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Die Krise des Parteienstaates

Seit Anfang der neunziger Jahre hat sich in Italien eine Transformation des Parteiensystems vollzogen, die in Westeuropa ohne Beispiel ist. Ein „Erdbeben in Zeitlupe" hat das politische System erschüttert. Die „Democrazia Cristiana" (DC), die Hegemonialpartei seit 1946, hat sich in mehrere Formationen aufgelöst. Die traditionelle politische Elite ist durch Strafverfahren wegen Korruption dezimiert worden. Im Norden des Landes hat sich eine populistische Bewegung etabliert, die mit ihrer Forderung nach Sezession die Auflösung des 1860 gegründeten italienischen Einheitsstaates betreibt. Im Mai 1996 sind erstmals Politiker der Linksdemokraten (Partito Democratico della Sinistra – PDS), der ehemaligen Kommunistischen Partei, in die Paläste der Macht am Tiber eingezogen. Zur Erklärung des Umbruchs, der im italienischen Parteiensystem stattgefunden hat und der noch keineswegs abgeschlossen ist, wird vielfach angeführt, der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa habe den italienischen Wählern die Angst vor den Kommunisten genommen und die Christdemokraten als Verteidiger der Freiheit entbehrlich werden lassen.

Sicherlich wird niemand daran zweifeln, daß der Ost-West-Konflikt in Italien von Anfang an die Innenpolitik geprägt hat. Seitdem die Kommunistische Partei 1947 aus der Regierung De Gasperi ausgeschlossen wurde und den Kampf gegen den Marshall-Plan aufnahm, wirkte der Kalte Krieg als ein Faktor innenpolitischer Polarisierung. Die stärkste kommunistische Partei des Westens galt über Jahrzehnte hinweg als Antisystem-Partei, während die Christdemokraten sich erfolgreich als Bollwerk der Freiheit darstellten. Die USA griffen vielfach offen oder verdeckt in die italienische Innenpolitik ein, und die Sowjetunion blieb immer ein Bezugspunkt für den PCI, zunächst als anerkannte Führungsmacht der kommunistischen Weltbewegung, später als Verkörperung eines obsoleten Sozialismus-Modells, von dem sie sich zu distanzieren genötigt sah. Weil der PCI als nicht koalitionsfähig galt und über Jahrzehnte hinweg kein Wechsel zwischen den führenden Parteien des Regierungslagers und der Opposition stattgefunden hatte, wurde Italien bis vor kurzem von politischen Akteuren im Lande selbst wie von ausländischen Beobachtern als „blockierte Demokratie" bezeichnet. Die Unwahrscheinlichkeit eines Machtwechsels wiederum hat nach diesem Verständnis die Entwicklung eines Systems der institutionalisierten Korruption begünstigt.

Vergegenwärtigt man sich aber, daß etwa das deutsche Parteiensystem trotz der Vereinigung vergleichsweise stabil geblieben ist, so liegt die Vermutung nahe, daß andere Faktoren als das Ende des Ost-West-Konflikts die Entwicklung des italienischen Parteiensystems bestimmt haben. Bestätigt wird diese Vermutung, wenn man die Dynamik der italienischen Innenpolitik seit Anfang der neunziger Jahre schärfer ins Auge faßt.

Der Umbruch im Parteiensystem wurde durch drei Faktoren ausgelöst, die sich in der Wirkung wechselseitig verstärkten: die sogenannte Revolution der Richter, den Aufstieg einer regionalen Protestpartei im reichen Norden des Landes und die Reform des Wahlrechts. Mit der Verhaftung eines Gefolgsmannes des Sozialisten-Chefs Craxi wegen der Erpressung von Schmiergeldern eröffnete die Mailänder Justiz im Februar 1992 einen Feldzug gegen die organisierte Korruption. Binnen kurzer Zeit wurde gegen Hunderte von Politikern, öffentlichen Amtsträgern und Parteifunktionären ermittelt, als Staatsanwälte und Richter in anderen Teilen Italiens dem Beispiel der Mailänder Kollegen folgten. Das Vorgehen der Richter gegen die illegale Parteienfinanzierung wirft zwangsläufig die Frage auf, warum die Justiz erst 1992 zugeschlagen und es gewagt hat, gegen die „politische Klasse" vorzugehen. Die Justiz wurde sicher durch die Beobachtung ermutigt, daß die Sterne der Christdemokraten im Sinken begriffen waren, wie das Ergebnis der Parlamentswahl vom April 1992 anzeigte. Außerdem bedienten sich die Richter geschickt der Medien und konnten mit deren Unterstützung für sich den Auftrag zu einer Säuberung des öffentlichen Lebens in Anspruch nehmen.

Die Sensation der Parlamentswahlen vom April 1992 lag darin, daß die 1984 gegründete Lombardische Liga, die den Protest gegen Bürokratie, hohe Steuern und römischen Zentralismus organisierte, im Norden Italiens mit 17 Prozent der Stimmen zur zweitstärksten politischen Kraft nach den Christdemokraten wurde. Die Christdemokraten rutschten erstmals unter die 30-Prozent-Marke. Die größte Oppositionspartei, die Partei der demokratischen Linken, erlebte einen tiefen Einbruch. Ihr Chef Occhetto hatte unter dem Eindruck des Falls der Berliner Mauer im Herbst 1989 eine Erneuerung der Partei eingeleitet. Der Namenswechsel sollte den Bruch mit der diskreditierten ideologischen Tradition des Kommunismus symbolisieren, hatte aber die Abspaltung einer orthodoxen Minderheit (Rifondazione Comunista – Kommunistische Neugründung) zur Folge, die den Linksdemokraten Mitglieder und Wähler entzog.

Es mag sein, daß die Identitätskrise und die Schwächung der Kommunisten manche christdemokratischen Wähler ermutigt hat, ihrer Partei den Rücken zu kehren. Doch reicht diese mittelbare Wirkung des Endes des Ost-West-Konflikts keineswegs aus, um die Dynamik der Transformation im italienischen Parteiensystem zu erklären. Als weitaus folgenreicher erwies sich die Wahlrechtsreform, die im Sommer 1993 vom Parlament beschlossen wurde. Den Anstoß dafür lieferte eine überparteiliche Bewegung, die ein Referendum zur Reform des Wahlrechts für die zweite Kammer, den Senat, durchsetzte. Die überwältigende Zustimmung der Stimmbürger setzte dann das Parlament unter Zugzwang, das Wahlrecht insgesamt zu reformieren. Das Ergebnis ist ein Wahlsystem, bei dem 75 Prozent der Sitze in Einerwahlkreisen mit relativer Mehrheitswahl vergeben werden. Die übrigen 25 Prozent werden nach Verhältniswahl zugeteilt, wobei landesweit eine Sperrklausel von 4 Prozent greift. Erreicht werden sollte mit der Reform eine Bipolarisierung des Parteiensystems, d.h. die Herausbildung zweier großer politischer Lager, die sich künftig als Regierung und Opposition abwechseln würden. Der Wähler könnte anders als zuvor zwischen zwei konkurrierenden Koalitionen entscheiden. Ferner würde das Persönlichkeitselement durch die Einerwahlkeise gestärkt, und die Parteizentralen würden weniger Einfluß auf die Kandidatenaufstellung haben.

Der Niedergang der alten Regierungsparteien und die Erfolge von Mitte-Links-Bündnissen unter Führung der Linksdemokraten (PDS) bei den Kommunalwahlen vom November 1993 riefen den politischen Unternehmer Berlusconi auf den Plan. Gestützt auf sein Medienimperium, gründete er eine neue Partei mit liberal-konservativem Programm, die Forza Italia (Vorwärts Italien). Im Bündnis mit den Neofaschisten des Movimento Sociale Italiano (MSI) und der Lega Nord gewann er im März 1994 die Parlamentswahlen und konnte die Führung der Regierung übernehmen. Mit 43 Prozent der Stimmen und 58 Prozent der Mandate in der Abgeordnetenkammer hatte sich das Mitte-Rechts-Bündnis als diejenige Kraft erwiesen, die sich am erfolgreichsten der Logik des neuen Wahlrechts bediente. Das aus acht Parteien und politischen Gruppierungen zusammengesetzte Linksbündnis unter Führung des PDS erhielt mit 34 Prozent der Stimmen auch 34 Prozente der Mandate. Die Nachfolgepartei der Christdemokraten, der PPI (Partito Popolare Italiano), und ihre Verbündeten gewannen 16 Prozent der Stimmen, aber nur 7 Prozent der Mandate.

Trotz ihres eindeutigen Wahlsiegs zerbrach die von Berlusconi geschmiedete Koalition nach knapp acht Monaten daran, daß sie ein heterogenes Bündnis von Parteien mit divergierenden Programmen und Interessen war. Während die Lega Nord für eine Aufteilung Italiens in drei Gliedstaaten focht, setzten sich die Neofaschisten, unter dem Namen Nationale Allianz (Alleanza Nazionale) als respektable konservative Kraft auftretend, für einen starken Staat mit präsidentieller Regierung ein. Die Forza Italia bekannte sich zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, die Nationale Allianz machte sich zum Anwalt der Staatsunternehmen. Herbeigeführt wurde der Bruch der Koalition jedoch vom Führer der Lega, Umberto Bossi, denn Lega und Forza Italia konkurrieren im Norden um dasselbe Wählerpotential, und ein Erfolg der Regierung Berlusconi drohte der Lega das Wasser abzugraben. Nach dem von Bossi erzwungenen Rücktritt der Regierung Berlusconi im Dezember 1994 bildete dessen Schatzminister, der langjährige Generaldirektor der italienischen Zentralbank, Lamberto Dini, eine Übergangsregierung. Diese wurde nun im Parlament von den Linksdemokraten (PDS) und dem PPI, die zuvor in Opposition zur Regierung Berlusconi standen, sowie von der Lega Nord gestützt und brachte es auf eine Amtszeit von immerhin 16 Monaten.

Sucht man die Auswirkungen, die die Zeitenwende von 1989/1990 auf die italienische Innenpolitik gehabt hat, präziser zu bestimmen, so ergibt sich demnach folgender Befund: Das Ende des Ost-West-Konflikts hat die schon in den siebziger Jahren begonnene Verwandlung der Kommunistischen Partei in eine sozialdemokratisch orientierte Reformpartei, auch in eine „normale" italienische Partei mit organisierten politischen Flügeln, zum Abschluß gebracht. Daß sie in diesem Prozeß geschwächt wurde, hat ihre Koalitionsfähigkeit paradoxerweise verbessert. Die Democrazia Cristiana ist nicht so sehr deswegen untergegangen, weil ihre antikommunistische Schutzfunktion weggefallen ist, sondern weil die Wähler ihrer alten Garde die Hauptverantwortung für Korruption, Zusammenarbeit mit dem organisierten Verbrechen, Mißwirtschaft und bürokratische Ineffizienz angelastet haben. Mit dem Niedergang alter Parteien und der Reform des Wahlrechts haben sich auf dem politischen Markt neue Gelegenheiten geboten, die strategisch planende Akteure genutzt haben – zunächst der erfolgreiche Amateur Silvio Berlusconi im Stil des telekratischen Cäsarismus, nach dessen Scheitern als Regierungschef der neue Parteiführer des PDS, Massimo D’Alema, der seinen Erfolg der größeren Professionalität in der Koalitionspolitik verdankt.


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