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1. MULTIMEDIA - MARKT OHNE GRENZEN?

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1.1. Zur Definition des Begriffs

Das Schlagwort „Multimedia" ist wie ein Hurrican in die öffentliche Diskussion der Gegenwart hineingefahren. Wird es in absehbarer Zeit seine Energie aufgebraucht haben und dann nur noch ein Lächeln hervorrufen, weil die damit gemeinten Themen Alltag geworden sind und am Ende doch nicht so aufregend und revolutionär waren wie die gegenwärtige Diskussion vermuten ließe?

Einer der kenntnisreichsten Propheten des Multimediazeitalters, Nicholas Negroponte, glaubt mit amerikanisch geprägtem Optimismus, wenn er von den Vorzügen des digitalen Lebens spricht und den Unterschied zwischen Atomen und Bits betrachtet:

„Die digitale Technologie kann wie eine Naturgewalt wirken, die die Menschen zu größerer Weltharmonie bewegt.[Fn.1: Total Digital, Bertelsmann, 1995]

Naturgewalt und Weltharmonie, das mag in unseren Ohren wie verstiegener Optimismus klingen, der zum europäischen Kulturpessimismus nicht paßt. Dabei sollten wir nicht vergessen, daß Optimismus Kräfte freizusetzen vermag, die uns vielleicht in Europa fehlen könnten.

Multimedia ist zunächst einmal ein Begriff mit vielen Facetten und wechselnden Definitionen, ein Leitbegriff der neunziger Jahre, von dem viele erhoffen, daß sich darunter neue Märkte von einer ganz außergewöhnlichen Dynamik subsumieren lassen. Als Folge dieser Dynamik, für die Internet und CD-ROM [Fn.2: Compact Disc - Read Only Memory] zum Symbol geworden sind, scheinen uns kulturelle und soziale Brüche ins Haus zu stehen, die zu gestalten wären, wenn wir sie nur richtig verstünden und anschließend die Kraft fänden, in einer Welt ohne Grenzen an der Gestaltung aktiv mitzuwirken. Multimediadienstleistungen entwickeln sich in einer Welt ohne Grenzen, sind eine Welt ohne Grenzen, und das ist möglicherweise der Kern des Problems, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Insofern hat Negroponte sicher recht. Ob er mit der Weltharmonie recht behält ist eine andere Frage.

Was wollen wir denn nun unter Multimedia verstehen? Fragen wir unseren Computer, der über ein Modem und das Telefonnetz auf Online-Dienste zugreift.

In einem weltweit angebotenen Online-Dienst gibt es unter vielen anderen ein deutsches Lexikon. [Fn.3: Bertelsmann-Lexikon in Compuserve] Auf der Suche nach der Definition von „Multimedia" findet sich dort die folgende Information: Multimedia —> Mixed Media. Unter Mixed Media steht sie, die gesuchte Definition: „Mixed Media: Multimedia, Totalkunst, Sammelbegriff fuer Kunstbestrebungen der Gegenwart, die auf eine zeitgemaesse Belebung der romant. Idee vom Gesamtkunstwerk abzielen; gekennzeichnet durch Aufhebung der Gattungsgrenzen von Architektur, Malerei u. Plastik, durch Einbeziehung von Wort u. Ton u. durch Gleichsetzung von Kunst u. Leben."

Wir sehen mit Sympathie: Das Bildungsbürgertum beherrscht die deutschen Nachschlagewerke, Computer hin oder her, und selbst unser Online-Lexikon versteht unter Multimedia nichts anderes, als die Wiederbelebung der „romant. Idee vom Gesamtkunstwerk".

So abwegig, wie dem abgebrühten PC-Benutzer und Internet-Surfer diese Definition auf den ersten Blick erscheinen mag, ist sie am Ende gar nicht. Wenn man die Fortschritte bei der Konstruktion virtueller Realitäten im multimedialen Spielemarkt, die Darstellung realistischer Scheinwelten, in die wir ganz individuell hineintreten können, betrachtet, dann ist der Gedanke der Gleichsetzung von Kunst und Leben, einer lebendig erscheinenden künstlichen und vielleicht sogar kunstvollen Welt durchaus naheliegend. Der Markt für elektronische Spiele bringt Techniken hervor, die unsere Vorstellung von Kunst erweitern, interaktive Kunst einer ganz neuen Art (bei der Künstler und Publikum womöglich nicht mehr geschieden sind). Ob das als Wiederbelebung der romantischen Idee vom Gesamtkunstwerk aufgefaßt werden kann, wird sich noch zeigen. Eine elitäre Idee und eine elitäre Kunst wird das gewiß nicht.

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Von Ludwig Richter, der sich als Romantiker begriff und nach seiner Rückkehr aus Rom in die Idylle rettete, stammt das Wort „Kunst ist für das Volk, was nützt sie sonst".

Damit kommen wir zur Sache. Das sehen amerikanische Multimedia-Experten auch so. Sie werden über die romantische Idee des europäischen Lexikons nicht weiter nachdenken wollen, denn zuvörderst geht es um technischen Fortschritt und neue Märkte. Im Vordergrund steht gewiß nicht die romantische „Gleichsetzung von Kunst und Leben", sondern von Geschäft und Leben. Kommen wir also zum Geschäft.

„Multimedia", sagt die amerikanische Beratungsfirma Arthur D. Little, „ist der für alle Anwender und Anbieter frei zugängliche Zugriff auf interaktiv steuerbare Daten-, Text-, Ton-, Sprach-, Bild- und Videoinformationen in unterschiedlichen Kombinationen unter Nutzung einer Vielfalt unterschiedlicher, transparenter Zugriffs- und Transporttechnologien."

Ein Definitionsungetüm. Kritiker halten Multimedia denn auch für einen verunglückten Begriff. „Dieses technikzentrierte Wort ist insofern ein Fossil, als man überall erkannt hat, daß die Anwendungen im Mittelpunkt stehen müssen", sagt Dieter Klumpp. [Fn.4: Arbeit im Informationszeitalter, BMBF/Prognos, 1994]

Nähme man die besonders breit angelegte Definition von ADL beim Wort, fände sich darin gar das vertraute Medium Buch wieder. Beim Zugriff auf ein Buch handelt es sich zweifelsohne um den frei zugänglichen Zugriff auf interaktiv steuerbare Text- und Bildinformationen.

Ein Buch ist, darüber wollen wir uns verständigen, keine Multimediadienstleistung. Multimedia ist ein Begriff der Informationstechnik, der Welt der Computer, Fernseher und digitalen Netze im Post-Gutenberg-Zeitalter. Für Negroponte handelt es sich bei Multimedia ganz einfach um Mixed Bits. Gemeint ist, und das ist wohl die allgemein akzeptierte engere Definition, die freie Kombination von Daten, Texten und Bildern mit Ton und Videoinformationen in digitaler Form. Das Buch ist nur ein verhältnismäßig teures Papier-ROM ohne Ton und Video.

Mit CD-ROM, mit der vertrauten Compact Disc, auf der anstelle von Musik Texte und Bilder, aber natürlich auch Töne und Videosequenzen gespeichert werden können, erhält die Post-Gutenberg-Technologie ihre neue Dimension, und trotzdem ist das Beispiel Buch aufschlußreich. Denn bereits bei einem scheinbar so trivialen und zu weit gefaßten Fall von Multimedia stoßen wir auf den ersten Punkt, warum dieser neue Begriff die Phantasie beflügelt, vor allem die geschäftliche Phantasie.

Niedrige Kosten in der elektronischen Speicherung und Reproduktion von Informationen machen den Zugriff auf Informationen um mehrere Zehnerpotenzen billiger.

Bekanntlich kostet die technische Darstellung einer Seite Text oder Bild, eine gedruckte Seite beim Buch einige Pfennige, je nach Auflage und geforderter Qualität der Präsentation. Eine einzige CD-ROM kann dagegen mehr als 300.000 Textseiten speichern und kostet in der technischen Reproduktion nicht mehr als 0,005 Pfennige pro Seite. Und das ist nur eine Zwischenstufe und nicht das Ende der Entwicklung solcher Speichermedien. Bilder, Töne und sogar Videos können eingefügt werden, und mit Hilfe einer geeigneten Software können Informationseinheiten in Sekundenschnelle auf den Computerbildschirm gerufen, betrachtet, modifiziert und miteinander kombiniert werden.

Werden deshalb CD-ROMs auf längere Sicht die Bücherschränke füllen und ganze Bibliotheken ersetzen? Nun, vermutlich genauso wenig oder genauso viel wie elektronische Klaviere einen Stein-wayflügel zu ersetzen vermögen. Wer kann sich heute noch einen Steinwayflügel leisten? Für einen kleinen Steinwayflügel kann man heute zehn elektronische Klaviere kaufen, die seinen Klang immer perfekter zu imitieren vermögen. Elektronische Klangerzeugung wird immer besser, je schneller die Mikroprozessoren Klänge nachzubilden vermögen, je weniger Obertöne und Klangfarben ihnen dabei durch die Lappen gehen, je schneller und geschickter sie rechnen. Vermutlich wird auch ein geübtes Ohr in einigen Jahren den Klang eines Steinwayflügels nicht von dem eines elektronischen Klaviers, das ihn imitiert, unterscheiden können.

Das Beispiel „Buch vs. CD-ROM" zeigt exemplarisch, warum Multimedia, warum der Zugriff auf Informationen mit Hilfe der modernen Elektronik Informationsprivilegien beseitigen, neue Märkte eröffnen und klassische Märkte verändern kann. Es weist auf eine Grundtatsache der Informations-

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technik hin, auf einen wichtigen Grund, warum diese Technik Umwälzungen bewirkt. Es geht um Leistungssteigerungen und um ihr Komplement, nämlich Kostensenkungen für die gleiche Leistung, und das gleich um mehrere Größenordnungen innerhalb eines Jahrzehnts. (Trotzdem verteilt die Deutsche Telekom verblüffenderweise immer noch ihre dicken papierfressenden Telefonbücher, statt den Kunden z.B. eine CD-ROM anzubieten, die gleich die ganze Bundesrepublik zu speichern gestattet.)

Erst durch schnell sinkende Kosten und rapide steigende Leistung werden die neuen Dienste möglich, um die es bei Multimedia geht. Diese Meßlatte ist hilfreich, wenn technisch mögliche aber unwirtschaftliche von wirtschaftlich möglichen Entwicklungen geschieden werden sollen. Die Quantität (der sinkenden Kosten) schlägt in eine neue Qualität (der Dienste) um. Das ist nun in vielen Fällen immer noch nicht ausreichend. Wirtschaftlichkeit ist nur eine notwendige und noch keine hinreichende Bedingung für den Umschlag in eine neue Qualität. Weitere kommen hinzu, z.B. die Bequemlichkeit in der Handhabung.

Noch ist beim Leser der Umschlag vom Buch zur CD nicht vollzogen, hat das Buch nicht ausgedient, obwohl CD-ROM-Geräte inzwischen fast zur Grundausstattung eines neuen Personal Computers gehören und Personal Computer immer mehr zur Grundausstattung eines modernen Haushalts werden und sogar Fernsehen anbieten. Denn das Buch verfügt über eine Benutzerschnittstelle, die qualitativ bisher von keinem erschwinglichen Display erreicht wird. Lesen auf dem Bildschirm ist viel anstrengender als in einem Buch. Deshalb wird, weil es nun einmal bequemer ist, selbst bei der Arbeit am PC noch viel Papier bedruckt und sehr oft nach dem Lesen in den Papierkorb geworfen.

Hinzu kommt die ungebremste Mobilität des Lesers. Er bleibt nicht vor dem Bildschirm sitzen, sondern will diesen wie ein Buch in die Tasche stecken und bei Bedarf benutzen können. Batteriebetriebene Pen Computer oder Note Books hauchen nach wenigen Stunden ihr Leben aus, wenn sie keine Steckdose finden, die ihnen elektrische Energie einspeist, weil die Batterietechnik nur langsam vorankommt. Deshalb findet der Umschlag in eine neue Qualität, findet das elektronische Buch trotz der niedrigen Reproduktionskosten von CD-ROMs bisher eher zögerlich statt.

Dabei wird es nicht bleiben, sobald die beiden genannten Probleme, die Herstellung preiswerter hochauflösender leichter Displays und die Herstellung von Batterien mit hoher Energiedichte, langer Lebensdauer und niedrigem Gewicht, einmal gelöst sein werden.

Das Beispiel CD-ROM sollte uns als erster Hinweis dienen, warum der Personal Computer und seine Peripherie einer der beiden Schlüssel zum Eingangstor in die Multimediawelt sind. Ein großer Teil der Büroarbeitsplätze und immerhin schon 17% der privaten Haushalte (andere Statistiken sprechen von 25%) verfügen in Deutschland bereits über einen Zugriff auf PCs. [Fn.5: DM-Multimedial '95, Verlagsgruppe Handelsblatt GmbH]

Das Beispiel weist zugleich darauf hin - wir wiederholen das, weil es so wichtig ist -, welche Bedeutung die Forschung und Entwicklung auf den Gebieten Displaytechnologie und Batterietechnik für die neue Multimediawelt hat, wie stark deren Marktdynamik davon abhängt, bei diesen Themen weiterzukommen. Trägt unsere Forschungspolitik diesem Faktum Rechnung?

Bisher dominiert in den privaten Haushalten die Nutzung des PCs als leistungsfähige Schreibmaschine und als flexibles Spielzeug. [Fn.6: DM-Multimedia '95] Und nur ein kleiner Teil der PCs in privaten Haushalten ist an das öffentliche Netz angeschlossen, aber das wird sich vermutlich sehr schnell ändern, da die Kosten für ein leistungsfähiges Modem, um im analogen Telefonnetz digital zu kommunizieren, nur noch bei weniger als 10% der Anschaffungskosten eines durchschnittlichen PCs liegen. Wäre das Telefonnetz bereits vollständig digitalisiert, stiege die Leistungsfähigkeit der Informationsübermittlung noch einmal um ein Vielfaches und der Bedarf, sich zur Informationsübermittlung extra ein Modem anzuschaffen, um in der Multimediawelt mitzumachen, entfiele.

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1.2. Das ISDN-Zeitalter, schmalbandig und breitbandig

Ein weiterer Schlüssel zum schnellen Eintritt in die Multimediawelt ist daher das diensteintegrierte digitale Netz unter dem englischen Kürzel ISDN (Inte-

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grated Services Digital Network), dessen Entwicklung von Europa ausging und dessen Perfektion einen deutschen Stempel trägt. Diese Technik mit einem Basisteilnehmeranschluß von 144 Kilobit/sec ermöglicht einen großen Sprung vorwärts in die multimediale Zukunft.

Damit wird eine brauchbare, wenn auch etwas ruckartige Übertragung von Videosequenzen möglich. Ein kostengünstiges Bildtelefon (am besten in den PC integriert), bei dessen Benutzung nur die normalen Telefongebühren zu entrichten sind, hat Zukunft, wenn Qualität und Preis stimmen. Die neue Qualität ist die Folge einer Revolution bei der Kompression von Bewegtbilddaten, bei der ein Informationsbit das erledigt, wozu früher hundert Bits übertragen werden mußten. Der stimmige Preis folgt aus der gegenwärtig stattfindenden Umsetzung dieser standardisierten Verfahren auf Mikrochips. Auf die Folgen werden wir immer wieder zu sprechen kommen.

Nur der Vollständigkeit halber: Für anspruchsvollere Anwendungen gibt es in der ISDN-Welt noch den Primärmultiplexanschluß mit 2 Megabit/sec Übertragungsgeschwindigkeit, und da bleiben in puncto Bildqualität kaum noch Wünsche offen. Der ist nun allerdings entsprechend teuer, auf professionelle Anwender zugeschnitten und für einen Massendienst vorläufig noch ungeeignet.

Bleibt es beim Schmalband-ISDN (wenn wir uns auf die nächsten zehn Jahre konzentrieren)? Das Breit-band-ISDN mit einer hundert- oder gar tausendfachen Übertragungskapazität scheint doch bereits vor der Tür zu warten, um eine interaktive und vielgestaltige neue Fernsehwelt zu erschließen. Die Schlüssel hierzu heißen ATM [Fn.7: Asynchronous Transfer Mode] und Glasfaser, und mit ihnen erhielte die Multimediawelt dann wiederum eine neue Qualität mit entsprechenden Folgen. Wir wollen nach einer Antwort auf die Frage suchen, ob infolgedessen in den nächsten zehn Jahren bereits mit Massenanwendungen zu rechnen ist, die in diese neue Welt hineinführen.

Hier ist ein Einschub zweckmäßig. Multimedia setzen nicht nur auf Telekommunikationsnetzen auf. Multimediaanwendungen gibt es auf Personal Computern auch ohne Anschluß an öffentliche Kommunikationsnetze und zwar sogar in besonders interessanten Formen. Ein Beispiel zur unvernetzten interaktiven Videowelt soll weiter unten demonstriert werden. Doch zurück zu den Telekommunikationsnetzen.

Sicher ist, der Siegeszug des undeutlichen Begriffs Multimedia in der öffentlichen Diskussion wäre vermutlich weniger spektakulär ausgefallen, wenn er nicht von dem anderen populären, die Phantasie anregenden, aber ebenso undeutlichen Begriff so viel zusätzlichen Schub erhalten hätte, nämlich dem Begriff „Information Highway", auf deutsch ganz unglücklich übersetzt mit „Datenautobahn" (der Begriff Daten weckt eher falsche Assoziationen). Bei den Information Highways geht es ihren Protagonisten um die Kombination unterschiedlichster Informationsformen, nicht nur um Daten. Es geht den Erfindern der Information Highways in aller Regel und vor allem um die Einbeziehung bewegter Bilder als Teil des Informationsangebotes.

Die Popularität der Information Highways begann bekanntlich damit, daß der amerikanische Vizepräsident AI Gore vor einigen Jahren mit ihm die Prosperität des künftigen Amerikas verband und Europa mit einer „High-Level Group on the Information Society" nachsetzte. [Fn.8: Europe and the Global Information Society, Recomendations to the European Council, 26.5.94]

Dabei wirkt die Denkweise der siebziger Jahre, als man sich Bewegtbildübertragung nur auf Breitbandnetzen vorstellen konnte, immer noch nach. Und im Grunde ist das auch nicht so falsch, stoßen die Datenkompressionstechniken, mit denen auf vorhandenen Schmalbandnetzen Bewegtbildübertragung möglich wird, trotz der enormen Fortschritte auf qualitative Grenzen, die keinen Ingenieur ruhen lassen können.

In Europa wie in Amerika spielen deshalb die Visionen von Breitbandnetzen, die jedem Teilnehmer zugleich als Sender und Empfänger (und nicht nur als passiven Empfänger wie beim altvertrauten Fernsehen) eine nicht absehbare Vielfalt von Kommunikation ermöglichen, eine zentrale Rolle. Die Technik dafür gibt es. Das ist nicht das Problem. Glasfasernetze stellen jedem Teilnehmer ohne weiteres Übermittlungskapazitäten für Informationen zur Verfügung, die bei 155 Megabit/sec und darüber liegen, von der Technik her sogar bis weit in den Gigabit/sec-Bereich hineinführen.

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Durch Glasfasern als Lichtleiter kann die enorme Übertragungskapazität des Lichtes in terrestrische Kommunikationsnetze eingebracht werden. Glasfasern treten an die Stelle von Kupferkabeln, und elektrooptische Bauelemente besorgen die Umwandlung der elektrisch repräsentierten Informationen in Lichtsignale.

Visionen von einem neuen glasfasergestützten Breitbandnetz gab es, das wird gelegentlich vergessen, in Europa schon lange, bevor AI Gore den Information Highway als Politikum kreierte. Aber diese Visionen waren wie häufig in Europa eher auf technische Ziele und Zirkel orientiert. Und wenn die Bundesregierung in der letzten Sitzung des Kabinetts von Helmut Schmidt vor mehr als dreizehn Jahren dazu einen weitreichenden Kabinettsbeschluß faßte, war damit noch lange nicht gesagt, daß sie mit solchen Themen in der Öffentlichkeit auf Resonanz treffen würde. Wir pflegen uns nun einmal an Amerika zu orientieren, und das ist umso verblüffender, als in kaum einem anderen Land in den letzten zehn Jahren soviel mit neuen Anwendungen der Breitbandkommunikation experimentiert worden ist wie in Deutschland. Der öffentliche Diskurs, wenn es um Neuland geht, ist bei uns in der Regel unterentwickelt und bleibt Fachzirkeln vorbehalten.

Der Schritt vom schmalbandigen ISDN auf der Basis der vorhandenen Leitungsnetze zum Breitband-ISDN mit einem flexiblen Bandbreiteangebot, das Übertragungsgeschwindigkeiten bis zu 155 Megabit/sec und darüber ermöglicht, ist faszinierend für jeden, der sich an neuen Technologien begeistern kann. Wenn es um neue Dienste geht und deren Kosten, die von den Kunden aufzubringen sind, schwindet die Begeisterung für diesen Schritt dahin.

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1.3. Wo versteckt sich das Problem?

Nicht bei der Glasfaser und den zugehörigen Bauelementen. Die Glasfasertechnik ist bereits eine ausgereifte Technik, unbeschadet der Tatsache, daß sie sich nach wie vor stürmisch weiterentwickelt. Tatsächlich werden Telefonferngespräche in Deutschland sehr oft über solche Lichtleiter übertragen. Nur haben sie zuvor einen Bündelungsprozeß hinter sich, der die große Bandbreite von Glasfaserkabeln sinnvoll zu nutzen gestattet. Der rentable Einsatz von Lichtleitern im öffentlichen Netz beschränkt sich immer noch ganz überwiegend auf die Fernebene, das Weitverkehrsnetz, sieht man einmal von Spezialnetzen und -anwendungen ab.

Demgegenüber ist auf der Ortsebene der Ersatz der vorhandenen kupfergestützten Teilnehmeranschlußleitungen durch Glasfasern eher zum Stillstand gekommen, auch wenn in diesem Jahr (vorwiegend in den Neuen Ländern) immerhin schon rund 1,2 Millionen Haushalte über Glasfaser an das Telekommunikationsnetz angebunden sein werden, ohne allerdings bisher von der neuen Bandbreite profitieren zu können.

Die Deutsche Telekom hinkt beim Einsatz der optischen Nachrichtentechnik der weltweiten Entwicklung nicht hinterher. Dafür sprechen die bereits verlegten 90.000 km Glasfaserkabel. Sie hat als einer der weltweit ersten Netzbetreiber die Lichtleitertechnik bereits in der Ortsebene verlegt, nämlich dort, wo es keine Kupferleitungen gab, in den Neuen Ländern. Das war ohne Zweifel eine sehr sinnvolle und zukunftsorientierte Investition, die sich langfristig auszahlen wird.

Als unmittelbare Folge der Investitionspolitik der Deutschen Telekom hat die deutsche Industrie in der Technik der glasfasergestützten Breitbandnetze eine gute technische Ausgangsposition.

Deutschland verfügt überdies seit fast zwanzig Jahren auch außerhalb der Industrie über eines der weltweit besten Forschungsinstitute auf diesem Gebiet, das Heinrich-Hertz-Institut in Berlin, das vom Forschungsministerium schon in den siebziger Jahren mit der Aufgabe betraut wurde, die optische Nachrichtentechnik zu entwickeln und nutzbar zu machen. Die Forschungsarbeiten des Instituts zur Integrierten Optik sind weltweit richtungsweisend.

Nicht zu vergessen ist das von der Deutschen Telekom finanzierte Projekt BERKOM, in dem seit vielen Jahren erfolgreich und in großer Breite Anwendungsmöglichkeiten von Glasfasernetzen untersucht und erprobt werden.

Um die Glasfasertechnik im Ortsnetz und als Teilnehmeranschluß einführen zu können, müssen nur noch zwei Voraussetzungen erfüllt werden. Erstens die Entwicklung und internationale Normung geeigneter Netzknoten. Das ist auf der Grundlage des ATM-Verfahrens bereits sehr weit gediehen. Erste ATM-Knoten sind weltweit im Einsatz und kom-

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munizieren schon miteinander, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten.

Die zweite Voraussetzung ist nicht technischer Natur, und hier beginnt das eigentliche Problem, ein klassisches Problem aller Kommunikationsnetze. Es müssen genügend Teilnehmer an das neue Glasfasernetz angeschlossen werden, damit sich die Dienste rentieren, sieht man einmal von spezialisierten Kommunikationsinseln, z.B. im Rahmen von Corporate Networks [Fn.9: unternehmensinterne Netze], ab.

Zwischen der Vision vom neuen Superhighway und der Realität liegt daher ein prosaischer Stolperstein, der wenig mit Technik und viel mit Kosten zu tun hat. Ein neues Leitungsnetz zu verlegen ist außerordentlich kostenintensiv und erfordert enorme Vorleistungen der Netzbetreiber („wer gräbt, der stirbt" sagen die neuen Netzbetreiber nicht zu Unrecht und hoffen auf die Funktechnik oder auf die Deutsche Telekom, um bis zum Kunden vorzudringen). Es geht um Vorleistungen, die sich in einem wettbewerbsorientierten Markt auch rechnen müssen, deren Return on Investment in einem überschaubaren Zeitraum höher ist als bei den sich bietenden Investitionsalternativen. Diese gibt es, und deshalb steht zu befürchten, daß wir auf den neuen Superhighway, auf die vermittelten Breitbandnetze als Massendienst, noch einige Zeit werden warten müssen.

Und die Schlußfolgerung daraus:

Wer sich auf Multimediaanwendungen konzentriert, die ein vermitteltes Breitbandnetz mit einer großen Zahl von Teilnehmern voraussetzen, wird die realen Multimediamärkte des vor uns liegenden Jahrzehnts versäumen. Die Ingenieure werden spätestens dann von den Kaufleuten eingeholt, wenn es nicht mehr um Pilotprojekte geht, die aus der Portokasse oder den öffentlichen Haushalten finanziert werden können, sondern um Investitionen, die richtiges Geld kosten und sich im Markt bewähren und rentieren müssen.

Es ist jedoch ratsam, die Visionen der Ingenieure im Auge zu behalten, denn sie bringen immer wieder neue Ideen in verkrustete Märkte und vielleicht fällt ihnen auch zum Kabelfernsehnetz ein, wie sich durch dessen Digitalisierung neue Anwendungen realisieren lassen. Vielleicht könnten sich neue Nutzungsformen der Kabelfernsehnetze umso eher durchsetzen, wenn die Deutsche Telekom ihre Kabelfernsehnetze ausgliedern oder gegen gutes Geld an interessierte Unternehmen verkaufen würde. Die Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte wird guten Ideen neue Chancen bieten, allerdings auf der anderen Seite die finanziellen Ressourcen für Risikoinvestitionen als Folge eines härter werdenden Wettbewerbs begrenzen.

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1.4. Visionen und Realitäten

Zwei Zitate mögen belegen, zu welch lyrischen Höhenflügen nüchterne Manager fähig sind, wenn die neue Welt der Information Highways auf der Basis der optischen Nachrichtentechnik zur Debatte steht. Das eine stammt aus Amerika und ist von John Segall, ehemals Vice Chairman von GTE, der von den neuen Information Highways auf Glasfaserbasis sagte: „Sie werden die Welt in der Stille der Photonen verbinden." Und das zweite stammt aus dem Bericht der oben genannten europäischen High-Level Group, zusammengesetzt aus europäischen Politikern und Wirtschaftsführern: „This revolution adds huge new capacities to human intelligence and constitutes a resource which changes the way we work together and the way we live together", oder gar „Tide waits for no man, and this is a revolutionary tide, sweeping through economic and social life."

Da mutet es wie Spielverderberei an, wenn ein bekannter Venture Capitalist in den Vereinigten Staaten, Don Valentine von Sequoia Capital, den Information Highway als „buzzword" bezeichnet, „created by public-relations people and folks at the White House who want to be seen as technology visionaries". Der Amerikaner hält interaktives Fernsehen, Movies on Demand und Home Shopping für „pure unadultered bull" und sagt vom Information Highway, daß er bereits existiere und den Namen „Internet" trage. Schließlich kommt er uns auch noch mit der Prognose: „Ten years from now, there is going to be a lot of embarrassment, over who wrecked the telephone companies." Warum? „They have been seduced by Hollywood" sagt Valentine und weist zur weiteren Begründung auf die amerikanischen Erfahrungen mit der Deregulierung der Fluggesellschaften hin [Fn.10: Newsweek, 11.4.1994] . Ein kühner Vergleich.

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Nun weiß Don Valentine in der Regel, wovon er spricht, denn er gehört zu den führenden High-Tech-Investoren in den Vereinigten Staaten. Vorsicht scheint daher geboten, obwohl uns Europäern ein wenig amerikanische Euphorie im Grunde nicht schaden mag.

Es ist wahr, viele denken derzeit bei dem Begriff Information Highway an Breitbandnetze und tun sich dann schwer, konkrete und vor allem bezahlbare Applikationen zu formulieren, ein irgendwie modifiziertes Fernsehen, Videofilme und -clips auf Abruf. Videokonferenzen und Telepräsenz. Dabei ist das weltumspannende, ungeheuer dynamische, doch netztechnisch eher konventionelle Internet das Netz, auf dem derzeit die Musik spielt und das ständig neue Applikationen produziert. Es ist zwar im Vergleich zum Breitbandnetz keine Autobahn, sondern eher ein Trampelpfad, aber es funktioniert, wird (in direkten Beträgen) nur geringfügig subventioniert, ist für den Benutzer immer noch ziemlich billig und hat den spektakulärsten Fall eines jungen (amerikanischen) Technologieunternehmens produziert, an dem seine Gründer innerhalb von 2 Jahren 600 Millionen Dollar verdient haben [Fn.11: die amerikanische Fima NETSCAPE] (obwohl ihre Firma noch gar nicht die Verlustzone verlassen hat). Insofern mag die Warnung von Don Valentine nicht ganz zur Unzeit gekommen sein, selbst wenn seine republikanisch gesonnene Politikerbeschimpfung unfreundlich ausgefallen ist.

Er beschimpft übrigens, siehe Internet, die Politiker zu Unrecht. Denn gerade das Internet ist ein Beispiel dafür, was intelligente staatliche Fördermaßnahmen in den Vereinigten Staaten, dort unter dem Mantel des Verteidigungshaushalts, an kreativen Kräften freizusetzen vermögen. In Deutschland gilt staatliche Industriepolitik als Versündigung am Geist der Marktwirtschaft (es sei denn, sie dient der Erhaltung alter Industrien, dann wird sie immerhin geduldet). Die Forschungsförderung ist bei uns, wie jeder leicht erkennen kann, wenn er es erkennen will, im Bundeshaushalt immer mehr zum fünften Rad am Wagen geworden. Und sie wird nicht genügend verzahnt mit den strategischen Entscheidungen der Industrie. Denn das wäre Industriepolitik, die verpönt ist.

Das ist zu bedauern und bleibt nicht ohne Folgen. Es ist bedauerlich, denn gerade in Europa hätten wir ganz hervorragende Voraussetzungen, um Kommunikationsformen und -dienstleistungen zu entwickeln, die noch mehr bewegen könnten als in den USA heute unter den Begrenzungen der dortigen Netzinfrastruktur möglich ist. Mit der Standardisierung von EURO-ISDN hätte Europa eine große Chance, die wir nicht dadurch verspielen sollten, weil wir - in Raum und Zeit - nur in die Ferne sehen, statt das Naheliegende zu tun. Das Zeitfenster, um mit EURO-ISDN der geschwächten informationstechnischen Industrie Europas einen neuen Start zu ermöglichen, einen neuen Schub zu geben, wird sich bald wieder geschlossen haben. Noch ist es offen.

Die Debatte muß deshalb geführt werden: Teilnehmer im geschäftlichen und im privaten Bereich an Glasfasernetze anzuschließen, ist teuer, und eine kritische Schwelle, bei der genügend Teilnehmer zusammenkommen, damit sich neue Endgeräte und Dienste lohnen, ist nicht so schnell zu erreichen, selbst wenn die Vermittlungstechnik schon völlig ausgereift wäre, was nicht der Fall ist. Der Marsch zum Breitband-ISDN ist ein langer Marsch, der zwar heute begonnen werden sollte, aber möglichst nicht ohne sorgfältige Rentabilitätsbetrachtungen und Marktanalysen bei allen Beteiligten.

Denn gleichzeitig steht an, das vorhandene Telefonnetz zu digitalisieren, und zwar bis zum Teilnehmer im privaten Haushalt. ISDN für alle ist vergleichsweise billig und setzt gleichwohl enorme Ressourcen der Informationsübermittlung frei, die deshalb in dieser Studie im Vordergrund stehen sollen.

Warum den vielen Veröffentlichungen zum Thema Multimedia noch eine Studie hinzufügen? Es gibt bereits ganz vorzügliche Übersichten und Analysen dieses Themas. Zum Beispiel die Ergebnisse einer Veranstaltung des Münchner Kreises. [Fn.12: Neue Märkte durch Multimedia, Springer-Verlag, 1994] Oder den Abschlußbericht zu einer Vorstudie des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag. [Fn.13: Multimedia, Mythen, Chancen und Herausforderungen, TAB, 1995] Einen hervorragenden Überblick gibt auch die im Auftrag dieses Büros von einer Beratungsfirma angefertigte Studie „Zukunft Multimedia" [Fn.14: Booz, Allen & Hamilton, 1994] und die im Auftrag des BMBF angefertigte Studie „Rechtliche Aspekte des Information Superhighways". [Fn.15: VDI/VDE Technologiezentrum Informationstechnik GmbH, 1995] Interessant sind die Ergebnisse der ZVEI-

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VDMA-Plattform [Fn.16: Informationsgesellschaft - Herausforderung für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, 1995], und das ist bei weitem keine vollständige Aufzählung.

Es geht um Technik und Märkte. Es geht vor allem darum, trotz aller Euphorie über technische Fortschritte das Thema Multimedia im ISDN-Zeitalter so nüchtern wie möglich zu behandeln und den neuen Märkten des vor uns liegenden Jahrzehnts auf die Spur zu kommen, ohne daß wir uns in technischen Visionen verlieren, wenn sie die Grenzen des in diesem Zeitraum wirtschaftlich Machbaren verwischen.

Das ist das Credo der hier vorgelegten Studie:

Multimedia ist gewiß kein Markt ohne Grenzen, sondern findet (wie jeder Markt) seine Grenzen dort, wo Kunden nicht mehr bereit sind, einen kostendeckenden Preis für die Dienstleistung, die ihnen angeboten wird, zu bezahlen.

Außerdem, wie steht es um die Bedingungen für die Anwendung neuer Technologien, um die berühmten Rahmenbedingungen, an denen es in Deutschland hapert? Das vorliegende Papier ist eher ein politisches und an Wirtschaftlichkeitsfragen orientiertes als ein technisches Papier und schon aus diesem Grund für Kontroversen offen. Sein zentrales Thema sind Probleme von heute und morgen, nicht von übermorgen.

Ziel dieser Studie ist es, vor dem Hintergrund des zu erwartenden technischen Fortschritts im Zeithorizont des vor uns liegenden Jahrzehnts politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Multimediadiensten zu diskutieren und damit zur Politikformulierung beizutragen. Hauptinteresse der Studie sind Massenanwendungen an der Schnittstelle des geschäftlichen und privaten Bereichs, die weder dem Hörfunk noch dem Fernsehen sinnvoll zugerechnet werden können.

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1.5. Sonderthema Fernsehen

Der Begriff „ISDN-Zeitalter" im Titel der Studie ist programmatisch gemeint und ein Hinweis, daß es hier nicht um neue Formen des Fernsehkonsums geht, die auf den klassischen Verteilnetzen des Kabelfernsehens aufsetzen und auch nur am Rande um Applikationen für vermittelte Breitbandnetze, die es im Haushalt von Otto Normalverbraucher nicht gibt. Es geht vor allem um Dienstleistungen, die durch die Einführung des diensteintegrierten digitalen Netzes (ISDN) auf Basis der vorhandenen Kupferleitungen im Ortsnetz entscheidend gefördert werden.

Trotzdem soll das Thema Fernsehen zumindest gestreift werden, darf auch die vieldiskutierte und technisch interessante Idee, die bestehenden Kabelfernsehnetze oder neue Fernsehrundfunksatelliten für neue Multimediadienste zu nutzen, nicht von der Hand gewiesen werden, zumal in diese Idee zur Zeit viel Geld investiert wird.

Wenn es darum geht, eine umfangreiche Datenbasis mit Videoinformationen, etwa einen videounterstützten Versandhauskatalog, bei vielen Teilnehmern von Zeit zu Zeit auf den neuesten Stand zu bringen, oder wenn einfach nur Fernsehinformationen verteilt werden und die Kunden anschließend zum Telefon bzw. ihren PC greifen, um eines der angepriesenen Produkte zu bestellen, können Kabelfernsehen und Satellitendienste in der Tat neue Perspektiven eröffnen. Insbesondere dann, wenn das für die anschließende Bestellung benutzte Telefonnetz durch zeitliche Massierung der Bestellungen nicht zusammenbricht, weil gerade ein hochaktuelles Produkt zum halben Preis angeboten worden ist.

Das Handicap reiner Verteilnetze, nur in einer Richtung Informationen anbieten zu können, liegt auf der Hand. Um es zu überwinden, müßten zusätzliche Kommunikationskanäle vom Empfänger zum Sender verfügbar gemacht werden, und zwar nicht nur bei wenigen Teilnehmern, sondern bei sehr vielen innerhalb relativ kurzer Frist. Das stößt auf ganz erhebliche Schwierigkeiten, und daran dürften viele guten Ideen (aus wirtschaftlichen Gründen) scheitern.

Interessanter sind deshalb vielleicht die Veränderungen des Mediums „Fernsehen" selbst und zwar im klassischen Sinn als Verteilung von Fernsehprogrammen an interessierte Konsumenten.

Man könnte zunächst einmal beim täglichen Zappen glauben, mit dem Siegeszug des Kabelfernsehens, der Privatisierung der Fernsehprogramme und den zahlreichen Videotheken sei die wichtigste Etappe in der Ausformung des Fernsehens für die nächsten zehn Jahre genommen worden. Einige der in-

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zwischen älter gewordenen Medienpioniere gehen davon aus. Sie glauben an ein neues Machtgleichgewicht im dualen System mit der Koexistenz von privaten und öffentlich-rechtlichen Kanälen und Programmen, ein Gleichgewicht, das nicht so leicht zu erschüttern sein werde.

Wer das glauben sollte, übersieht allerdings die faszinierende Dynamik im Fernsehsatellitenmarkt, ausgelöst durch die neuen Verfahren der Datenkompression. Satelliten, in Verbindung mit Kabelfernsehnetzen oder im Direktempfang über Parabolantennen, bilden eine neue digitale Infrastruktur, die es ermöglicht, hunderte von Programmen gleichzeitig auszustrahlen und anzubieten und den Zugriff darauf durch eine relativ billige Elektronik abzurechnen. Dabei wählt sich der Teilnehmer in das von ihm gewünschte Programm für ein bestimmtes Medienereignis (Sport, Kultur, Unterhaltung) auf Zeit ein und bezahlt dafür unter Benutzung einer Chipkarte, die er in eine Set-Top-Box steckt.

Das ist zwar noch kein echtes Video on Demand [Fn.17: individueller Abruf von Videoprogrammen], denn der Zuschauer wählt ein gesendetes Programmereignis, statt die Sendung eines Programms zu veranlassen. Das relevante Stichwort heißt vielmehr „Pay per View". [Fn.18: individuelle Bezahlung eines gesendeten Fernsehereignisses] Aber wenn die zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbare Auswahl ausreichend groß ist und bei genügender Teilnehmerzahl hinreichend billig (in der Größenordnung von einer D-Mark/pro Film und darunter oder von einigen D-Mark/pro aktuellem Sportereignis), könnte sich ein solches Angebot rentieren. Hinzu kommt der für die Werbung außerordentlich interessante Tatbestand. daß die Fernsehzuschauer, die eine bestimmte über Satellit ausgestrahlte Sendung anwählen, eine klar umrissene Zielgruppe darstellen. Deshalb ist die Diskussion um die Set-Top-Boxen so interessant geworden, während Video on Demand immer mehr in den Hintergrund der Debatte rückt.

Die Konsequenzen für die öffentlich-rechtlichen Programme sind schwer abzuschätzen. Ihr terrestrisches Netz dürfte jedenfalls in seiner jetzigen Technik sehr bald ausgedient haben, weil es pro Kanal viel zu teuer wird. Auch die privaten Programme müssen möglicherweise umdenken. Wenn Werbung zu Pay per View-Anbietern abwandert, ist nicht ausgeschlossen, daß sich schon innerhalb des vor uns liegenden Jahrzehnts die Fernsehgewohnheiten erneut radikal verändern. Aus den ungerichteten Zappern würden zielbewußte Verbraucher. Aber was werden sie verbrauchen? Womöglich nichts anderes als vorher? Die Inhalte entscheiden über Kunden, nicht die Übertragungstechnik.

Mit Pay per View könnten sich, wie schon angedeutet, nun leicht Multimediaanwendungen mit reinem Fernsehen vermischen, denn eine Pay per View-Infrastruktur ist zum Beispiel für Teleshopping von Interesse. Das führt ganz automatisch zu medienrechtlichen Verwicklungen, Zuständigkeiten der Länder werden tangiert. Das betrifft ausgerechnet ein Medium, das seiner Natur nach grenzüberschreitend ist und schon deshalb kaum national und schon gar nicht auf Länderebene reguliert werden kann.

Wenig Sinn haben zu weitgehende Ansprüche der Landesmedienanstalten auf Regulierung eines Marktes, bei dem Frequenzknappheit keine Rolle mehr spielt und Fernsehen im klassischen Sinn, als Massenveranstaltung mit meinungsbildenden Charakter, nicht mehr klar abgegrenzt wird von einer wachsenden Vielfalt neuer Angebote. Die Länder werden sich vermutlich damit abfinden müssen, daß das Instrument der Landesmedienanstalten stumpf wird und diese am Ende womöglich überflüssig, wenn sie sich nicht zumindest auf Bundesebene und, besser noch, im europäischen Rahmen zu organisieren verstehen.

Medienrechtliche Gesichtspunkte sollen allerdings in dieser Studie nicht vertieft behandelt werden, sondern hier nur insoweit interessieren, als eine extensive Auslegung des Rundfunkbegriffs Multime-diaanwendungen wie Online-Dienste, Teleshopping oder gar neue Formen der interpersonalen Kommunikation, wie wir sie aus den Wandzeitungen des Internet kennen, in ihrer Entwicklung behindert. Das kann eigentlich in niemandes Interesse liegen.

Eine Wandzeitung im Internet zum Beispiel ist sinnvollerweise kein Rundfunk mit entsprechendem Regelungsanspruch der Landesmedienanstalten, auch wenn Töne und Bilder an die Texte angehängt werden, zumal es sich um eine asynchrone, eine ungleichzeitige Form der elektronischen Informationsbereitstellung handelt, während Rundfunk (Fernsehen) ein synchrones Medium, ein Medium, das Menschen synchronisiert, darstellt. Eine Wandzeitung im Internet sollte, schon um die Entwicklung dieses Mediums in Deutschland nicht zu behindern,

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eher als eine neue Form der elektronischen Zeitung klassifiziert und entsprechend behandelt werden. Elektronische Zeitungen könnten faszinierende (und internationale) Konsequenzen für den Zeitungsmarkt haben. Sie könnten zu einer neuen Art von Zeitung führen, die außerordentlich kostengünstig ist und darüber hinaus noch kundenspezifisch und multimedial angelegt werden kann, z.B. mit Ton- und Bildsequenzen. Wer unter Berufung auf einen technisch und nicht funktional verstandenen Rundfunkbegriff meinte, hier komme der Rundfunk, mit leichter Zeitversetzung, zur Hintertür wieder herein, weil es sich um „die Verbreitung einer Darbietung in Wort, Ton und Bild unter Benutzung elektrischer Schwingungen" [Fn.19: aus §2 Begriffsbestimmungen Rundfunkstaatsvertrag] handeln könnte und, darauf gestützt, versuchte, eine Regelungskompetenz der Länder dafür zu konstruieren, läuft Gefahr, sich am Ende eher lächerlich zu machen.

Unsere Schlußfolgerung: Wir sollten nicht alles mit den Regeln der Vergangenheit in ein Regulierungskorsett zu zwingen versuchen, was sich überhaupt erst entwickeln muß. Wie wäre es in diesem Fall statt dessen mit dem alten Management-Prinzip „Go and Correct".

Noch einmal zurück zu Video on Demand, weil es unter der Überschrift Multimedia häufig genannt wird. Dabei handelt es sich zweifellos um eine besonders anspruchsvolle neue Entwicklung. Doch betrachtet man den Markt und nicht die Technik, ist die Dienstleistung erstens gar nicht so spektakulär, denn jede Videothek stellt bereits „Video on Demand" kostengünstig zur Verfügung. Videokassetten oder Videodiscs sind (asynchrone) Offline-Medien, nicht auf Breitbandnetze angewiesen. Glücklicherweise, denn zweitens ist es ziemlich schwierig, Video on Demand netzgebunden zu realisieren. Es ist vor allem teuer, Video on Demand über klassische Kabelfernsehnetze abzuwickeln. Doch selbst wenn in fernerer Zukunft genügend Teilnehmer über leistungsfähige Anschlüsse an ein Glasfasernetz verfügten, was, wie bereits diskutiert, gewiß noch einige Zeit auf sich warten lassen wird, bleibt das Problem, in einem Server Videoprogramme für jeden Teilnehmer gesondert aufzurufen und ins Netz einzuspeisen. Dies ist ein wirtschaftlich kaum lösbares Problem, wenn es um längere Sequenzen geht, trotz Datenkompression und mächtiger Computertechniken. Die Betonung liegt auf wirtschaftlich.

Auch das vieldiskutierte „Interaktive Fernsehen", was immer man darunter verstehen soll, wird seit mehr als zehn Jahren in kostspieligen Modellversuchen erprobt („they have been seduced by Hollywood"), ohne daß bisher sehr viel dabei herausgekommen wäre. Vielleicht hilft hier der Spielemarkt in den nächsten Jahren weiter.

Fernsehen (und Film) bleiben ein faszinierendes Medium, gleich welcher Übertragungstechnik es sich bedient. Thema dieser Studie, in der von interaktiven Multimedia die Rede sein soll, ist jedoch nicht das Fernsehen. Wenn unter Multimedia die interaktive Handhabung und digitale Integration verschiedener Medien, wie Daten, Text, Stand- und Bewegtbild, Sprache, Ton und Grafik in einem Gerät unter einer einheitlichen Oberfläche verstanden werden soll, dann gehören neue Formen des Fernsehens nicht ins Zentrum der Diskussion, so wichtig sie für den Teilmarkt „Fernsehen" und daraus abgeleitete Märkte werden können. Und das gilt auch für die Übertragungsmedien, auf denen sie aufsetzen. Satelliten wie Kabelfernsehnetze haben ihre Stärken in der Verteilung von Informationen, nicht in der interaktiven Kommunikation.

Nur in diesem Sinn gilt der Satz, und nur so sollte er verstanden werden:

Multimediadienste, die den interaktiven -(im Gegensatz zum passiven) Zugriff und die Manipulation von qualitativ hochwertigen Bewegtbildinformationen über Breitbandnetze ermöglichen, werden in den nächsten zehn Jahren nur wenigen Teilnehmern zur Verfügung stehen.

Das mag sich ändern, wenn auf breiter Front im geschäftlichen und privaten Bereich breitbandige glasfasergestützte Teilnehmeranschlußleitungen die Regel und dahinter eine extrem leistungsfähige Vermittlungstechnik und eine Vielzahl von Servern für breitbandige Informationen verfügbar geworden sind. Dann wird allerdings das klassische Kabelfernsehen mit seiner reinen Verteilstruktur, an das in Deutschland immerhin 20 Millionen Haushalte angeschlossen sind, bereits ausgedient haben, die Deutsche Telekom auf ihren veralteten Kabelfernsehnetzen und den damit verbundenen Milliardenverlusten sitzengeblieben sein, und eine neue Epoche beginnt.

Diese Epoche ist kein Thema der nächsten zehn Jahre. Dazu erfordert die neue Infrastruktur zu hohe

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Investitionen und ist mit einem zu unsicheren Return on Investment belastet, selbst wenn der letzte Schritt bis zum Teilnehmer auf dem Funkweg getan wird, um das Vergraben von Leitungen zu minimieren. Sicher scheint, die neue vermittelte Breitbandinfrastruktur auf Glasfaserbasis wird sich zunächst im geschäftlichen Verkehr schrittweise aufbauen, wo ISDN nicht ausreicht und hochwertige Videokonferenzen oder extrem hohe Datenströme die Rentabilität der Investition gewährleisten. Sie wird erst im Laufe von zwei bis drei Jahrzehnten in den privaten Bereich diffundieren.

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1.6. Multimedia Offline

Schneller als für multimediale vernetzte Breitbandmedien wird sich in den nächsten zehn Jahren dagegen der Markt für breitbandige unvernetzte Multimedia entwickeln.

Personal Computer werden in wenigen Jahren um eine interaktive Video-Dimension erweitert, für die der Begriff der virtuellen Realität geprägt worden ist. Fortschritte in der Datenkompression und Speicherung von Videoinformationen werden folgerichtig auch ohne Anbindung an öffentliche Netze neuen Ideen Nahrung geben, ein großes Marktpotential erschließen, das schon in der nächsten oder übernächsten Generation von Mikroprozessoren, Spezialprozessoren und Displays zu faszinierenden Anwendungen mit hohen Stückzahlen führen wird. In diesem Feld stammen die entscheidenden Impulse aus dem Spielemarkt. Dieser Markt ist von deutschen Firmen bisher vernachlässigt worden.

Bei den Displays ist allerdings noch ein weiter Weg zu gehen. Leider ist die deutsche Industrie auch auf diesem Feld viel zu wenig engagiert, obwohl bereits heute der Löwenanteil der Wertschöpfung in einem hochwertigen Note Book gar nicht in der Elektronik oder in der Software angesiedelt ist, sondern im Display. Dieser Trend dürfte sich eher noch verschärfen.

Treibende Kraft des technischen Fortschritts ist allerdings nach wie vor die Mikroelektronik. Grundlegend für die Entwicklung der Informationstechnik und ihrer Anwendung waren und sind der enorme Leistungsanstieg und Preisverfall bei integrierten Schaltungen. Diese Erkenntnis ist in ihren Konsequenzen für die Vergangenheit nachvollziehbar, aber für die Zukunft gewiß noch voller Überraschungen. Tatsächlich scheint sich die Entwicklung, die durch das schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert geltende Gesetz von Gordon Moore beschrieben wird, auch im kommenden Jahrzehnt fortsetzen. Alle vier bis fünf Jahre findet eine Verzehnfachung der Leistungsfähigkeit von handelsüblichen Mikroprozessoren statt, und eine neue Speichergeneration löst die alte ab.

Während 1983 die Rechenleistung eines Mikroprozessors bei rund 1 MIPS [Fn.20: Millionen Instruktionen pro Sekunde] lag, erreicht der Pentium heute bereits die hundertfache Rechenleistung, und der nächste Prozessor wartet schon auf die Markteinführung. Fachleute sagen voraus, daß in zehn Jahren Personal Computer im Markt zu erschwinglichen Preisen erhältlich sein werden, die eine Rechenleistung von 10.000 MIPS (oder 10 GIPS [Fn.21: Millionen Instruktionen pro Sekunde, G=Giga] erreichen.

Die Entwicklungsdynamik von Informationsübertragung und Informationsverarbeitung ist unter Kostengesichtspunkten ganz unterschiedlich. Ähnliches gilt für die Computer- und Bildschirmtechnik. Und wer über die Zukunft spekuliert, mag dieses Faktum berücksichtigen. Denn Kosten entscheiden über Märkte. Deshalb werden breitbandige Multimediaanwendungen ohne Netz, wird die Darstellung virtueller Realitäten mit dem Personal Computer (ganz ohne Anbindung an neue Breitbandnetze) vermutlich eine große Entwicklungsdynamik entfalten. Deshalb werden diejenigen, die einen preiswerten flachen hochauflösenden Farbbildschirm in den Markt bringen, womöglich mehr Geld verdienen als diejenigen, die einen neuen Prozessor entwickeln und durchzusetzen versuchen.

Eine Korrektur ist notwendig, wenn über die geringere Entwicklungsdynamik der Informationsübertragung gegenüber der Informationsverarbeitung lamentiert wird, und diese Korrektur ist entscheidend für den Multimediamarkt. Die Digitalisierung und Datenkompression bewirkt, wir haben schon darauf hingewiesen, einen kräftigen Fortschritt in der Funktionalität bestehender Netze. Auf einmal können dort Leistungen erbracht werden, von denen man noch vor zehn Jahren geglaubt hatte, daß dafür Breitbandnetze erforderlich seien. Was bleibt für die Breitbandnetze der Zukunft übrig?

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In dieser Studie sollen, soweit überhaupt von Breitbandanwendungen die Rede ist, vor allem die Möglichkeiten näher betrachtet werden, die breitbandige unvernetzte Multimedia für den Aufbau virtueller Realitäten bieten, und insbesondere soll an einem einfachen Beispiel diskutiert werden, was mit virtuellen Realitäten im Bereich Bildung und Training möglich wird.

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1.7. Multimedia Online

Diese Studie geht, wie gesagt, von folgender Behauptung aus:

Das Telefonnetz wird durch vollständige Digitalisierung bis zum Teilnehmer und durch rasche Fortschritte in Leistung und Kosten der Datenkompression zum wichtigsten Übertragungsmedium für Multimediadienste an der Nahtstelle des geschäftlichen und des privaten Bereichs. Auf diesem vermittelten Schmalbandnetz wird zunehmend auch Bewegtbildkommunikation möglich, wenn auch zunächst nur in begrenzter Qualität. Dadurch wird die Wirtschaftlichkeit von Investitionen in öffentliche vermittelte Breitbandnetze auf Glasfaserbasis noch weiter in die Zukunft geschoben werden.

Tatsächlich wird in der öffentlichen Diskussion der Qualitätssprung vom klassischen, in analoger Technik realisierten Schmalbandtelefonnetz zum ISDN-Netz häufig nicht ausreichend gewürdigt. Zwar ist die Deutsche Telekom in ihrer Werbung um Kunden für ISDN-Anschlüsse inzwischen aggressiver geworden [Fn.22: 1x1-Prospekte zum Datenhighway] und bemerkenswerterweise hat sie, zählt man Primärmultiplexanschlüsse und daran angeschlossene Nebenstellenanlagen mit, im Prinzip bereits mehr als 2 Millionen ISDN-Teilnehmer gewonnen und damit eine weltweite Spitzenposition erobert. Aber den Durchbruch hat sie noch nicht geschafft. Noch steht der Befreiungsschlag einer klaren Zielsetzung aus. Es gilt der Satz:

Die Deutsche Telekom und ihre künftigen Wettbewerber können Innovationen in Multimediadienste und damit die Entstehung neuer Arbeitsplätze entscheidend fördern, wenn sie in den nächsten Jahren Euro-ISDN zum Regelanschluß für alle Telefonkunden machen. Dann würden schon im Vorgriff darauf multifunktionale ISDN-Endgeräte mit interessanten

Preisen auf dem deutschen Markt erscheinen und eine neue Qualität von Dienstleistungen für geschäftliche und private Nutzer zu niedrigen Kosten ermöglichen.

Erst wenn neben den Geschäftskunden auch eine beträchtliche Zahl privater Haushalte, zumindest alle diejenigen, die über einen Personal Computer oder ein Faxgerät verfügen, auf ISDN zugreifen, werden die Endgeräte und Dienste als Folge der Kostendegression bei hohen Stückzahlen einen selbsttragenden raschen Aufschwung nehmen. Die dafür erforderlichen Investitionen im Netz sind jedenfalls klein gegenüber den Investitionen, die für eine breite Einführung von Breitband-ISDN erforderlichen wären. ISDN als Regelanschluß würde Nachfolgeinvestionen im Bereich der Endgeräte und Dienste auslösen, die mindestens um eine Zehnerpotenz höher liegen als die im Netz erforderlichen Investitionen.

Der Qualitätssprung durch ISDN findet auf zwei Ebenen statt. Zum einen im reinen Telefonverkehr, der uns hier nicht vertieft beschäftigen soll. Trotzdem ist es sinnvoll, darauf hinzuweisen, welche zusätzlichen Angebote ein ISDN-Anschluß für den reinen Telefonkunden bereithält. Dazu gehören Anklopfen mit Anzeige, Rufweiterschaltung, Gebührenanzeige, Gebührenübernahme durch den Angerufenen, Fernsprechansage, Sprachspeicherung von Anrufen, erstklassige Tonqualität und vieles andere mehr. Das Telefonieren wird komfortabler. Und Telefonieren dominiert immer noch das Geschäft der klassischen Netzbetreiber. Deshalb mag es naheliegen, daß sie die Nichttelefondienste in ihrer Entwicklungsdynamik unterschätzen.

Der eigentliche Qualitätssprung findet durch ISDN dort statt, wo es um Daten- und Bildübertragung, um Online-Dienste und Telekooperation, um Home Banking und Teleshopping, kurz, um Multimediadienste geht.

Mit ISDN als Regelanschluß im europäischen Telefonnetz könnte sich Europa im internationalen Multimediawettlauf einen Spitzenplatz erkämpfen, wenn auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen, damit neue Ideen schnell in Wachstum umgesetzt werden können. Der Vertrieb neuer Netzdienstleistungen kann durch eine Strategie der Netzbetreiber zur Stimulierung des Endgerätemarkts entscheidende Impulse erhalten. Dort und in den Multimediaanwendungen wird sich die Wertschöpfung zunehmend konzentrieren, nicht im Netz.

[Seite der Druckausgabe: 25]

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1.8. Zur Gliederung der Studie

Im folgenden Kapitel soll zunächst einmal die Entwicklung zur Informationsgesellschaft skizziert werden, die sich bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten abzeichnet, und anschließend sollen die strukturellen Stärken und Schwächen Europas genauer betrachtet werden. Europa ist dabei, sich einen Vorsprung bei der Digitalisierung der öffentlichen Netze zu erarbeiten, ist aber ansonsten in den Informationstechnologien international dritter oder gar vierter Sieger geblieben. Muß es dabei bleiben? Können Multimediadienstleistungen eine neue Chance eröffnen? Auf welche Weise solche Chancen wahrgenommen werden könnten, welche Bedingungen dafür erfüllt sein müssen, davon soll in diesem Kapitel die Rede sein, wenn wirtschaftliche Perspektiven und Engpässe in der technischen Entwicklung diskutiert werden.

Die Synergieeffekte zwischen den digitalen Netzen, den multifunktionalen PCs der Zukunft und den Applikationen, die dadurch wirtschaftlich werden, stellen für Unternehmen in Deutschland und in Europa eine nicht wiederkehrende Chance dar, weltweit eine Führungsrolle in einem der wichtigsten Zukunftsmärkte zu übernehmen, ob sie nun Netzbetreiber, Softwarehäuser, PC-Hersteller oder Diensteanbieter sind.

Zur Veranschaulichung dessen, was mit Multimedia möglich wird, sollen in Kapitel 3 acht ausgewählte und keineswegs flächendeckende Themen unter der Überschrift „Terminals und Applikationen" diskutiert werden.

Zwischenüberschriften sind PC-Fax, Pen Computing, Telekooperation, Smart Building, Online-Dienste für Text und Bild, Home Banking und Teleshopping, Verkehrsleittechnik, und schließlich Training durch Virtualware. [Fn.23: Es ist gewiß kein Zufall oder eine Marotte des Verfassers, daß der Bequemlichkeit halber englische Begriffe dominieren. Denn noch werden die Begriffe der Informationsgesellschaft in Amerika geprägt, auch wenn Europa in einigen Feldern gar nicht so schlechte Karten hätte, wie sich an Hand der Trumpf-Karte ISDN bereits hat zeigen lassen. Wenn wir sie nur ausspielen würden.]

Die ersten beiden Themen, in denen scheinbar ganz triviale Probleme diskutiert werden, haben nur einen indirekten Bezug zu Multimediadienstleistungen, vor allem, wenn man deren Definition ganz eng verstünde (Kombination mit Tönen oder Videosequenzen), was in dieser Studie nicht so streng gesehen wird. Es handelt sich im Grunde um einfache Terminals für alltägliche Dienstleistungen. Gerade deshalb stehen sie am Anfang, denn vernetzte Multimedia setzen auf einer Infrastruktur von Netzen und Endgeräten auf, deren Entwicklungsdynamik von den Kunden bestimmt wird, die oft ganz einfache Probleme lösen möchten und erst von dort zu den schwierigeren fortschreiten. Der Kundennutzen entscheidet nun einmal über die Marktdynamik und nicht die Raffinesse der technischen Lösung.

Die fünf folgenden Applikationsfelder können zu den vernetzten Multimedia im Sinne der Definition gerechnet werden. Und im letzten Applikationsfeld, im Bereich Training, soll die Entwicklung von Virtualware als langfristig besonders faszinierende Multimediadienstleistung ohne Anbindung an Kommunikationsnetze an einem Beispiel veranschaulicht werden.

Den vom Marktvolumen her vielleicht wichtigsten und dynamischsten Multimediamarkt, den Markt der elektronischen Spiele, haben wir hier nur scheinbar außen vor gelassen. Er ist zwar von einer Vielfalt, daß er den Rahmen dieser Studie sprengen würde, und kann ohnehin sehr viel kompetenter von Computer Kids geschildert und bewertet werden. Aber wir bringen gleichwohl den Spielemarkt durch die Hintertür wieder hinein, jedenfalls in einer speziellen Ausprägung.

Es würde sich lohnen, darüber nachzudenken, warum deutsche Firmen in diesem Wachstumsmarkt so eine schwache Position haben, genauer gesagt (mit der rühmlichen Ausnahme einer 1972 gegründeten deutschen Firma für elektronische Spielautomaten [Fn.24: Gauselmann-Gruppe], die aber speziell im Computerspielemarkt noch keine Entwicklungen betreibt), gar nicht darin vorkommen. Auch Nintendo, der japanische Weltmarktführer, hat früher einmal Spielkarten hergestellt und Pappe bemalt. Nur hat er im Gegensatz zu den deutschen Spieleherstellern rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt und damit einen Milliardenmarkt besetzt.

Kapitel 4 wird sich mit den wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen von Multimedia im Licht der

[Seite der Druckausgabe: 26]

acht Themen auseinandersetzen. Wie sind euphorische Prognosen von einer Million neuer Arbeitsplätze in Deutschland oder gar zehn Millionen neuer Arbeitsplätze in Europa [Fn.25: Neue Märkte durch Multimedia, Münchner Kreis, 1994] zu bewerten, wenn allein die Deutsche Telekom gezwungen ist, unter der Annahme eines Marktanteilsverlusts von 20 Prozent und bei einem realen Wachstum des Marktes von mehr als 80 Prozent in den nächsten zehn Jahren rund die Hälfte ihrer Arbeitsplätze abzubauen. (Diese pessimistische Prognose wird nur dann von der Wirklichkeit widerlegt werden, wenn die Deutsche Telekom, der Dinosaurier des Telefonzeitalters, sich in Zukunft nicht vorwiegend von öffentlichen Netzen ernährt, sondern auch bei privaten Netzen, im Endgeräte- und im Dienstebereich eine gewichtige Rolle zu spielen beginnt.) Wie wird sich die Halbierung ihrer Investitionen bereits in den nächsten Jahren auf die Arbeitsplätze der Zulieferer von Übertragungs- und Vermittlungseinrichtungen der Telekommunikation auswirken? Können die neuen Netzbetreiber diesen Aderlaß wettmachen? Sind Multimediadienstleistungen die Wachstumsfelder, die zu neuen Arbeitsplätzen führen werden (Arthur D. Little spricht allein für Europa von einem Markt in der Größenordnung von 37 Milliarden Dollar im Jahr 2000, zu welchem Wechselkurs auch immer) oder sind sie vorwiegend Rationalisierungsinstrumente und substituieren bestehende Dienstleistungen und Produkte?

Wo trägt die Multimediawelt zur Ressourcenschonung und zum Schutz der Umwelt bei, ein nicht zu vernachlässigender Aspekt, wenn man nur bedenkt, daß die Proliferation von Personal Computern von einer Proliferation leistungsfähiger Drucker begleitet war und bisher eher dazu geführt hat, daß der Papierkonsum mit all seinen umweltpolitischen Konsequenzen beträchtlich angestiegen ist? Oder wenn man bedenkt, welches Potential der Substitution von Verkehr durch Kommunikation von Multimediaanwendungen ausgehen kann.

Welche sozialen Chancen und welche Risiken sind heute schon erkennbar, etwa beim Schutz der Privatsphäre, in Deutschland merkwürdigerweise Datenschutz genannt.

In Kapitel 5 sollen Aufgaben des Staates diskutiert werden: Wie steht es um die Rechtsverbindlichkeit elektronischer Kommunikation? Wie wird sich Multimedia-Analphabetentum im internationalen Wettbewerb auswirken? Ist unser Bildungssystem gerüstet für die Herausforderung der Multimediawelt? Was ist zu tun, um durch intelligente Regulierung eine effektive Deregulierung und einen lebendigen Wettbewerb zu erreichen?

Wie kann die Entwicklung junger Multimediaunternehmen durch geeignete Rahmenbedingungen unterstützt werden, und auf welche Weise könnten die Förderungsmaßnahmen des dafür zuständigen Bundesministeriums, genannt „Zukunftsministerium", wirkungsvoller gestaltet werden? Welche Beiträge können die Landesregierungen leisten, und welche Forderungen müssen sie zugleich erheben, um nicht von den neuen Dienstleistungen abgehängt zu werden? Schließlich, wie sollte die Europäische Union tätig werden, um Entwicklungen zu fördern, und wo sollte sie sich zurückhalten, um Entwicklungen nicht zu behindern?

Im letzten Kapitel, genannt Ausblick, soll nicht über Technik und Wettbewerbsfähigkeit nachgedacht, sondern der Frage nachgegangen werden, an welchen Stellen das bekannte und bewährte Prinzip, der Luxuskonsum von heute ist der Massenkonsum von morgen (wenn es die Umwelt und andere knappen Ressourcen zulassen), auf das Wachstum des Multimediamarktes ein Licht wirft und ob die auf längere Sicht zu erwartende Verschiebung der Konsumausgaben in hochentwickelten Industrieländern heute schon realistisch eingeschätzt werden können. Wir wollen darüber spekulieren, wieviel Geld die Leute bereit sein werden, für neue Multimedia auszugeben, statt für klassisches Kino und Fernsehen, für die Urlaubsreise, das eigene Heim, ein gutes Essen oder für ihr geliebtes Auto. In welchem Umfang entscheiden sie sich am Ende für eine virtuelle Welt, wenn ihnen die reale Welt etwas zu bieten hat.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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