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VORWORT

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Es gibt derzeit wohl kaum ein Thema, das so viel Beachtung in der Presse erfährt, wie das der Informationsgesellschaft mit seinen Schlagworten Multimedia und Datenautobahnen. Gleichzeitig setzt sich erst langsam die Erkenntnis durch, daß damit nicht nur neue Formen der Freizeitgestaltung gemeint sind, sondern daß Multimedia mit seinen beträchtlichen Produktivitätsgewinnen und vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten einen weitreichenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel auslösen wird. Neue Produktionsprozesse und Arbeitsformen, neue Produkte und Dienstleistungen, aber vor allem Arbeitsplatzverluste durch einen neuen Rationalisierungsschub stellen die Politik vor enorme Herausforderungen.

Diese Entwicklung gilt es richtig einzuschätzen, um sich angemessen darauf vorzubereiten. Wenig hilfreich sind dabei euphorische - von technologischen und marktwirtschaftlichen Kenntnissen losgelöste -Prognosen zum vermuteten Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung legt mit „Multimedia im ISDN-Zeitalter" ein Gutachten vor, das die weitreichenden Auswirkungen und Zusammenhänge von Multimedia und der Informationsgesellschaft umfassend untersucht. Der Autor, Dr. Uwe Thomas, früherer Technologie-, Wirtschafts- und Verkehrsminister von Schleswig-Holstein, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Thematik. Dr. Thomas erläutert die technologischen Grundlagen von Multimedia, analysiert Anwendungen und die Märkte der nahen Zukunft, verdeutlicht sowohl die Probleme für den Arbeitsmarkt als auch die Möglichkeiten für den Umweltschutz.

Vor allem aber macht er deutlich, wo der Handlungsbedarf von Politik und Wirtschaft liegt; welche Rahmenbedingungen zu setzen sind, um vorhandene Chancen verwirklichen zu können. Aspekte des Datenschutzes und des Bildungssystems, Fragen der Innovationsförderung und der Deregulierung werden eingehend berücksichtigt. Sie berühren damit die aktuelle Debatte in den technologie- und medienpolitischen Gremien der Regierung, des Parlaments und der Parteien.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung stellt mit diesem Gutachten praxisorientierte Lösungsvorschläge vor, die die sachgerechte Diskussion in der politischen und wirtschaftlichen Öffentlichkeit fördern sollen und als Entscheidungshilfe dienen können.

Dr. Jürgen Burckhardt
Geschäftsführendes Vorstandsmitglied
der Friedrich-Ebert-Stiftung




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ZUSAMMENFASSUNG

„Multimedia" provoziert Spekulationen über Millionen (neuer?) Arbeitsplätze: Video-on-demand und Teleshopping füllen die Schlagzeilen und Konferenzen zur Datenautobahn und zur Informationsgesellschaft die Terminkalender von Politikern und Managern.

Aber was steckt wirklich dahinter? Welche Perspektiven, welche technologischen, ökonomischen, rechtlichen, administrativen, politischen und kulturellen Dimensionen werden davon berührt?

Diese Untersuchung räumt mit dem Vorurteil auf, durch Multimedia könnten in wenigen Jahren Millionen neuer Arbeitsplätze entstehen. Dagegen begründet sie, warum Multimedia ganz entscheidend dazu beitragen kann, die Vision vom umweltverträglichen Wachstum weltweit Realität werden zu lassen.

Das Gutachten konzentriert seine Überlegungen auf bereits heute realisierte Technologien und unternimmt eine nüchterne Einschätzung der sich abzeichnenden Märkte des kommenden Jahrzehnts. Gleichzeitig identifiziert es Chancen und Risiken der prognostizierten Entwicklung und zeigt auf, in welchen Bereichen Handlungsbedarf besteht.

Im Mittelpunkt des Gutachtens steht die Massennutzung von Multimedia, deren Markt dank ständig sinkender Kosten in der Computerbranche bei gleichzeitig steigender Leistung bedeutend wächst. Zu diesen Anwendungen gehören etwa Bildtelefon, Pen-Computing und Online-Dienste, aber auch Telekooperation, Verkehrsleittechnik und die Nutzung von Simulationen im Lehr- und Lernbereich (Virtual Reality). Allerdings verhindern bisher noch die umständliche Installation von Geräten und unklare Benutzeroberflächen die schnelle, massenhafte Verbreitung vieler Anwendungen.

Den Glauben, Multimedia hätten in erster Linie damit zu tun, daß über Breitbandnetze individuell Videos abgerufen werden könnten (Video on Demand), hält der Verfasser für einen Irrglauben, wie er überhaupt prognostiziert, daß die vieldiskutierten Breitbandnetze auf Glasfaserbasis in den nächsten zehn Jahren nur ganz wenige Privathaushalte erreichen und mit neuen Diensten versorgen werden. Die These des Gutachtens: Wer sich auf solche Pilotprojekte konzentriert, „wird die realen Multimediamärkte des vor uns liegenden Jahrzehnts versäumen." Die Ingenieure werden spätestens dann von den Kaufleuten eingeholt, „wenn es nicht mehr um Pilotprojekte geht, die aus der Portokasse oder den öffentlichen Haushalten finanziert werden können, sondern um Investitionen, die richtiges Geld kosten und sich rentieren müssen." Die großen Chancen liegen vielmehr, wie auch der Name der Studie andeutet, im schnellen Ausbau des Telefonnetzes zu einem integrierten digitalen Netz (ISDN - Integrated Services Digital Network).

Um die Nutzung dieser Chancen geht es in diesem Gutachten. Der Autor fordert deshalb von den Netzbetreibern in Europa eine neue Politik, in der neue Endgeräte und Dienste eine entscheidende Rolle spielen, und von den Politikern die Erkenntnis, daß neue Ideen nur dann schnell in Wachstum und Arbeitsplätze umgesetzt werden können, wenn junge Technologieunternehmen eine Chance erhalten, ihre innovativen Ideen im Weltmarkt umzusetzen. Seine These: Selbst Kleinunternehmen können durch Multimedia globale Märkte bedienen, zu Global Playern werden. In diesem Zusammenhang übt das Gutachten heftige Kritik an der Unternehmensfinanzierung in Deutschland. „Unsere von Banken-Bürokratien geprägte Finanzierungskultur reicht nicht mehr aus."

Multimedia haben nicht nur mit dem modischen Thema der Datenautobahn zu tun. Besonders interessant sind in den nächsten Jahren vor allem die Entwicklung von Personal Computern, die Virtuelle Realitäten darstellen können. Für Training, Bildung und Weiterbildung bieten diese Techniken faszinierende Perspektiven, deren Bedeutung in Deutschland noch weitgehend ignoriert wird. So können etwa für den Fahrschulunterricht schon in wenigen Jahren Multimedia-Trainer gebaut werden, die „ein realitätsnahes Risikotraining ermöglichen, ohne daß am Ende die Zerstörung des Fahrzeugs oder seiner Insassen steht."

Von der Rechtsverbindlichkeit elektronischer Kommunikation bis zur Deregulierung der Telekommu-

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nikationsmärkte, vom Strukturwandel der Arbeit bis zur Telekooperation, vom Schutz der Privatsphäre bis zur Verkehrsleittechnik spannt sich der Bogen der Expertise, und am Ende steht eine Warnung vor den virtuellen Realitäten des Multimedia-Zeitalters. „Die jungen Menschen werden virtuelle Realitäten kennenlernen, deren Faszination sie sich nicht entziehen können, zu denen sie keine Distanz gewinnen, weil sie selbst als Teil davon einbezogen werden." Möglicherweise ist die Lösung dieses Problems wichtiger als alles, was sonst zum Thema Multimedia, dieser Technik ohne Grenzen, diskutiert wird. „In einer Welt ohne Grenzen muß es gleichwohl ethische Grenzen geben, die mit der Erhaltung gewaltfreien Zusammenlebens zu tun haben und mit der Bekämpfung von Gefahren, die dieses Zusammenleben in Frage stellen können."

Berechenbarkeit und Offenheit

Multimedia brechen Grenzen auf, zunächst einmal ganz buchstäblich, indem sie national und föderal geprägte Kompetenzen und Verantwortlichkeiten in Frage stellen. Sie verändern die über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen in der Medienpolitik, stellen den Zahlungsverkehr vor ganz neue Herausforderungen, eröffnen Neuland im Bildungswesen wie in der Arbeitswelt. Sie erzwingen einen neuen ordnungspolitischen Ansatz an der Nahtstelle von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, mit dem in Deutschland bisher noch wenig Erfahrungen gesammelt worden sind. Dazu gehört eine neue Form der kooperativen Regulierung im föderalen System, die Berechenbarkeit für den Markt und Offenheit für Innovationen sicherstellt.

Die Definition

„Multimedia", folgt man der amerikanischen Beratungsfirma Arthur D. Little, „ist der für alle Anwender und Anbieter frei zugängliche Zugriff auf interaktiv steuerbare Daten-, Text-, Ton-, Sprach-, Bild- und Videoinformationen in unterschiedlichen Kombinationen unter Nutzung einer Vielfalt unterschiedlicher, transparenter Zugriffs- und Transporttechnologien."

Ziel der Studie

Ziel dieser Studie ist es, vor dem Hintergrund des zu erwartenden technischen Fortschritts im Zeithorizont des vor uns liegenden Jahrzehnts politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Multimediadiensten in Deutschland zu diskutieren. Hauptinteresse der Studie sind Massenanwendungen an der Schnittstelle des geschäftlichen, öffentlichen und privaten Bereichs, die weder dem Hörfunk noch dem Fernsehen sinnvoll zugerechnet werden können. Multimediaanwendungen im rein geschäftlich-professionellen Bereich stehen nicht im Zentrum der Studie.

Technik und Wirtschaftlichkeit

Wichtige Treiber für neue Multimediamärkte sind die sinkenden Kosten für multifunktionale Terminals und externe Speicher (z.B. CD-ROMs), ferner die Digitalisierung der Informationsübertragung und die großen Fortschritte in der Datenkompression, die dazu führen, daß der Zugriff auf interaktiv steuerbare Informationen sich um Zehnerpotenzen verbilligt.

Nicht alle Visionen, die heute in der Diskussion sind, werden in den nächsten zehn Jahren die Wirtschaftlichkeitsschwelle für Massenanwendungen erreichen. Multimediadienste wie interaktives Fernsehen oder Video on Demand, die den interaktiven Zugriff und die Manipulation von qualitativ hochwertigen Bewegtbildinformationen über Breitbandnetze voraussetzen, werden in diesem Zeitraum nur wenigen Teilnehmern zur Verfügung stehen.

Dafür werden Personal Computer in wenigen Jahren um eine interaktive Video-Dimension erweitert, für die der Begriff der virtuellen Realität geprägt worden ist. Fortschritte in der Datenkompression und Speicherung von Videoinformationen werden folgerichtig auch ohne Anbindung an öffentliche Netze neuen Ideen Nahrung geben, ein großes Marktpotential erschließen, das schon in der nächsten oder übernächsten Generation von Mikroprozessoren, Spezialprozessoren und Displays zu faszinierenden Anwendungen mit hohen Stückzahlen führen wird. Der Spielemarkt liefert in diesem Feld die entscheidenden Impulse. Dieser Markt ist von deutschen Firmen bisher vernachlässigt worden.

Das Telefonnetz wird durch vollständige Digitalisierung bis zum Teilnehmer und durch rasche Fortschritte in Leistung und Kosten der Datenkompression zum wichtigsten Übertragungsmedium für Multimediadienste an der Nahtstelle des geschäftli-

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chen und des privaten Bereichs. Auf diesem vermittelten Schmalbandnetz wird zunehmend auch Bewegtbildkommunikation möglich, wenn auch zunächst nur in begrenzter Qualität. Dadurch wird die Wirtschaftlichkeit von Investitionen in öffentliche vermittelte Breitbandnetze auf Glasfaserbasis im Teilnehmerbereich noch weiter in die Zukunft geschoben werden.

Telekommunikationspolitik und Innovation

Die Deutsche Telekom und ihre künftigen Wettbewerber können Innovationen in Multimediadienste und damit die Entstehung neuer Arbeitsplätze entscheidend fördern, wenn sie in den nächsten Jahren Euro-ISDN zum Regelanschluß für alle Telefonkunden machen. Dann würden schon im Vorgriff darauf multifunktionale ISDN-Endgeräte mit interessanten Preisen auf dem deutschen Markt erscheinen und eine neue Qualität von Dienstleistungen für geschäftliche und private Nutzer zu niedrigen Kosten ermöglichen.

Mit ISDN als Regelanschluß im europäischen Telefonnetz könnte sich Europa im internationalen Mul-timediawettlauf einen Spitzenplatz erkämpfen, wenn auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen, damit neue Ideen schnell in Wachstum umgesetzt werden können. Der Vertrieb neuer Netzdienstleistungen kann durch eine Strategie der Netzbetreiber zur Stimulierung des Endgerätemarkts entscheidende Impulse erhalten. Dort und in den Multimediaanwendungen wird sich die Wertschöpfung zunehmend konzentrieren, nicht im Netz.

Neue Unternehmen kreieren neue Märkte

Es ist zu erwarten, daß der auf Kommunikationsnetzen aufsetzende Multimediamarkt ähnlichen Gesetzen gehorchen wird wie in der Vergangenheit die Märkte der Mikroelektronik und der Softwareprodukte. Neue Wettbewerber tauchen auf und beginnen, neue Marktsegmente auszufüllen, die von Großunternehmen nicht schnell genug besetzt werden können. Damit junge europäische Unternehmen ihre Chancen in diesem weltweiten Wettlauf wahrnehmen können, sind neben der Weiterentwicklung der Netze, auf denen sie mit ihren kreativen Ideen für Endgeräte, Software und Multimediadiensten aufsetzen, die Herausbildung neuer Finanzierungsinstrumente (Börse und Venture Capital) und die Gewöhnung an internationale Vertriebsstrukturen über weltweite Netze von entscheidender Bedeutung. Selbst Kleinunternehmen können dadurch zu Global Playern werden.

Benutzeroberfläche und Endgeräte

Erst wenn multifunktionale Endgeräte so einfach in der Installation und Bedienung sind wie gewöhnliche Telefone oder Fernsehgeräte (weil die Benutzer nur zwei Stecker einstecken und einen Einschaltknopf zu drücken haben und dann durch eine intelligente Benutzerführung ohne Zeitverlust und ohne das Wälzen von Bedienungsanleitungen die Leistungsfähigkeit des PCs als multifunktionales Endgerät nutzen) wird das Wachstumspotential der Multimediadienste ausgeschöpft werden können.

ISDN und digitaler Mobilfunk in Verbindung mit leistungsfähigen multifunktionalen Endgeräten bringen einen Preisrutsch bei Electronic Mail und beim Bildtelefon. Von diesem Preisrutsch profitieren zunächst stationäre und bald auch mobile Multimediadienste. Es ist nicht abwegig, wenn der Gründer von Microsoft, Bill Gates, behauptet, daß wir vor einer Renaissance des „Briefverkehrs" in einer neuen Qualität stehen. Der Personal Computer wird zum Briefträger, zum Personal Communicator, der Bild und Ton des Absenders gleich mitbringt.

Ein Engpaß für mobile Multimediadienste sind erstklassige Flachdisplays, leistungsfähige Batterien und Mobilfunknetze, die ISDN-Qualität bieten. Mobile Multimediaanwendungen werden sich zunächst im professionellen Bereich durchsetzen, denn die Geräte sind wegen des Engpasses bei Flachdisplays und Batterien im Verhältnis zur Leistung für Massenanwendungen noch zu teuer.

Vernetztes Denken

Multimediaapplikationen tragen dazu bei, eingefahrene Strukturen aufzubrechen und stoßen dabei auf zahlreiche Hindernisse.

Am Beispiel Smart Building läßt sich zeigen, daß häufig erst durch ein vernetztes Denken und daraus abgeleitete Normen und Standards Multimediaanwendungen möglich werden, die in der Theorie technisch kein Problem sind. In der Praxis scheitern sie,

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weil ein integrativer Ansatz, der Organisations- und Zuständigkeitsgrenzen überschreitet, sich noch nicht durchgesetzt hat.

Ähnliches gilt für intelligente Systeme der Verkehrssimulation, der Verkehrsinformation und der darauf aufsetzenden Verkehrssteuerung, die zugleich die Erhebung elektronischer Mautgebühren unterstützen. Sie gehören zu den wichtigsten innovativen Multimediadienstleistungen der nächsten Jahre, denn sie tragen zur Verkehrsvermeidung bei und setzen neue Maßstäbe in der Streckenproduktivität von Schiene und Straße, eine immer noch weithin unterschätzte Aufgabe, deren Lösung Einsparpotentiale in Milliardenhöhe erschließt.

Zahlungsverkehr und Multimedia

Ein Hindernis auf dem Weg in die Multimediawelt ist die Sicherheit von Transaktionen im Netz. Erst wenn der elektronische Geldverkehr ähnlich sicher und einfach sein wird wie der normale Zahlungsverkehr, werden die Blütenträume von multimedialem Teleshopping und anderen Online-Diensten heranreifen. Die Sicherheit von elektronischem Geld könnte mit einem Public Key System gewährleistet werden, aber noch ist unklar, wie die elektronische Unterschrift unter Zahlungsanweisungen verwaltet werden soll, wer die Zertifizierung übernimmt. Noch sind amerikanische Unternehmen entscheidende Impulsgeber, ohne bisher eine weltweit tragfähige Lösung anbieten zu können. Wenn es gelänge, die europäischen Netzbetreiber und das europäische Bankensystem dazu zu bringen, ein gemeinsames Zertifizierungsnetzwerk zu entwickeln und aufzubauen, könnte Europa zum Schrittmacher bei Home Banking, Teleshopping und anderen Online-Diensten werden.

Neue Strukturen wachsen gegenwärtig nahezu organisch heran, im Wildwuchs und ohne zentrale Steuerung, wie das World Wide Web im Internet gezeigt hat. Aber die fruchtbare Anarchie stößt irgendwann an ihre Grenzen, weil im Informationsdschungel keiner mehr durchfindet. Bildschirmtext und andere Online-Dienste stehen vor der Herausforderung, ihren Kunden eine wirklich benutzerfreundliche Plattform zu bieten, auf der diese sich erstens im Diensteangebot zurechtfinden (navigieren), zweitens diese selbst zu Anbietern werden können, drittens Leistungen im Netz einfach und sicher abgerechnet werden.

Lernprozesse

Echte Videopräsenz in guter Qualität als Breitenanwendung liegt trotz der Fortschritte in der Datenkompression wegen der notwendigen hohen Investitionen in neue Glasfasernetze jenseits der Jahrzehntsgrenze. Aber Telelearning und Telekooperation sind nicht auf Videopräsenz angewiesen. Sie können auch realisiert werden, wenn nur Texte, Daten, Sprache, hochauflösende Standbilder und Video in begrenzter Qualität übertragen werden.

Trotzdem werden sich neue Formen der Telekooperation in Deutschland nur zögerlich durchsetzen, weil sie Lernprozesse voraussetzen, die auf vielfältige Hindernisse stoßen. Das gilt offenbar auch für Telelearning, bei dem noch zahlreiche organisatorische, rechtliche und psychologische Hemmnisse abgebaut werden müssen.

Multimediatechniken im Bereich Bildung und Training sind nicht auf Telelearning beschränkt. Noch wichtiger werden Offline-Techniken, die vom Computerspielemarkt entscheidende Impulse erhalten. Als Beispiel mag die Nutzung von Simulationstechniken im Fahrschulunterricht dienen. Schon in wenigen Jahren wird es soweit sein, daß Multimedia-Fahrtrainer gebaut werden können, die ein realitätsnahes Risikotraining ermöglichen, und zwar zum Preis eines normalen Fahrschulautos.

Chancen und Risiken

Eine Bilanz der Chancen und Risiken ist zur Zeit noch hochspekulativ. Sicher ist. die Arbeitswelt wird sich durch die Breitenanwendung von Multimedia strukturell verändern. Der Strukturwandel der Arbeit läßt sich an sechs Themen festmachen:

  • Teamarbeit wird gefördert (und führt zum Abbau von Hierarchien).
  • Heimarbeit (als Telearbeit) gewinnt immer mehr an Bedeutung.
  • Fachliche Mobilität wird zunehmend wichtiger als räumliche Mobilität.
  • Lebenslanges Lernen wird deshalb zur neuen Herausforderung an das öffentliche und private Bildungssystem.
  • Software und Know-how-Produktion bestimmen die Arbeitsplatzsicherheit.

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  • Die Produktivität steigt nicht nur im industriellen Sektor, sondern auch im Informationssektor immer schneller an.

Ob in Deutschland die Chancen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze durch Multimediainnovationen überwiegen oder Produktivitätssteigerungen im Vordergrund stehen werden und damit zu steigender Arbeitslosigkeit führen, weil nur die Produktivitätssteigerung, aber nicht die Erschließung neuer Märkte in Deutschland stattfindet, wird durch die Innovationspolitik der nächsten Jahre ganz wesentlich mit bestimmt werden. Euphorische Prognosen über Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze durch Multimedia sind bisher reine Spekulation und durch nichts begründet.

Weniger zwiespältig stellt sich die Bilanz von Multimedia im Hinblick auf Ressourcenschonung und Umweltverträglichkeit dar. Hier wären euphorische Prognosen eher angebracht, wie das Beispiel der Substitution und effizienten Regelung von Verkehr zeigt. Multimedia tragen zu einer effizienteren Nutzung von knappen Ressourcen bei und erhöhen zugleich die volkswirtschaftlichen Spielräume für um-weltverträgliches Wachstum.

Der „Gläserne Mensch" wird im Multimediazeitalter nicht nur technisch möglich, sondern auch wirtschaftlich realisierbar. Gleichzeitig entstehen jedoch zur Bekämpfung unerwünschter Transparenz immer ausgefeiltere Techniken, die den fremden Zugriff auf geschützte Informationen wirkungsvoll vereiteln. Eine europäisch geprägte Datenschutzstrategie ist notwendig, welche die Risikopotentiale erkennt und den technischen Fortschritt zur Problemlösung nutzt.

Datensicherheit, Datenschutz und Rechtsverbindlichkeit der Kommunikation stellen den Gesetzgeber vor neue Aufgaben. Dazu gehört in den nächsten Jahren unter anderem eine schnelle und umfassende Regelung des Problems der elektronischen Unterschrift, um die Sicherheit von Transaktionen zu gewährleisten. Noch sind wir weit entfernt von einer weltweit anerkannten Lösung, wie beispielsweise Vertragsabschlüsse im Rahmen der Telekooperation rechtswirksam auf Computernetzen dargestellt werden können. Aber es wird höchste Zeit, dem Innovationstempo des Internet ein vergleichbares Innovationstempo in der Anpassung der nationalen und internationalen Rechtssysteme an die Seite zu stellen.

Bund und Länder

Innovative Regulierungsmechanismen sind in Deutschland Neuland und drohen gerade bei Multimedia an der föderativen Struktur zerrieben zu werden. Die Länder sind für Rundfunk zuständig und legen deshalb den Rundfunkbegriff weiträumig aus. Das könnte zu einem ernsten Innovationshindernis werden.

Der Bund ist für die Regulierung des Fernmeldewesens zuständig und bisher nicht bereit, den berechtigten Interessen der Länder an der Mitgestaltung der neuen Kommunikationsformen durch entsprechende Strukturen der geplanten Regulierungsbehörde Rechnung zu tragen.

Ein zukunftsweisender Kompromiß könnte darin bestehen, daß zum einen die Länder zustimmen, den Rundfunkbegriff und damit die Funktionen der Landesmedienanstalten auf die herkömmliche Art von Rundfunk im dualen System zu beschränken. Im Gegenzug müßte der Bund ihnen mehr Rechte bei der geplanten Regulierungsbehörde einräumen. Die Bundesregierung sollte die geplante Regulierungsbehörde in Anlehnung an die amerikanische Federal Communications Commission mit einem Senat als Führungsgremium ausstatten, der von Bundestag und Bundesrat bestätigt werden muß. Das hätte den entscheidenden Vorteil, daß bei einem Regierungswechsel nicht jedesmal die Regulierungspolitik völlig neu aufgerollt wird und damit für Unternehmen, die langfristig Investitionssicherheit brauchen, unberechenbar wird.

Förderung

Förderung der Innovation im Multimediamarkt ist eine gemeinsame Aufgabe von Wirtschaft und Staat. Die Wirtschaft ist gefordert, die Chancen zu erkennen, die eine Symbiose von jungen Wachstumsfirmen und großen kapitalkräftigen Unternehmen im Weltmarkt bietet.

Der Staat ist gefordert, Forschung und Entwicklung gezielt zu fördern, um neue Märkte zu erschließen. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, daß die Förderung von Forschungsprojekten Vermarktungsstrategien der geförderten Unternehmen als entscheidendes Kriterium betrachtet und sich nicht wie bisher vom Rest der Politik isoliert, sondern sich in eine Gesamtstrategie einordnet, in der die betrof-

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fenen Ressorts kooperieren, um Hindernisse für neue Applikationen zu beseitigen, Standards voranzutreiben und die Rahmenbedingungen rechtzeitig den technischen Möglichkeiten anzupassen.

Ausblick

Das Thema dieser Studie könnte dazu verführen, Multimedia zum Kern künftigen Wirtschaftens hochzustilisieren. Das trifft nur bedingt zu. Die Grundbedürfnisse der Menschen, die sich ganz nüchtern darin niederschlagen, wofür sie ihr Geld auszugeben bereit sind, werden sich wohl auch im Multimediazeitalter nicht grundlegend ändern. Surfen auf dem Wasser macht vielen mehr Spaß als Surfen im Internet. Genauso wie das Fernsehen andere Formen der Unterhaltung und Information nicht grundsätzlich in Frage gestellt hat, aber insgesamt das Budget für Unterhaltung und Information eher eine Frage der Einkommenshöhe als der angebotenen Technik war, werden wohl auch Multimedia keine grundlegende Verschiebung in den Haushaltsbudgets zuungunsten des Autos, der Wohnung und ihrer Einrichtung, der Ausgaben für Urlaub, Sport und ein gutes Essen bewirken.

Die Produktion von Gütern und Dienstleistungen wird sich dagegen gründlich verändern. Multimedialösungen werden in einer Vielzahl von Dienstleistungen auftauchen, die industrielle Fertigung, die Reparatur und Wartung und den Vertrieb von Gütern nachhaltig beeinflussen.

Bei vielen jungen Menschen beginnt der Computer, den Fernseher zu substituieren, weil er mehr zu bieten hat. Bald wird er den Fernseher integrieren. Zu einem Risiko für die Stabilität unserer Gesellschaft - gefördert durch den immer raffinierter werdenden Computerspielemarkt und den weltweiten Free Flow of Information - könnte die Manipulation von jungen Menschen und eine noch gezieltere Einübung in Kriminalität werden, wie sie mit der Darstellung von Gewalt im Fernsehen und auf Videos begonnen hat und durch Multimedia eine noch größere Suggestivkraft gewinnt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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