirtschaftlicher Leistung führen.

Wenn allerdings umweltverträgliches Wachstum hinter den realen Produktivitätsgewinnen dauerhaft zurückbleibt und das verbleibende Arbeitsvolumen weiter ungerecht verteilt wird, so daß die einen gar nicht und die anderen eher mehr arbeiten müssen, begeben wir uns im Hinblick auf die soziale Kohäsion auf einen kritischen Pfad.

Zwingt uns der sich verschärfende internationale Wettbewerb einen solchen Pfad auf? Trägt die weltweite Vernetzung und Liberalisierung womöglich dazu bei? Wer sich an die Versprechungen des inzwischen schon fast wieder vergessenen Cecchini-Reports mit den zu erwartenden Millionen neuen Arbeitsplätzen als Folge des europäischen Zusammenwachsens erinnert und zugleich die auf eine Rekordhöhe von 11% gestiegene Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union betrachtet, sowie sich die Tatsache vor Augen hält, daß in der OECD, dem Klub der reichen Industrieländer, inzwischen mehr als 35 Millionen Menschen als Arbeitssuchende registriert sind, der muß zumindest beunruhigt sein, weil infolge einer bezogen auf die Produktivitätssteigerung anhaltenden Wachstumsschwäche eine Verschärfung der Arbeitslosigkeit offenbar wahrscheinlicher ist als eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung. Er muß umso beunruhigter sein, weil die Jugendarbeitarbeitslosigkeit in den OECD-Ländern inzwischen die 15%-Marke überschritten hat und sich der 20%-Marke nähert. Was für ein Potential wächst da heran? Findet Wachstum in Zukunft vor allem im öffentlichen und privaten Polizeidienst statt?

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Dr. Heimfried Wolff, Leiter des Bereichs Politik und Gesellschaft der Prognos AG bemerkt dazu [Fn.44: Arbeit im Informationszeitalter, BMBF/Prognos, 1994] :

„Doch die Multimedia-Vision selbst kann kaum Selbstzweck sein. Geht es um die Vollbeschäftigung und die Beschäftigungswünsche der Menschen, so muß Technik auch Sinn machen, sie muß zu einer Verbesserung unserer Lebensbedingungen beitragen." Er fährt dann fort: „Hier brauchen wir die Initiatoren im Sinne Schumpeters, die mit Phantasie und Durchhaltevermögen die Pfadfinder auf dem Weg in die Zukunft sein können. Dieses Management wird kaum ebenso arbeiten wie bisher."

Haben wir also die Pfadfinder bei uns im Land, die den kritischen Pfad zu vermeiden wissen, geben wir ihnen eine Chance? Können sie die Wege ins 21. Jahrhundert, die zur Vollbeschäftigung führen, finden? Haben wir die „Fähigkeit, rechtzeitig auf neue Bedürfnisse und mit neuen Produkten zu reagieren, die neues Beschäftigungspotential bergen", wie von der Europäischen Kommission gefordert? [Fn.45: Weißbuch "Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung", 1993]

Oder laufen wir womöglich einem Wohlfahrtstraum hinterher, der ausgeträumt ist?

Denn offenbar hat bisher keines der hochentwickelten Industrieländer der Welt eine überzeugende Antwort auf diese Fragen gefunden. Trotz oder wegen der fast unisono vorgetragenen Rezepte der modernen Volkswirtschaftslehre? Wenn sie sich wenigstens streiten würden angesichts der Misere der Massenarbeitslosigkeit. Überzeugende Antworten werden auch in dieser Studie nicht gegeben, vielmehr eher Hinweise darauf, daß solche Antworten noch dringlicher werden.

Sicher scheint zu sein, daß sich kein Industrieland vom Weg in das Multimediazeitalter abkoppeln kann, und fest steht ferner, daß neues Know-how Erfahrungswissen überspielt. Das mag den 400.000 arbeitslosen Wissenschaftlern und Ingenieuren in Deutschland zwar wie Hohn in den Ohren klingen. Es mag die erfahrenen Techniker, denen junge virtuos mit den neuen Instrumenten umgehende Spezialisten der Multimediawelt in den Unternehmen zu Leibe rücken, nicht freuen. Es gilt jedoch, die Flucht nach vorn anzutreten, die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen zu verstärken, um die Basis für neue Produkte und Dienstleistungen zu gewinnen.

Der Strukturwandel der Arbeit läßt sich an sechs Themen festmachen:

  • Teamarbeit wird gefördert (und führt zum Abbau von Hierarchien).
  • Heimarbeit (als Telearbeit) gewinnt an Bedeutung.
  • Fachliche Mobilität wird wichtiger als räumliche Mobilität.
  • Lebenslanges Lernen wird deshalb zur neuen Herausforderung an das öffentliche und private Bildungssystem.
  • Software und Know-how-Produktion bestimmen die Arbeitsplatzsicherheit.
  • Die Produktivität steigt nicht nur im industriellen Sektor, sondern auch im Informationssektor immer schneller an.

Von John F. Welch jr., dem Chairman von General Electric, stammt die treffende Zielformulierung modernen Managements: „to get that small Company soul - and small Company speed - inside our big Company body." Hierarchisch strukturierte Großunternehmen, wie sie noch von John Kenneth Galbraith in seinem berühmten Buch „The New Industrial State" als Zukunftsmodell beschrieben worden sind, kommen in Schwierigkeiten. Mehr Teamarbeit und weniger Bürokratie heißt zugleich auch mehr Eigenverantwortung. Mehr Eigenverantwortung will gelernt sein, zumal es nicht nur darum geht, Großunternehmen anders als bisher zu organisieren. Es geht vor allem darum, in dem Beziehungsgeflecht arbeitsteiliger Entwicklung, Produktion und Vertrieb, für das neuerdings gern der Begriff vom virtuellen Unternehmen benutzt wird, mit kleinen eigenverantwortlichen Unternehmen in einem internationalen Netzwerk zusammenzuarbeiten. Die Betonung liegt hier auf international, mit bisher noch nicht absehbaren Konsequenzen für die Wettbewerbsfähigkeit, zum Beispiel bei der Erstellung von Software.

Im Extremfall können diese Unternehmen, Niederlassungen oder Vertretungen von Unternehmen auch aus einer einzigen Person oder einer ganz kleinen Gruppe von Personen bestehen, die an multifunktionalen mobilen oder ortsfesten Terminals die Möglichkeiten von Telearbeit voll auszuschöpfen in der Lage sind, sei es in einer Weiterentwicklung des klassischen Handlungsreisenden, der nicht mehr Produkte, sondern Systemlösungen verkauft, sei es in einer neuen Form von Heimarbeit oder Telecot-

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tage ohne eigenen Arbeitsplatz im Unternehmen oder in einer gemischten Form der Telearbeit, wie sie in der Wissenschaft schon vielfach anzutreffen ist.

Dann wird immer weniger die räumliche Mobilität und immer mehr die fachliche Mobilität im Vordergrund stehen. Daraus ergeben sich übrigens nicht zuletzt Anforderungen an eine wachstumsorientierte intelligente Regulierung des Telekommunikationsmarktes, die regionale Disparitäten bekämpft, die Tarifeinheit im Raum möglichst aufrechterhält, ohne gleich den Wettbewerb preiszugeben. Davon soll im nächsten Kapitel, wo aktuelle Aufgaben des Staates behandelt werden, noch die Rede sein.

Wenn von lebenslangem Lernen die Rede ist, wird zugleich deutlich, welches Gewicht neue technisch gestützte multimediale Lerntechniken, trotz aller Skepsis der traditionellen Bildungsinstitutionen, gewinnen müssen, wenn diese Forderung bezahlbar bleiben soll.

Unser Industriebegriff, der Industrie als verarbeitendes Gewerbe abzüglich Handwerk definiert, ist hoffnungslos überholt. Und mit ihm die daran anknüpfenden Förderprogramme, die nicht an Investitionen in Know-how anknüpfen, sondern einseitig materielle Investitionen mit Investitionszulagen (steuerfrei und daher besonders attraktiv) und Investitionszuschüssen fördern.

Softwarehäuser sind ein wichtiger Teil der Industrie, aber eine Investitionszulage/ein Investitionszuschuß bleibt ihnen verschlossen. Diese bekommen sie nur, soweit sie in Hardware investieren. Es wird Zeit, daß der Bundeswirtschaftsminister endlich diesen alten Zopf abschneidet.

Wer sich schließlich mit der Frage auseinandersetzt, welche Berufe besonders zukunftsreich sind, wird den Gedanken nicht von der Hand weisen, daß Berufe mit geringem Rationalisierungspotential und hohem Bedarf in Zukunft besondere Chancen haben dürften, wenn es gelingt, die hochindustrialisierten Volkswirtschaften wieder auf einen kräftigen Wachstumskurs zu führen. Darüber wollen wir uns im letzten Kapitel noch einmal den Kopf zerbrechen, gewissermaßen als Pendant zur Multimedia-Euphorie.

Schließlich steht der Klub der reichen Länder (von dem zur Zeit rund l Milliarde Menschen profitieren) vor der Herausforderung, in dem vor uns liegenden Jahrzehnt weiteren 2 Milliarden Einlaß zu gewähren, auch wenn sie diesen nur unter Schwierigkeiten bekommen werden. Höheres Wachstum als Voraussetzung zur Rückkehr in die Vollbeschäftigung wird, nicht zuletzt aus diesem Grund, nur möglich und realistisch sein, wenn wir Arbeit und Kapital auf umweltverträgliches Wirtschaften konzentrieren.

Aber wie steht es dann mit dem Kostenwettbewerb, wenn wir diese Forderungen ernst zu nehmen beginnen, was zur Zeit noch nicht der Fall ist? Wieviel Umweltschutz können wir uns leisten, wenn die Märkte offener werden? Der Kostenwettbewerb, überspitzt formuliert, wird im internationalen Kontext durch die Wechselkurse definiert, unter der Voraussetzung, daß diese sich vorwiegend an den ökonomischen Fundamentals orientieren. Das ist allerdings nicht der Fall. Man könnte also getrost die Forderung nach einer intelligenteren Steuerung der internationalen Kapitalströme in diesen Kontext einbeziehen, damit die Wechselkurse die jeweilige Produktivität einer Volkswirtschaft korrekter widerspiegeln als das heute der Fall ist, ebenfalls ein Thema, vor dem die internationale Staatengemeinschaft bisher zurückschreckt.

Alle diese Betrachtungen zum Strukturwandel der Arbeit und die Chancen zur Rückkehr zur Vollbeschäftigung machen zumindest eines deutlich:

Ob in Deutschland die Chancen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze durch Multimediainnovationen überwiegen oder Produktivitätssteigerungen im Vordergrund stehen werden und damit zu steigender Arbeitslosigkeit führen, weil nur die Produktivitätssteigerung, aber nicht die Erschließung neuer Märkte in Deutschland stattfindet, wird durch die Innovationspolitik der nächsten Jahre ganz wesentlich mit bestimmt werden. Euphorische Prognosen über Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze in Deutschland durch Multimedia sind bisher reine Spekulation und vorläufig durch nichts begründet.

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4.2. Ressourcenschonung

Einige Formen der Ressourcenschonung durch Multimedia liegen auf der Hand und sind implizit oder explizit in den acht Applikationsbeispielen bereits illustriert worden.

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Seit vielen Jahren wird über die Substitution von Verkehr durch Kommunikation spekuliert. Multi-mediaapplikationen sind erstmalig in den Kosten interessant genug, um auf breiter Front solche Substitutionsprozesse in Gang zu setzen. Sie werden entscheidend zur Verkehrsvermeidung beitragen können. Der Verkehr ist bekanntlich einer der größten Umweltverschmutzer, alle Formen des Verkehrs, auch der gerühmte Öffentliche Nahverkehr. (Wer einen Bus sieht, der mit weniger als 8 Fahrgästen besetzt ist, darf sich vor Augen halten, daß dieser Bus die Umwelt stärker verschmutzt, als wenn seine Fahrgäste, jeder für sich, in einem kleinen Diesel-PKW säßen.) Deshalb ist Verkehrsvermeidung ein zentrales Thema der Umweltschonung.

Ganz entscheidend tragen zum Beispiel Verkehrsleittechnikkonzepte im Straßenverkehr zur Umweltschonung bei, denn die Vermeidung von Stop-und-Go-Verkehr bewirkt eine wesentliche Verminderung des Schadstoffausstoßes von Kraftfahrzeugen. Bei Kohlenwasserstoffen verdoppeln sich die Emissionen pro Kilometer Fahrleistung beim Übergang vom fließenden auf Stop-und-Go-Verkehr, und bei Kohlenmonoxid können sie sich sogar vervierfachen, ein Thema, das merkwürdigerweise von Umweltschützern, die dem Straßenverkehr kritisch gegenüberstehen, wenig diskutiert wird. Sie setzen noch viel zu sehr auf die heilsamen Wirkungen von Verkehrsstaus.

Weniger auf der Hand liegt, aber von ganz außerordenlicher Bedeutung ist (wir haben das bereits in einem früheren Kapitel diskutiert), daß eine optimierte multimediale Verkehrsleittechnik auf der Schiene deren Kapazität mindestens auf das Doppelte steigern kann. Theoretisch ist sogar eine Vervierfachung gegenüber dem heutigen Stand möglich, wenn auf der Schiene im Bremsabstand gefahren würde. [Fn.46: Prof. Kracke, Die Intelligente Bahn, März 1990] Erst dadurch wird eine wesentliche Verlagerung des Verkehrs auf die umweltfreundlichere Schiene von der verfügbaren Kapazität her denkbar, ein Multimediaservice mit weitreichendsten Folgen.

Einen weiteren Beitrag zur Umweltschonung liefern Fahrtrainer. Sie sind ganz offenbar ausgesprochen umweltfreundlich im Vergleich zu Fahrschulautos. Darüber muß nicht lange diskutiert werden. Deshalb gibt es in Japan ein Gesetz, daß Fahrtrainer für den Fahrschulunterricht verbindlich vorschreibt. Unsere Verkehrsminister sollten sich möglichst bald dieses Themas annehmen.

Die Steuerung von Heizung, Klima und Lüftung im Rahmen von Smart Building-Konzepten wird, schon weil die Heizung der zweitgrößte Umweltverschmutzer nach dem Verkehr darstellt, von ähnlicher Bedeutung sein wie die Verkehrssteuerung, oder diese sogar noch übertreffen. Jedenfalls gestatten multimediale Regelungsmechanismen dem Benutzer die Wahlfreiheit in dem Spannungsdreieck zwischen Ökologie, Ökonomie und Komfort.

Indirekt wirksam, trotzdem nicht weniger von Bedeutung ist, daß die durch Multimedia möglichen Produktivitätssteigerungen, die im vorherigen Abschnitt fast kritisch erörtert worden sind, die volkswirtschaftlichen Ressourcen freizusetzen vermögen, um ohne Einbußen im Wohlstandsniveau umweltverträgliches Wirtschaften (das zunächst die volkswirtschaftliche Produktivität eher zu belasten scheint) zu ermöglichen, eine Herausforderung, der sich die aktuelle deutsche und europäische Wirtschaftspolitik allerdings noch stellen muß.

Die Bilanz von Multimedia im Hinblick auf Ressourcenschonung und Umweltverträglichkeit ist uneingeschränkt positiv, wie das Beispiel der Substitution und effizienten Regelung von Verkehr deutlich werden läßt. Sie tragen zu einer effizienteren Nutzung von knappen Ressourcen bei und erhöhen zugleich die volkswirtschaftlichen Spielräume für umweltverträgliches Wachstum.

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4.3. Privatsphäre

Ob per saldo Multimedia zum Schutz der Privatsphäre, bei uns landläufig Datenschutz genannt, beitragen oder ihn eher gefährden, ist zumindest umstritten.

Einen Hinweis haben wir im Abschnitt über Verkehrsleittechnik im Zusammenhang mit der Frage der Einführung eines elektronischen Kennzeichens für Kraftfahrzeuge bereits erhalten. Zwar besteht inzwischen weitgehend Einigkeit, daß elektronische Maut nur durch elektronische Barzahlung erhoben werden darf, also mit einer Debitkarte. Es dürfen keine Datenbanken entstehen, die Aufschluß darüber geben, wo sich wer aufgehalten hat. Aber wenn Anhaltspunkte bestehen, daß Gebühren nicht ent-

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richtet wurden, müssen die Fahrer trotzdem vorübergehend erfaßt werden können. Wenn das technisch möglich ist, kann die Erfassung allerdings zum Beispiel auch für polizeiliche Zwecke genutzt werden. Und wer wollte sich dagegen stellen, wenn es darum geht, Verbrecher zu fangen? Wie gehen wir mit dem Problem um?

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz schreibt unter der Überschrift „Datenschutz auf dem Prüfstand" [Fn.47: 15. Tätigkeitsbericht 1993-1994] : „Datenautobahn und Multimedia sind Stichworte, die auf bahnbrechende Techni-kinnovationen in der nahen Zukunft hinweisen . Durch diese Umwälzungen sind neue, besondere Auswirkungen auch beim Persönlichkeitsrecht der Bürgerinnen und Bürger zu erwarten. In einer völlig neuen Dimension werden z.B. Unternehmen Kundendaten sammeln und zu Kundenprofilen verarbeiten." Und er fährt mit dem Aufruf zu einer energischen Diskussion in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft fort: „Außer Frage für mich steht, daß sich der Datenschutz nicht gegen diese Entwicklungen stellen darf und die neue Kommunikationstechnik schneller kommen wird als von manchen erwartet."

Was haben wir also zu erwarten?

Zunächst einmal nicht mehr nationale, sondern zumindest europäische Lösungen des Problems. Die Unterschiede von Land zu Land innerhalb der Europäischen Union sind bemerkenswert. Während in Deutschland etwa die Registrierung von Telekommunikationsverbindungen auf der Telekomrechnung als datenschutzrechtlich außerordentlich bedenklich gelten und ein Einzelverbindungsnachweis erst seit kurzem möglich ist (und dann noch mit der Einschränkung, daß die letzten drei Ziffern unkenntlich sind), nutzen unsere Nachbarn in Frankreich ganz ungehemmt die Tatsache, daß sie mit ihrer Telefonrechnung eine vollständige Liste aller zustandegekommenen Telekommunikationsverbindungen zugeschickt bekommen und auf diese Weise überprüfen können, ob die Rechnung möglicherweise Positionen enthält, die ungerechtfertigt sind.

Niemand wird bestreiten, daß eine multimedial vernetzte Gesellschaft einem potentiellen „Großen Bruder" ganz außerordentliche Möglichkeiten der Kontrolle des Privatlebens gibt und bei steigender Kriminalität auch die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger steigen mag, solche Überwachungsmechanismen hinzunehmen, um ihrer persönlichen Sicherheit willen, vor allem dann, wenn die sozialen Spannungen als Folge wachsender Arbeitslosigkeit größer werden.

Dieser Zwiespalt wird schon in der Geschichte der Datenschutzgesetzgebung deutlich. James D. Gal-lagher, ein amerikanischer Kongreßabgeordneter, der vor einem Vierteljahrhundert die Forderung nach „Protection of Privacy", nach effizientem Persönlichkeitsschutz im aufkommenden Computerzeitalter, als erster erhoben und popularisiert hatte, wurde einige Jahre später wegen enger Verbindungen zur Mafia angeklagt. Seine Forderung hat sich zu unserem Glück gleichwohl durchgesetzt, und die OECD hat in diesem Prozeß große Verdienste erworben, als sie sich dieses Thema auf ihre Fahnen schrieb.

Ein aktuelles Beispiel: Wenn Krankheitsbilder und Erbanlagen nicht hinreichend geschützt vor Mißbrauch auf Chipkarten und in Computern gespeichert werden mit immer weitergehenden und aufschlußreichen Informationen (Bild und Ton), zunächst einmal um die Patienten besser zu versorgen, dann aber auch, um zum Beispiel Arbeitgeber vor dem Abschluß eines Arbeitsvertrages womöglich mit Informationen zu versorgen, deren Verweigerung bereits Mißtrauen auslöst, dann ist eine Dimension erreicht, in der die Privatsphäre akut gefährdet ist. Deshalb weist der Bundesdatenschutzbeauftragte in seinem letzten Bericht ganz zu Recht auf die Gefahren hin, die sich daraus ergeben können, daß die Gesundheitsdaten auf einer Chipkarte im Besitz des Inhabers nicht der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen und der Arbeitnehmerdatenschutz im Zusammenhang mit der Speicherung von Patientendaten noch nicht ausreichend geregelt ist.

Die Informationstechnik im Multimediazeitalter läßt Informationen der vielfältigsten Art allerdings nicht nur ungehemmter und kostengünstiger fließen. Sie eröffnet auch neue wirtschaftliche Lösungen, um den Zugang zu diesen Informationen zu verbarrikadieren. Die Geheimdienste empfinden es beispielsweise schon als Ärgernis, daß die digitalen Mobilfunknetze aus technischen Gründen ein Abhören unmöglich machen und fordern den Einbau entsprechender Möglichkeiten, um ihren Aufgaben nachgehen zu können. Gleichzeitig ist es in Deutschland aber keineswegs strafbar (im Gegensatz bei-

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spielsweise zu Frankreich), sein Telefon und das seines Partners mit einer Verschlüsselungseinrichtung zu versehen, die heute billig zu haben, schwer zu knacken und einfach zu installieren ist. James D. Gallagher läßt grüßen.

Der Schutz der Privatsphäre muß als ständige Aufgabe betrachtet und durch geeignete rechtliche Rahmenbedingungen und technische Lösungen gewährleistet werden. Das ist bisher im Großen und Ganzen gelungen, aber der technische Fortschritt stellt uns vor immer neue Herausforderungen, und deshalb ist es gut, wenn auf europäischer, nationaler und Landesebene diese Aufgabe ernst genommen wird. Die Technik liefert aber nicht nur die Probleme, sondern auch die Lösungen.

Der „Gläserne Mensch" wird im Multimediazeitalter nicht nur technisch möglich, sondern auch wirtschaftlich realisierbar. Gleichzeitig entstehen zur Bekämpfung unerwünschter Transparenz immer ausgefeiltere Techniken, die den fremden Zugriff auf geschützte Informationen wirkungsvoll vereiteln. Eine europäisch geprägte Datenschutzstrategie ist notwendig, welche die Risikopotentiale erkennt und den technischen Fortschritt zur Problemlösung nutzt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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