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2. NEUE CHANCEN DURCH MULTIMEDIA?

[Seite der Druckausgabe: 27]

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2.1. Der Informationssektor

Der volkswirtschaftliche Hintergrund, vor dem sich die Multimediadienstleistungen entwickeln, ist durch einen säkularen Wandel in der Struktur der Beschäftigung charakterisiert. Darüber ist in den letzten Jahren, angestoßen von der OECD, viel diskutiert worden.

So wie die Steigerung der Produktivität in der Landwirtschaft, beginnend vor mehr als einem Jahrhundert, den Anteil der in diesem Sektor Beschäftigten dramatisch zurückführte, so daß heute in den hochindustrialisierten Ländern weniger als fünf Prozent der Gesamtbeschäftigung auf diesen Sektor entfällt, zeichnet sich nun eine ähnliche Tendenz in der industriellen Produktion ab. Seit den sechziger Jahren nimmt der Anteil der in der Industrie Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung bekanntlich kontinuierlich ab, während der Anteil der im Dienstleistungssektor Beschäftigten immer weiter zunimmt.

Ein junger amerikanischer Wissenschaftler, Marc Porat [Fn.26: heute bei General Magic] , hatte Ende der siebziger Jahre die Idee, den Dienstleistungssektor, aber auch den industriellen Sektor auf Tätigkeitsmerkmale der Beschäftigten zu untersuchen, um in Zeitreihen die Veränderungsdynamik besser verstehen zu können. Dabei kam er zu einem in der Größenordnung für ihn und andere einigermaßen überraschenden Ergebnis: Die Zahl der Menschen, deren Haupttätigkeit darin besteht, Informationen zu erzeugen, zu verarbeiten, zu übermitteln und zu empfangen, wächst seit einigen Jahrzehnten drastisch an. Mit diesem Befund konnte er das in den offiziellen Statistiken beobachtete Beschäftigtenwachstum des Dienstleistungssektors besser erklären als allein mit der Zunahme von Fast Food, Gesundheitsfürsorge und ähnlichen Dienstleistungen. Zugleich hat der Anteil der nur mit Informationstätigkeiten Beschäftigten auch im sogenannten industriellen Sektor kräftig zugenommen.

Marc Porat erkannte, daß durch das zunehmende Outsourcing von Informationstätigkeiten aus Industrieunternehmen die Unterscheidung von Informationsdienstleistungen im Dienstleistungssektor und im industriellen Sektor eher willkürlich ist, und suchte nun, quer zu den drei klassischen Sektoren Landwirtschaft, Verarbeitendes Gewerbe und Dienstleistungen, den Anteil der überwiegend mit Information Beschäftigten herauszufiltern. Ferner zählte er dazu noch die informationstechnische Industrie, also die mit der Herstellung von Computern, Software, Fernsehmonitoren etc. Beschäftigten. Eine mutige Kombination quer zur klassischen Statistik.

Eine Arbeitsgruppe in der OECD übernahm seine Definition und stellte fest, daß sich seit 1960 in den hochindustrialisierten Ländern der Anteil der im so definierten Informationssektor Beschäftigten bis heute mehr als verdreifacht hat und inzwischen mehr als die Hälfte der Gesamtbeschäftigung ausmacht. Man kann es auch ungenauer und dafür um so plastischer ausdrücken: Die Welt ist komplizierter geworden, und daher nimmt die private und öffentliche Bürokratie immer weiter zu.

Ein entscheidender Grund für Verschiebungen in der Beschäftigtenstruktur war und ist zunächst einmal die anhaltende Produktivitätssteigerung in der Herstellung von landwirtschaftlichen und industriellen Gütern bei anhaltendem Wirtschaftswachstum. Mit immer weniger Menschen können immer mehr Produkte produziert werden. Ein weiterer Grund sind zweifellos das weltweit zu beobachtende und oft beklagte Wachstum staatlicher Aufgaben, die Ausdehnung des Bildungsbereichs und die immer komplizierter werdende staatliche Verwaltung. Und ein dritter Grund ist die zunehmende Komplexität wirtschaftlichen Handelns in einer weltweit zusammenwachsenden arbeitsteiligen Wirtschaft als Folge der Liberalisierung der Märkte.

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2.2. Produktivität im Informationssektor

Der Informationssektor hat seinen Anteil an der Gesamtbeschäftigung in den letzten Jahrzehnten dramatisch erhöht, aber können wir sicher sein, daß dieser Trend auch in Zukunft noch anhält? Inzwischen ist der Informationssektor selbst Gegenstand massiver Produktivitätssteigerungen geworden.

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Ausgerechnet die Technik mit der größten Veränderungsgeschwindigkeit rückt dem Informationssektor zu Leibe.

Als ein Beispiel mag der Bankenbereich gelten, ein wichtiger Teil des Informationssektors, denn Banken handeln im Grunde nur mit Informationen in einer besonders strukturierten Weise. Bereits die Automatisierung des Zahlungsverkehrs hatte wesentliche Produktivitätssteigerungen bei Banken und Sparkassen ermöglicht, ohne die der bargeldlose Zahlungsverkehr schon aus wirtschaftlichen Gründen gar nicht darstellbar gewesen wäre. Es gibt ernstzunehmende Schätzungen, daß vor allem durch Home Banking, ob man dies nun zu den Multimediadienstleistungen im engeren Sinn rechnen will oder nicht, ferner durch eine effizientere Vernetzung im Zahlungsverkehr eine Produktivitätssteigerung möglich ist, die es gestatten wird, ein Drittel der Beschäftigten im Bankenbereich einzusparen. Keine Bank wird sich diesem Produktivitätsfortschritt auf Dauer ungestraft entziehen, auch wenn der Aufwand bei der Umstellung und Anpassung ihrer Datenverarbeitungssysteme zunächst einmal gigantisch ist.

Ähnlich wie der industrielle Sektor nicht im Output, sondern nur in der Zahl der Beschäftigten zurückgeht, weil die Produktivität zunimmt und die Automation die Werkhallen leert, werden nun auch Teile des Informationssektors von einer Welle der Produktivitätssteigerung erfaßt, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Steigerung des Outputs nicht mehr ausreicht, um die Steigerung der Produktivität im Hinblick auf die Beschäftigung zu kompensieren.

Oder anders herum formuliert: Mehr und mehr erkennen die Unternehmen, aber auch der Staat, daß die wichtigsten Produktivitätsreserven durch Rationalisierung von Informationsabläufen und den Einsatz moderner Informationstechnologien erschlossen werden können. Multimediaapplikationen werden dabei eine wichtige Rolle spielen. Sie schaffen und vernichten Arbeitsplätze. Über ihre Rationalisierungswirkung sollten wir uns keinen Illusionen hingeben. Trotzdem wäre es verheerend, wenn die alte bereits begrabene Jobkillerdiskussion unter neuem Vorzeichen wieder auferstünde.

Es gehört allerdings keinerlei prophetische Gabe dazu, vorauszusagen, daß die Jobkillerdiskussion wieder auferstehen wird, wenn dauerhaft die Konsumnachfrage, sprich die privat verfügbaren Einkommen, mit den Produktivitätssteigerungen nicht mehr Schritt halten, wenn verzerrte Wechselkurse Investitionen in Deutschland unwirtschaftlich machen, weil sie die relativen (nicht die absoluten) Lohnkosten zu hoch werden lassen. Aber das ist ein weites Feld, das unsere Volkswirtschaftslehrer und Bundesbankstrategen bisher nur ungern beackert haben, wohl zum Schaden für uns alle.

Jedenfalls mag die Prognose nicht abwegig sein, daß in Zukunft klassische personalintensive Dienstleistungsbereiche, in denen die Informationstechnik nur begrenzt oder gar nicht zur Rationalisierung beiträgt, als einzige einen deutlichen Anstieg ihres Anteils an der Gesamtbeschäftigung verzeichnen werden, zum Beispiel ordentliche Restaurants mit guter Küche und frischen Zutaten (kein Fast Food, über Computer zu bestellen und am Computer zu verspeisen). Auf diesen nicht unangenehmen Punkt soll am Ende der Studie unter einem anderen Gesichtspunkt, der Veränderung der Struktur des Konsums von Gütern und Dienstleistungen, noch einmal kurz eingegangen werden. Wir stehen insofern womöglich am Beginn der postinformationellen Gesellschaft.

Wachstum in der Zahl der Beschäftigten ist natürlich nicht mit dem realen Wachstum der Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu verwechseln.

Tatsächlich käme man bei einer Berechnung des Wachstums des Bruttosozialprodukts in Preisen von 1970 zu dem paradoxen Ergebnis, daß Computer im Jahr 1995 mehr als 50 Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachen. Derart dramatisch ist der Preisverfall in diesem Marktsegment. Und auch die realen Wachstumsraten müßten im Grunde wesentlich höher angesetzt werden als die offizielle Statistik es wahrhaben will, die bei Computern nominales und reales Wachstum nahezu gleichsetzt.

Eine ähnliche wenn auch nicht ganz so spektakuläre Tendenz ergäbe sich vermutlich, wollte man beispielsweise das reale Wachstum bei Electronic Mail für die nächsten zwanzig Jahre schätzen oder den realen volkswirtschaftlichen Beitrag von Multimediadienstleistungen, die heute erst im Keim und zu prohibitiven Kosten existieren. Auch hier ist mit einem Preisverfall um mehrere Größenordnungen zu rechnen, und ISDN wird daran wesentlichen Anteil haben, ganz zu schweigen von den optischen Breitbandnetzen der ferneren Zukunft.

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Diese Gedankenexperimente zum realen Wachstum haben nur den einen Sinn: deutlich zu machen, daß der klassische Wachstumsbegriff der offiziellen Statistik den im Zeitalter der Informationstechnik stattfindenden Strukturwandel nur unvollkommen abbildet. Der volkswirtschaftliche Beitrag der Informationstechnologien und Informationsdienstleistungen wird systematisch unterschätzt. Erst im Lichte dieser Gedankenexperimente wird deutlich, welche strukturverändernden Wirkungen von Multimediadiensten im ISDN-Zeitalter in den nächsten zehn Jahren erwartet werden können. Unser Beispiel CD-ROM versus Buch am Anfang dieser Studie war dafür nur ein erstes Signal.

Produktivitätssteigerungen ermöglichen Wachstum und damit Wohlfahrtsteigerungen und setzen zugleich Ressourcen für sustainable development, für die erwünschte nachhaltige Entwicklung, frei (wenn die Rahmenbedingungen stimmen). Aber es ist natürlich auch wahr: Ohne Wachstum (und ohne Arbeitszeitverkürzung) ist eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit unvermeidlich. Dieser einfache Gedanke galt in der Vergangenheit und wird gewiß auch im Zeitalter von ISDN und Multimedia Geltung behalten.

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2.3. Großunternehmen und junge Wachstumsfirmen

Wir wollen in den neuen Märkten präsent sein, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Müssen wir dabei nicht vor allem auf Synergien zwischen Großunternehmen und jungen Wachstumsfirmen setzen? Ohne Zweifel! Sind wir darauf vorbereitet?

Die Herstellung von Mikroprozessoren ist inzwischen zu einer Domäne großer kapitalkräftiger Unternehmen geworden. Begonnen hatte es bekanntlich ganz anders. Am Anfang standen die Kleinen, die heute die Großen sind, soweit sie überlebt haben. Diese Dominanz wird sich eher noch verstärken, weil eine Fabrik für Mikroprozessoren und Speicherchips bereits heute einen Kapitaleinsatz in Milliardenhöhe erfordert und die Tendenz nach wie vor nach oben weist. Die Folge sind oligopolistische Strukturen. Im Grunde sind es nur noch zwei, allenfalls drei Unternehmen, die sich den Weltmarkt für Mikroprozessoren streitig machen. Da werden wir in Europa wenig Chancen haben. Genauer, wir haben vor zwanzig Jahren, vielleicht noch vor zehn Jahren unsere Chance verpaßt, sieht man einmal von dem relativen Erfolg des vor zehn Jahren gestarteten Megaprojekts des Forschungsministeriums ab, mit dem wenigstens der technische Anschluß an die weltweite Mikroelektronikelite geschafft wurde.

Auch im Softwaremarkt hat ein enormer Konzentrationsprozeß stattgefunden, und der Markt für Betriebssoftware von Personal Computern hat inzwischen deutlich oligopolistische, wenn nicht monopolistische Züge, in dem selbst die mächtige IBM zweiter Sieger blieb. Er ist allerdings wesentlich ausdifferenzierter als der Mikroprozessormarkt und erhält durch die Vertriebschancen über weltweite Netze eine zusätzliche Dynamik. Auf diesen Markt der Software sollten wir verstärkt setzen, indem wir besonders benutzerfreundliche Softwarepakete in den Markt bringen und neue Multimediadienstleistungen gezielt fördern. Von dem Rummel um Windows 95 sollten wir uns nicht täuschen lassen. Eher schon „Bob" vom gleichen Hersteller unsere Aufmerksamkeit zuwenden, wenn es um Massenanwendungen an der Schnittstelle zwischen dem geschäftlichen und privaten Bereich geht. Ob die Walt-Disney-Orientierung von Bob im europäischen Markt verkaufshemmend wirkt, ist eine Frage, die Marketingspezialisten behandeln sollten. Jedenfalls hätten Europäer hier noch eine Chance, wenn sie den Kundennutzen für Multimediaapplikationen konsequent in den Vordergrund ihrer Softwareentwicklung stellten. Die Förderung kann dabei allenfalls Grundlagen schaffen und bewirkt nichts, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen.

Eine Tatsache muß in diesem Zusammenhang besonders in Erinnerung gerufen werden, weil sie in Deutschland immer wieder verdrängt wird: Weder die Kapitalkraft noch die Marktmacht etablierter Unternehmen hat jungen Wachstumsfirmen in neuen informationstechnisch geprägten Märkten in der Vergangenheit erfolgreich widerstehen können. Die Marktführer bei Mikroprozessoren und Software sind relativ junge Firmen, die mit Risikokapital gegründet wurden und einen enormen Wachstumsprozeß durchgestanden haben. Aus jungen Wachstumsfirmen sind inzwischen Großunternehmen geworden. Es spricht viel dafür, daß in der nahen Zukunft der Multimediamarkt ein solcher neuer Markt werden und sich die beschriebene Entwicklung wiederholen könnte.

Ist also die europäische Industrie inzwischen besser darauf vorbereitet? Haben wir jetzt die Strukturen geschaffen, die es jungen Wachstumsfirmen ermög-

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lichen, in neuen Märkten (und Multimedia sind ein solcher neuer Markt) innerhalb von wenigen Jahren weltweite Marktführerschaft zu erringen? Die Antwort ist bekannt und muß nachdenklich stimmen. Sie lautet: Nein!

Europa hält im Grunde im internationalen Wettbewerb der Informationstechnik und ihrer Dienstleistungen nur noch in der Nachrichtentechnik und in ihren Netzen eine starke Position aufrecht und hat sich dabei in der Vergangenheit auf die enge Symbiose von Herstellern mit nationalen Telefonunternehmen abstützen können. Doch diese Symbiose ist inzwischen brüchig geworden.

Es ist zu erwarten, daß der auf Kommunikationsnetzen aufsetzende Multimediamarkt ähnlichen Gesetzen gehorchen wird wie in der Vergangenheit die Märkte der Mikroelektronik und der Softwareprodukte. Neue Wettbewerber tauchen auf und beginnen, neue Marktsegmente auszufüllen, die von Großunternehmen nicht schnell genug besetzt werden können.

Doch es gibt, wenigstens in den nächsten Jahren, einen Unterschied zur Mikroelektronik und PC-Software, einen Unterschied, der als Chance für Europa begriffen werden kann. Darauf haben wir schon hingewiesen. Netzgebundene Multimediaprodukte und Dienstleistungen werden durch die im Heimmarkt zur Verfügung stehende Netzinfrastruktur entscheidend gefördert (oder behindert), wenn nur der Heimmarkt genügend groß ist. Und auch diesem Gesetz wird sich niemand entziehen können.

Damit junge europäische Unternehmen ihre Chancen in diesem weltweiten Wettlauf wahrnehmen können, sind neben der Weiterentwicklung der Netze, auf denen sie mit ihren kreativen Ideen für Endgeräte, Software und Multimediadiensten aufsetzen, die Herausbildung neuer Finanzierungsinstrumente (Börse und Venture Capital) und die Gewöhnung an internationale Vertriebsstrukturen über weltweite Netze für junge Technologieunternehmen von entscheidender Bedeutung. Selbst Kleinunternehmen können dadurch zu Global Playern werden.

Eine Symbiose zwischen großen Herstellern nachrichtentechnischer Systeme und über nationale Grenzen hinaus sich entwickelnden Netzbetreibern auf der einen Seite und jungen Wachstumsfirmen, die neue Systeme, Dienstleistungen und Applikationen in den Markt bringen, auf der anderen Seite, eine solche Symbiose könnte sich entwickeln. Allerdings nur dann, wenn es gelingt, die vorhandenen Barrieren für junge Wachstumsfirmen in Europa endlich abzuräumen. Was ist zu tun?

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2.4. Barrieren für junge Wachstumsfirmen

Warum gelingt es in Deutschland nicht, wie vor mehr als einem Jahrhundert in der Gründerzeit (und, zwar weniger spektakulär, aber gleichwohl mit Erfolg in der Nachkriegszeit), daß junge Unternehmen innerhalb von ein bis zwei Jahrzehnten zu Weltfirmen werden und neue Märkte erfolgreich besetzen? Es liegt wohl weniger an einer technischen Rückständigkeit in Deutschland, obwohl auch das angesichts der massiven relativen Kürzung in staatlichen und privaten Forschungsetats in absehbarer Zeit eine Rolle spielen wird. Es liegt schon gar nicht an den vielbeschworenen hohen Lohnkosten. Eine ausführliche Darstellung der Gründe enthält das Buch „Das dritte Wirtschaftswunder - Aufbruch in eine neue Gründerzeit". [Fn.27: von Peter Glotz und Uwe Thomas, ECON-Verlag, 1994]

Zwei Gründe von vielen, die in dem genannten Buch ausführlich behandelt werden, sollen herausgegriffen werden.

Zum einen, wer wollte das bestreiten, ist die Eroberung neuer Märkte durch junge Unternehmen mit hohem Risiko verbunden, und das wird auch für Multimedia nicht anders sein. Die Wahrscheinlichkeit für Unternehmensgründungen, daß sie scheitern, wird nach aller Erfahrung bei mehr als 50 Prozent anzusiedeln sein, selbst wenn es sich um technisch hervorragende Entwicklungen handelt, weil sie die Kunden nicht oder nicht in ausreichendem Umfang erreicht haben oder weil ihr Finanzierungsmodell im entscheidenden Moment zusammenbricht.

Können wir es uns wirklich leisten, daß ein Scheitern immer noch mit dem Verlust der bürgerlichen Existenz verbunden sein kann, daß begabten Leuten, die bei dem Versuch scheitern, eine neue Chance in der Regel verwehrt ist? Genau das tut das deutsche Insolvenzrecht, auch wenn es vor kurzem unter nachhaltiger Mitwirkung der Banken reformiert worden ist und ab 1997 gewisse Verbesserungen bringt. Doch selbst nach der Reform werden Fir-

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mengründer, die scheitern, in der Regel längere Zeit auf einem Schuldenberg sitzen bleiben, der es ihnen in den Folgejahren unmöglich macht, einen zweiten Versuch zu wagen. Wir sollten uns deshalb entschließen, in Deutschland das Insolvenzrecht erneut zu diskutieren und den amerikanischen Standards anzunähern.

Zum zweiten ist es praktisch unmöglich, ein schnelles Wachstum, das deutlich über 20 Prozent/Jahr liegen muß, um in einem schnellebigen Markt wie Multimedia die zur Rentabilität notwendige starke Marktposition genügend schnell zu besetzen, aus dem Cash Flow zu finanzieren. Eigenkapitalzufuhr ist überlebenswichtig. Dafür fehlt in Deutschland trotz einiger Verbesserungen in den letzten Jahren nach wie vor die entsprechende Finanzierungskultur. Unsere von Banken-Bürokratien geprägte Finanzierungskultur reicht nicht mehr aus.

Ein inzwischen außerordentlich erfolgreiches amerikanisches Multimediaunternehmen [Fn.28: Dataware Technologies] , das Software für den Zugriff auf Informationen entwickelt hat, die auf CD-ROMs gespeichert sind, versuchte es zunächst in München, hatte aber keine Chance, das notwendige Eigenkapital einzusammeln, um sein Wachstum zu finanzieren. Erst die Umsiedlung nach Boston brachte den gewünschten Erfolg. Dort gab es Venture Capital-Finanziers, die genügend Sachverstand besaßen, um das Potential des Unternehmens zu erkennen. Folgerichtig ging das Unternehmen 1993 (in Amerika) an die Börse, und die amerikanischen Investoren begannen, ordentlich Geld zu verdienen.

Kritiker des deutschen Steuerrechts beanstanden zum Beispiel mit Recht, daß Risikokapital in Deutschland diskriminiert wird, wenn es nicht für Immobilien, sondern für junge Industrieunternehmen eingesetzt wird. Von manchen Fachleuten wird die Gegenthese vertreten, daß Risikokapital in Deutschland doch in Form von Krediten bereitgestellt werde. Nun ist erfolgreiches Risikokapital aber gerade dadurch gekennnzeichnet, daß einem hohen Risiko im Erfolgsfall auch eine hohe Chance gegenübersteht. Dafür sind Kredite schon ihrer Natur nach nicht geeignet, weil zwar bei ihnen die Risiken nicht begrenzt sind, dafür aber die Chancen. Deshalb mag es vielleicht verständlich sein, wenn große Banken, die durch risikoreiche Spekulationen in Immobilien viel Geld verloren haben, ihre Filialen anweisen, nun auch bei zukunftsträchtigen jungen Industrieunternehmen und Softwarehäusern in der Kreditvergabe extrem vorsichtig zu agieren, so bedauerlich das ist. Kurzsichtig ist es auf jeden Fall.

Es wird Zeit, daß unsere Finanzintermediäre verstehen lernen, warum Eigenkapital immer wichtiger wird, daß Eigenkapital der Schlüssel ist, um bei Beendigung des Engagements im Erfolgsfall hohe Gewinne einzustreichen und damit die schlechten Risiken auszugleichen. Und deshalb ist es ganz falsch, wenn unser Finanzminister beispielsweise Veräußerungsgewinne von institutionellen Kapitalanlegern in jungen Wachstumsfirmen in Deutschland und damit den Einsatz von Risikokapital extrem hoch besteuert.

Man wird jedoch nicht nur die steuerlichen Rahmenbedingungen dafür verantwortlich machen können, wenn Kapital in interessante Technologieunternehmen nur kümmerlich hineintröpfelt. Vor allem fehlt es bei unseren Finanzintermediären ebenso wie im deutschen Börsenumfeld am notwendigen Wissen, um Risiken und Chancen junger Technologieunternehmen realistisch einschätzen zu können.

Eine Finanzierungskultur, die in eine neue Gründerzeit hineinführt, ist deshalb nicht allein ein Problem der äußeren Rahmenbedingungen, etwa der steuerlichen Konditionen für Investoren und Unternehmen, so wichtig und dringlich hier eine Änderung wäre. Es handelt sich vor allem um einen Lernprozeß in einer anderen Art Unternehmensfinanzierung, der in Gang kommen muß, und wie bei jedem Lernprozeß steht am Anfang die Erkenntnis, daß er notwendig ist. Diese Erkenntnis ist im deutschen Kapitalmarkt noch nicht weit genug verbreitet. Es steht zu befürchten, daß ohne diese Erkenntnis die Chancen im Multimediamarkt erneut vertan werden, so günstig hier die äußeren Voraussetzungen gestaltet werden könnten.

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2.5. Die Benutzerschnittstelle im Wettbewerb

Für Multimedia war und ist die Kreativität junger Wachstumsfirmen von entscheidendem Gewicht, vor allem wenn sie im Multimediamarkt in eine Symbiose mit großen weltweit tätigen Netzbetreibern hineinwachsen können.

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Kreativität ist gefragt. Wer sich heute entschließt, einen Personal Computer zu kaufen und in Betrieb zu nehmen, wer die zahlreichen Anwendungsprogramme, die inzwischen erhältlich sind, nutzen möchte, wird zunächst einmal nicht vor seinem Computer sitzen, sondern vor dicken Büchern, die Bedienungsanleitungen enthalten, oder er wird in Gefahr geraten, seinen Computer nur noch als bessere Schreibmaschine zu benutzen.

Gutenberg läßt grüßen. In diesen gedruckten Bedienungsanleitungen steht, was man alles mit dem neuen Gerät anfangen könnte, nicht kann. Das ist nur für begeisterte Technikfreaks kein besonderes Problem. Für sie ist es vielmehr eine Herausforderung, die gern angenommen und mit hohem Zeitaufwand bezahlt wird.

Im Grunde teilt der Personal Computer die Menschen in drei Kategorien ein.

Die erste Kategorie sind die Professionellen, kein Problem, über das lange diskutiert werden müßte.

Zur zweiten Kategorie gehören junge Menschen mit viel Zeit und mit Lust, diese Zeit am Computer bzw. beim Studium von Handbüchern zu verbringen. Sie werden schnell in die erste Kategorie überwechseln.

Die dritte, mit Abstand am dichtesten besetzte Kategorie sind Menschen mit wenig Zeit. Diese Kategorie Menschen zerfällt in zwei Unterkategorien. Erstens die Klugen, die das System sofort durchschauen und zum Beispiel auf Anhieb begreifen, daß sie nicht auf einen Online-Dienst zugreifen können, wenn sie ihren Fax-Server im Autostart plaziert haben und ihn dann nicht rechtzeitig schließen. Der Computer verrät es ihnen jedenfalls nicht, was sie für eine Dummheit gemacht haben. Die zweite Kategorie sind die zahlreichen von Natur aus Dummen (hier gar nicht pejorativ gemeint), dazu gehören angeblich sogar Professoren und Vorstandsvorsitzende, die außerordentlich eloquent über Multimedia zu referieren wissen. Sie bilden die dumme Majorität. Die dumme Majorität läßt entweder die Finger vom PC oder die Benutzungsschnittstelle ändert sich radikal.

Für den Normalverbraucher im geschäftlichen wie im privaten Bereich gilt, daß Zeit Geld kostet. Die Vielfalt der Herausforderungen und die geschickte computerunterstützte Navigation, um den zahlreichen Klippen der Anwendungsprogramme zu entgehen, stellen heute immer noch ein ungelöstes Problem dar, trotz aller Fortschritte, etwa beim neuen Softwarepaket des Marktführers, das im Grunde alte Ideen von Apple wieder aufgreift, die Apple wiederum bei PARC [Fn.29: Palo Alto Research Center von XEROX] abgekupfert hatte.

Das Prinzip „plug and work" ist beim Personal Computer noch weit von seiner Verwirklichung entfernt. Deshalb sprechen Hersteller gern von „plug and play". Die Hoffnung, daß mit den in der Software bereits eingebauten Helpfunktionen eine einfache Orientierung oder ein schneller Lernprozeß möglich wäre, trügt leider in der täglichen Praxis immer noch. Ohne Anleitung durch dicke Nachschlagewerke geht es in der Regel nicht, und schon der ganz ungeübte Neuling wunderte sich, wenn ihn sein neuer Computer mit der aufschlußreichen Mitteilung C:\>_ empfing und ungeduldig zu blinken begann.

Wenn es gelänge, kundenorientiert den PC als multifunktionales Endgerät auch für den ungeübten Benutzer so weiterzuentwickeln, daß dieser sich nicht sonderlich anstrengen muß, um mit der Technik fertigzuwerden, wäre eine entscheidende Hürde für zahlreiche Dienstleistungen genommen. Dazu ist ein ganzheitlicher Ansatz notwendig, der Hardware, Software und darauf aufsetzende Dienste einbezieht.

Erst wenn multifunktionale Endgeräte so einfach in der Installation und Bedienung sind wie gewöhnliche Telefone oder Fernsehgeräte (weil die Benutzer nur zwei Stecker einstecken und einen gut sichtbaren Einschaltknopf zu drücken haben und dann durch eine intelligente Benutzerführung ohne Zeitverlust die Leistungsfähigkeit des PCs als multifunktionales Endgerät nutzen), wird das Wachstumspotential der Multimediadienste ausgeschöpft werden können.

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2.6. Wettbewerb um die Benutzer

Unter dieser Überschrift liegt eine Abschweifung zur internationalen strategischen Orientierung der Deutschen Telekom als dem dominierenden deutschen Player im internationalen Markt der Telekommunikation nahe.

Die Deutsche Telekom hat sich gemeinsam mit France Telecom zu einem Engagement in den USA

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entschlossen (eine hervorragende Entscheidung). Beide europäischen Unternehmen beabsichtigen, gestützt auf eine Minderheitenbeteiligung an dem drittgrößten amerikanischen Netzbetreiber SPRINT, den Durchbruch in die internationalen Märkte zu wagen und mit der gemeinsamen Tochter PHOENIX aus der Asche des Weltmarkts emporzusteigen. Für die Minderheitenbeteiligung am amerikanischen Partner sind sie angeblich bereit, mehr als vier Milliarden DM zu überweisen und darüber hinaus in das genannte trilaterale Joint Venture zu investieren, um Kunden weltweit bedienen zu können (ein sinnvolles Ziel).

Der unbefangene Betrachter fragt sich allerdings, welches Ziel denn mit den vier Milliarden DM für eine Minderheitenbeteiligung verfolgt wird, ein Sitz im Board von SPRINT kann es eigentlich nicht sein. Das wäre zu kostspielig. Das Ziel von SPRINT leuchtet dagegen unmittelbar ein. Das Unternehmen bekommt Kapital, um weiter zu wachsen. Die Frage ist, ob der eigentliche Nutznießer dieser beträchtlichen Investition am Ende vor allem SPRINT heißen könnte? Mit einer Minderheitenbeteiligung hat man bekanntlich in amerikanischen Unternehmen nicht viel zu sagen.

Und solange die industrielle Führung des Dreierklubs, genannt PHOENIX, völlig offen bleibt, ist eine weltweite Geschäftspolitik in diesem Klub ein schwieriges Unterfangen, aber zumindest SPRINT hat kassiert. Immerhin, die Deutschen gehen im nächsten Jahr mit gestärktem Renommee an die internationale Börse. Ist das womöglich der Trick, und werden ihn die Anleger honorieren?

Von Charlie Sporck, dem Gründer von National Semiconductors, stammt übrigens der bedenkenswerte Satz: „No Joint Venture ever worked". Er formulierte ihn, als National Semiconductors vor einem Jahrzehnt in Frankreich ein Joint Venture auf dem Gebiet der Mikroelektronik einging, und setzte hinzu „This one will." Zu seinem Leidwesen machte er später die Erfahrung, daß nur der erste Satz korrekt war. Aber im Goldrausch der Internationalisierung der Telekommunikation mögen solche schlichten Weisheiten in Vergessenheit geraten.

Dabei geht es bei der Internationalisierung gar nicht mehr in erster Linie um die öffentlichen Netze, so wichtig sie sind. Denn zumindest für die Nichttelefondienste, für Datendienste und interaktive Multimedia gilt, daß die eigentliche Musik in der Wertschöpfung nicht mehr im öffentlichen Netz spielt, sondern in den an das öffentliche Netz angeschlossenen Datennetzen, Telekommunikationsanlagen, Endgeräten und Informationsdienstleistungen. An den Endgeräten sitzen Kunden und nehmen Informationsdienstleistungen in Anspruch, die durch die Netzbetreiber übermittelt, aber nicht von ihnen erzeugt und immer weniger von ihnen beeinflußt werden. Erst die privaten Netze, Endgeräte und Dienste machen Investitionen in öffentliche Netze rentabel.

Doch gerade in diesem Wachstumsfeld der Endgeräte und Dienste zeigt die Deutsche Telekom, milde ausgedrückt, gewisse Schwächen, die durch die angestrebten Joint Venture, durch ATLAS und PHOENIX, mit denen vor allem Großkunden bedient werden sollen, kaum behoben werden können. Vielleicht ist es ein Fehler, wenn zum Beispiel die Deutsche Telekom zwei kundenorientierte Vorstandsbereiche definiert, nämlich Geschäftskunden und Privatkunden. Denn die interessanteste Aufgabe findet sich möglicherweise an der Nahtstelle zwischen beiden.

Man mag sich vorstellen, welche Wachstumspotentiale die beiden großen europäischen Schwestern im Multimediamarkt für sich anstoßen könnten, wenn die von ihnen eingeplante Minderheitenbeteiligung von mehr als 4 Milliarden DM bei einem amerikanischen Netzbetreiber statt dessen wenigstens teilweise in einen bunten Strauß von Beteiligungen (als eine Art von Venture Capital Engagement) bei europäischen, amerikanischen und asiatischen jungen Wachstumsfirmen investiert würde, die Schrittmacher für neue Endgeräte, Software und Dienstleistungen im Multimediamarkt sind (in einigen Fällen wird man danebengreifen). Und wenn die beiden europäischen Schwestern ihre Marktmacht und Vertriebskraft, möglicherweise gemeinsam mit ihrem gleichberechtigten (d.h. mitzahlenden) amerikanischen Partner, in den Dienst der internationalen Durchsetzung der Produkte dieser jungen Wachstumsfirmen stecken würden.

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, daß es mit der Vertriebskraft der großen Telekomunternehmen im Endgeräte- und Dienstebereich schon deshalb hapere, weil diese Riesenunternehmen in einem so schnellebigen Markt zu schwerfällig seien und als Beispiel die defizitären Verkaufsshops der Deutschen Telekom anführen. Das mag (vor allem für das Privatkundengeschäft) zutreffen. Aber war-

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um sollte diese Schwäche nicht beispielsweise über ein intelligentes Franchising-Konzept überwunden werden können.

Wenn die Netzbetreiber zugleich als Handels- und Systemhäuser am Markt aufträten, und zwar nicht nur für Geschäftskunden, sondern auch für Privatkunden (denn beide Bereiche wachsen ohnehin immer mehr zusammen), wäre es möglich, Dienstleistungen zu entwickeln und durchzusetzen, die ihren Kunden über nationale Grenzen hinaus fortgeschrittenste Technik bieten, um auf diese Weise in einem komplizierter werdenden Markt Punkte zu sammeln. Die europäischen Netzbetreiber würden sich zu flexiblen international tätigen Dienstleistungsunternehmen weiterentwickeln. Sie könnten bei sich selbst und bei ihren zahlreichen Partnern neue Arbeitsplätze an die Stelle von alten und nicht mehr wettbewerbsfähigen setzen, und die europäische Wirtschaft könnte in enger Kooperation mit amerikanischer Kreativität und asiatischer Technik international in eine Führungsposition bei Multimedia aufrücken. Mit 4 Milliarden DM oder auch nur einem Bruchteil davon ist allerhand möglich.

Vor allem dann, wenn es gelänge, in einer solchen Symbiose die geschilderten Defizite in den Benutzungsschnittstellen schrittweise zu beseitigen, Industriestandards zu beeinflussen und durch eine konsequente Kundenorientierung, verbunden mit dem europäischen Einführungsvorsprung von EURO-ISDN, Märkte anzuregen und zu gewinnen.

Niemand wird bestreiten wollen, daß die Deutsche Telekom, getrieben von der weltweiten Liberalisierung und vom Gespenst künftiger Wettbewerber im traditionellen Telefongeschäft, große Anstrengungen unternimmt, um sich in neuen Märkten zu profilieren. Am Ende wird sie um so erfolgreicher sein, je mehr es ihr gelingt, zu einer Symbiose mit jungen Wachstumsfirmen weltweit und in ihrem Heimmarkt zu kommen und auf diese Weise den Dienste- und Endgerätemarkt mitzugestalten.


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