SOZIALISTISCHE MITTEILUNGEN

News for German Socialists in England

This News Letter is published for the information of Socialdemo-
crats from Germany who are opposing dictatorship of any kind


Nr.107[1]

Januar 1948


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PV - Sitzung

I. Kommuniqué

Am 19. und 20. Dezember 1947 fand eine Sitzung des Vorstandes der SPD in Hannover statt.

Im Mittelpunkt der Verhandlungen stand die Aussprache über die durch die Vertagung der Londoner Außenministerkonferenz entstandene Lage. Nach dem Referat des Parteivorsitzenden, Dr. Kurt Schumacher, stellte die Aussprache völlige Uebereinstimmung in allen entscheidenden Punkten fest. Allgemein war das tiefe Bedauern darüber, daß der Herrschaftsanspruch der Sowjetrussen und ihr Versuch, die deutsche Wirtschaft zum Ausbeutungsobjekt zu machen, die Vertagung der Londoner Konferenz herbeigeführt hat.

Die Sozialdemokratie hofft, daß damit nicht alle Möglichkeiten zu einem Ausgleich der Sieger untereinander zerstört sind. Die Alliierten haben bisher die Möglichkeit einer von der Sozialdemokratie gewollten Politik der demokratisch fundierten Mitwirkung der Deutschen nicht gewährt und tragen darum die Verantwortung. Keine machtpolitische Gruppierung der Alliierten auf deutschem Boden wird die Sozialdemokratie daran hindern, für die deutsche Einheit zu kämpfen.

Die Entwürdigung des nationalen Gedankens durch den Einheitsrummel der Kommunisten und ihrer bürgerlichen Zwangssatelliten aus der Ostzone fand allgemeine Ablehnung. Es wurde der einstimmige Beschluß gefaßt, daß die Teilnahme an sogenannten Volkskongressen[2] und deren Unterstützung mit der Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei unvereinbar ist.

Mit der gleichen Entschiedenheit wandte sich der PV gegen den Versuch von Länderregierungen und Einzelpersonen, die Länder in die Rolle souveräner und international vertragsfähiger Staaten zu bringen. Uebereinstimmend wurde festgestellt, daß diese Gewissenlosigkeit von Deutschen gegenüber Deutschland nur dazu führen soll, sich dem gerechten Lastenausgleich zu entziehen.

Darüber hinaus würde der Partikularismus dazu führen, Deutschland wirtschaftlich und politisch funktionsunfähig zu machen, die Belebung der Wirtschaft und den Erfolg des Marshall-Planes zu gefährden.

Für ein von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands als erste bereits vor längerer Zeit gefordertes Besatzungsstatut wurden dem Parteivorstand Richtlinien vorgelegt, die vom Verfassungspolitischen Ausschuß ausgearbeitet worden sind.

Der Parteivorstand akzeptierte einstimmig diese Richtlinien in der Ueberzeugung, daß die Schaffung eines Besatzungsstatuts angesichts der jetzigen Lage die einzig mögliche organisatorische Maßnahme darstellt. Entsprechende Schritte zur Realisierung dieser Notwendigkeit werden vom Vorstand der SPD in den nächsten Tagen eingeleitet werden.

Ueber die Frage eines künftigen Wahlsystems lagen dem Parteivorstand Vorschläge des Fachausschusses vor, die nach kurzer Diskussion zur weiteren Beratung zurückverwiesen wurden.

Mit einer Reihe von organisatorischen Beschlüssen über die Bildung eines kulturpolitischen Ausschusses, über die Stellungnahme zu verschiedenen Sonderorganisationen, über die Teilnahme an der nächsten Tagung des Internationalen Arbeitsausschusses, über die Stellungnahme zum Friedensbüro und die Berufung eines sozialpolitischen und kommunalpolitischen Sekretärs in die Zentrale der Partei wurden die Beratungen abgeschlossen.

II. Ergänzende Informationen

Im Nachtrag zu dem offiziellen Kommuniqué über die Sitzung des Vorstandes der SPD werden noch folgende Mitteilungen bekannt:


1. Kulturpolitischer Ausschuß:

Der Parteivorstand beschloß in seiner Sitzung vom 19. Dezember 1947 die Errichtung eines kulturpolitischen Ausschusses beim Parteivorstand der damit die Reihe der übrigen Beratungsorgane des Parteivorstandes ergänzt. Die kulturpolitische Ausschuß setzt sich aus folgenden Mitgliedern zusammen:

Albrecht, August, Hannover
Borinski, Dr. Fritz, Göhrde b. Celle
Eichler, Willi, Köln
Grimme, Adolf, Hannover
Hennig, Arno, Hannover
Jensen, Toni[3], Kiel
Kappius, Jupp [4], Bochum
v. Knöringen, Waldemar, München
May, Walter[5], Berlin
Metzger, Ludwig, Darmstadt

Prüfer, Dr. Guntram, Hamburg
Nestripke, Dr. Siegfried[6], Berlin
Schmid, Prof. Dr. Carlo, Tübingen
Schult, Johannes, Hamburg
Schulz, Dr. Claus-Peter, Berlin
Siemsen, Prof. Anna[7], Hamburg
Wehn, Hans[8], Hamburg
Winkler, Erich, Berlin
Wolff, Willi[9], Düsseldorf.

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2. Internationale Arbeitsgemeinschaft:

Der nachfolgende Brief des Generalsekretärs der Labour Party wurde in der Sitzung des Parteivorstandes verlesen:

Mein lieber Schumacher!

Ich bin sehr erfreut, Ihnen wärmstens gratulieren zu können anläßlich der Aufnahme der deutschen Sozialdemokratischen Partei in die Gemeinschaft des internationalen Sozialismus. Dies ist für mich ein besonderes Vergnügen, da ich das Privileg hatte, im Auftrag der Britischen Labour Party die Initiative auf der Bournemouth Konferenz vor 12 Monaten zu übernehmen, um ihre Aufnahme zu sichern.

Sie werden interessiert sein zu erfahren, daß keine der sozialistischen Parteien Europas glaubte, daß die deutsche Sozialistische Einheitspartei irgendein Recht hatte, als die demokratische sozialistische Partei anerkannt zu werden. Sie werden daher verstehen, daß gegenteilige Ansichten, die von einzelnen Personen irgendeines Landes geäußert werden, völlig unrepräsentativ im Hauptstrom des sozialistischen Gedankens sind, der fest davon überzeugt bleibt, daß die Zukunft des demokratischen Sozialismus in Deutschland von dem wachsenden Einfluß der SPD abhängt.


Mit brüderlichen Grüßen!
gez. Morgan Phillips.

P.S. Seit ich das obige geschrieben habe, erfahre ich, daß eine kleine Anzahl von Labour Abgeordneten Grüße an die Konferenz, die von der SEP organisiert war, geschickt hat. Ich möchte daher nochmals betonen, daß dies in keiner Weise die Meinung der Britischen Labour widerspiegelt."

Zu der Sitzung des Internationalen Komitees am 10. und 11. Januar in London wurde der Vorsitzende der Partei, Dr. Kurt Schumacher, delegiert.


3. Stellungnahme zu verschiedenen Organisationen:

Erich Ollenhauer berichtete über die Vereinigungsbestrebungen der verschiedenen Europabund-Organisationen. Eine endgültige Stellungnahme kann erst bezogen werden, wenn die Verhältnisse in diesen Organisationen geklärt sind.

Gegenüber der Deutschen Wählergesellschaft[10] empfiehlt der Vorstand der Partei größte Zurückhaltung zu üben. Als unvereinbar mit den Zielen der Sozialdemokratischen Partei wird die Tätigkeit für den "Bund deutscher Föderalisten"[11] angesehen.

Ueber das Komitee für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa[12] sollen noch Erkundigungen bei den befreundeten sozialistischen Parteien eingezogen werden, bevor endgültig Stellung genommen wird.


4. Sekretariate:

Erich Brost, der bisher als Sekretär des Parteivorstandes in Berlin tätig war, übernimmt Anfang nächsten Jahres eine neue Aufgabe und scheidet damit aus der bisherigen Funktion aus. In der Sitzung des Parteivorstandes wurde ihm der Dank für seine erfolgreiche Arbeit zum Ausdruck gebracht.

Zum Leiter des Sozialpolitischen Referates beim Parteivorstand wurde Dr. Rudolf Gerstung[13], bisher Stade, bestellt, der seine Tätigkeit in Hannover bereits aufgenommen hat.

Mit der vorläufigen Leitung des Kommunalpolitischen Sekretariats beim Parteivorstand wurde Dr. Otto Berling[14], bisher Oberkreisdirektor in Aachen, betraut.


5. Deutsches Friedensbüro:

Der Beschluß des Parteivorstandes vom 17. September 1947: "Die Bildung eines von Parteien- und Ländervertretern kontrollierten Friedensbüros" anzustreben, wurde nach einem Bericht über die gegenwärtige Situation bestätigt. Es sollen Schritte unternommen werden, um diesem Beschluß Wirksamkeit zu verleihen. Der gegenwärtige Zustand wird als völlig unbefriedigend angesehen.


6. Ueber das künftige Wahlsystem:

Der Verfassungspolitische Ausschuß beim Parteivorstand hat sich in seinen Beratungen mit den Fragen des künftigen Wahlsystems beschäftigt. Eine Einigung ist in diesem frühen Stadium noch nicht in allen Punkten erzielt. Der Parteivorstand hat die bisher vorliegenden Ergebnisse zur Kenntnis genommen. Sie sollen in einem größeren Kreis weiter beraten werden.

In einer Reihe von Punkten ist über die damit im Zusammenhang stehenden Fragen Einigung erzielt. Der Parteivorstand hat davon Kenntnis genommen.

(Eigenberichte)

Besatzungsstatut

I. Brief an den Alliierten Kontrollrat

Die gegenwärtige Form der Ausübung der Besatzungshoheit hält Deutschland in einem Zustande rechtlicher, administrativer und organisatorischer Unsicherheit, der es den deutschen Länderregierungen, zonalen und überzonalen Organen

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unmöglich macht, die ihnen durch die Verhältnisse gestellten Aufgaben zu lösen und die Verwaltung aus dem Stadium der Improvisationen herauszuführen. Die Lebensbedürfnisse der deutschen Bevölkerung und die möglichst rationelle Ausnutzung der Deutschland verbliebenen Wirtschaft können aber nur durch eine auf sicherer rechtlicher Grundlage stehende und vor unvorhersehbaren Eingriffen gesicherte deutsche Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung gesichert werden.

Desgleichen wird es so lange unmöglich bleiben, eine geordnete Finanzwirtschaft und eine geordnete Bewirtschaftung landwirtschaftlicher und industrieller Erzeugnisse durchzuführen, als die Deutschland zur Durchführung der Besatzungszwecke auferlegten Leistungen nicht in ein erträgliches Verhältnis zu seiner Leistungsfähigkeit gebracht worden sind.

Das deutsche Volk hatte sich eine Lösung dieser Probleme von der Londoner Konferenz der Außenminister erhofft. Durch die Vertagung dieser Konferenz ist aber die Herstellung geregelter Verhältnisse für Deutschland auf unbestimmte Zeit verschoben worden.

Es besteht also die Gefahr, daß der bisherige, nur sehr fragmentar geregelte Zustand der Ausübung der Besatzungshoheit für längere Zeit aufrechterhalten bleiben könnte; dies würde aber die für die wirtschaftliche Erholung Deutschlands und Europas sowie für die Demokratisierung des deutschen Volkes so notwendige Normalisierung des öffentlichen Lebens in unserem Lande unmöglich machen.

Abhilfe kann nur dadurch geschaffen werden, daß bis zur endgültigen Friedensregelung die für die Ausübung der Besatzungshoheit maßgeblichen Grundsätze klar definiert und für beide Seiten verbindlich gemacht werden.

Der Vorstand der SPD wendet sich an den Alliierten Kontrollrat als die zur Zeit für die gesamtdeutschen Angelegenheiten zuständige Stelle mit der Bitte, die Frage eines die Ausübung der Besatzungshoheit in Deutschland regelnden Statutes zu prüfen und bittet ihn weiter, sich die in der Sitzung des Parteivorstandes vom 20. Dezember 1947 beschlossenen Richtlinien zu eigen machen zu wollen.

II. Grundsätzliches aus den Vorschlägen


A. Grundsätzliches

Die Ausübung der Gebietshoheit durch Besatzungsmächte bedeutet, daß sich zwei Rechtsordnungen und zwei Staatsgewalten ineinanderschieben. Soll bei der Abgrenzung der Konkurrenz beider Ordnungen nicht das bloße Recht des Stärkeren maßgebend sein, müssen beide Ordnungen zueinander in ein rechtliches, nicht nur ein faktisches Verhältnis gestellt werden. Die durch das Dasein der Besatzungstruppen und Besatzungsorgane und die Durchführung des Besatzungszweckes notwendig werdenden Leistungen des besetzten Gebietes müssen so genau bestimmt sein, daß eine zuverlässige Haushaltsführung, Planung und Lenkung der Wirtschaft sowie eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung möglich werden. Es müssen von den Besatzungsmächten ins einzelne gehende Bestimmungen geschaffen werden, die so gefaßt sind, daß sowohl deutsche Behörden als auch einzelne Deutsche sich auf sie berufen können, um von jeder Stelle, die von ihnen etwas fordert, im einzelnen den Nachweis eines Rechtstitels verlangen zu können. Im einzelnen setzt sich der Besatzungszweck aus folgenden Elementen zusammen:

a) Militärische, wirtschaftliche und moralische Demilitarisierung; b) Einstweilige Sicherung der Reparationsleistungen; c) Denazifizierung; d) Demokratisierung.

Der Sinn einer Einzelregelung des Besatzungsverhältnisses ist hiernach:
1. die Schaffung eines sinnvollen Ausgleiches und einer klaren Abgrenzung zwischen den Rechten, die der Besatzungsmacht im Rahmen der oben beschriebenen sachlichen Grenzen zustehen müssen und den Befugnissen der Organe des besetzten Landes, die nicht nur nach den allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen, sondern schon vom praktischen Bedürfnis her über das erforderliche Maß nicht eingeschränkt werden dürfen; [2.] die Herstellung einer gerechten Relation

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der Besatzungslasten einschließlich aller Sach- und Dienstleistungen zu den finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten des besetzten Gebietes.


B. Justiz

Auf dem Gebiete der Rechtsetzung sollten die Besatzungsmächte sich darauf beschränken, eigene gesetzgeberische Tätigkeit nur dort zu entfalten,

1. wo bei Vorliegen eines alle vier Zonen betreffenden deutschen Bedürfnisses der Mangel einer zentralen deutschen Legislative die treuhänderische Gesetzgebung des Kontrollrates erforderlich macht;

2. wo dies für die Sicherheit und den Unterhalt der Besatzung erforderlich ist;

3. wo die Verwirklichung des Besetzungszweckes deutschen Gesetzgebern nicht anvertraut oder zugemutet werden kann.

Im übrigen sollte die gesetzgebende Gewalt der deutschen Länder und ihnen übergeordneter legislativer Organe grundsätzlich anerkannt werden.

Die Justizhoheit der deutschen Länder sollte durch die Besatzungsmächte grundsätzlich anerkannt und die Unabhängigkeit der Richter auch ihnen gegenüber zugesichert werden.

Die Militärgerichtsbarkeit der Besatzungsmächte sollte sich nur erstrecken auf:

a) Straftaten von Angehörigen der Besatzungstruppen und ihres Gefolges; b) deutsche Staatsangehörige und in Deutschland sich aufhaltende Ausländer, die sich eines Verbrechens oder Vergehens gegen Personen oder Eigentum im Bereich der Besatzungsmächte oder gegen Rechtsvorschriften der Besatzungsbehörden schuldig gemacht haben; c) Kriegsverbrecher im eigentlichen Sinne des Wortes.

Verhaftungen deutscher Staatsangehöriger sollten nur auf Grund eines Haftbefehls der Militärgerichte zulässig sein. Der Verhaftete sollte auf Grund der allgemeinen Menschenrechte das Recht auf Verteidigung durch einen Anwalt seines Vertrauens, das Recht auf Besuch durch nahe Angehörige und das Recht auf Aburteilung innerhalb bestimmter Fristen haben. Sicherheitsverwahrungen von deutschen Staatsangehörigen durch Organe der Besatzungsmächte sollten unverzüglich den deutschen Regierungsstellen unter Bekanntgabe der Gründe mitgeteilt werden.


C. Verwaltung

Grundsätzlich sollten auch Eingriffe in die deutsche Verwaltung und unmittelbare Ausübung eigener Verwaltung der Besatzungsbehörden durch den strikten Besatzungszweck begrenzt sein. Maßnahmen, die sich auf die Deutschland aufzuerlegenden Reparationsleistungen beziehen, sollten sich nur auf einstweilige Sicherstellung der Reparationsansprüche beschränken. Jedes andere Verfahren müßte notwendig die Friedensregelung präjudizieren und wäre kaum in Einklang mit dem geltenden Völkerrecht zu bringen, das die einseitige Regelung von Ansprüchen nicht gestattet.


D. Natural- und Dienstleistungen

Selbstverständlich können zum Unterhalt der Besatzungstruppen und zur Verwirklichung des Besatzungszweckes Natural- und Dienstleistungen in Anspruch genommen werden. Die in der Haager Landkriegsordnung enthaltene Generalklausel, daß die Natural- und Dienstleistungen im Verhältnis zu den Hilfsmitteln des Landes stehen müssen und der sich aus der Treuhänderstellung der Besatzungsmächte ergebende Grundsatz eines Verbots der Substanzvernichtung sollten jedoch mit konkretem Inhalt gefüllt werden. (Punkt IV, 1.-6. bringen Vorschläge über Regelung der Besatzungskosten, Entnahme von Lebensmitteln, Sachleistungen, Quartierleistungen, Lieferungen von Möbeln und Hausrat, Dienstleistungen.)

Es wäre wünschenswert, wenn ein Verfahren entwickelt werden könnte, durch das Streitfragen über die Anwendung des Besatzungsrechts geschlichtet werden könnten. Für Streitfragen rechtlicher Natur käme ein Schiedsverfahren und für Streitfragen politischer oder technischer Natur eine Erledigung durch Vergleichskommissionen in Betracht.

(Eigenbericht)

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Dr. Kurt Schumacher über London

Dr. Schumacher zum Scheitern der Londoner Konferenz

Der Verlauf der Londoner Verhandlungen hat gezeigt, was jeder politisch denkende Mensch vorher wissen mußte, daß die Machtverhältnisse der Sieger untereinander und nicht der offenkundige deutsche Einheitswille über die nächste deutsche Zukunft entscheiden werden. Ein deutsches Podium für politische Deklamationen, mag es sich nationale Repräsentation oder Volkskongreß nennen, hätte nicht den geringsten prodeutschen Einfluß auf diese Entwicklung gehabt. Russischerseits hat man die politisch-psychologischen Kräfte der Deutschen für die eigene Machtpolitik mobilisieren wollen.

Wenn jetzt in ausländischen Agenturmitteilungen erklärt wird, die beiden größten politischen deutschen Parteien hätten aus eigener Initiative die Grundlagen für die Bildung eines Weststaates diskutiert, so ist das in allen Punkten unrichtig. Eine eigene Initiative zu diesem Punkt ist vom deutschen Standpunkt aus unmöglich. Hier muß die Verantwortung der an der Londoner Konferenz beteiligten Mächte eindeutig festgestellt werden. Es ist eine unzulässige Verschiebung von Ursache und Folge, wenn man den Deutschen die Verantwortung für die Gestaltung der Konsequenzen zuschieben will, nachdem die Verhandlungspartner in London sich nicht haben einigen können. Die Frage nach Ost- und Westdeutschland hängt leider von den Entscheidungen der Alliierten ab.

Alle Versuche irgendwelcher staatenbündlerischer, separatistischer und partikularistischer Kräfte, aus diesen Situationen Nutzen zu ziehen, werden von der Sozialdemokratie abgelehnt.

Die Sozialdemokratische Partei hofft, daß die Vertagung der Londoner Konferenz nicht den Bruch in Ost und West in der Welt und damit in Ost- und Westdeutschland in Europa bedeutet. Sie sieht insbesondere in der wirtschaftlichen Abhängigkeit aller Teile der Welt voneinander die Eventualität, doch noch zu einer Einigungsformel zu gelangen.

Obwohl die Schroffheit und Ausschließlichkeit der russischen Ansprüche zur Vertagung der Londoner Konferenz geführt haben, sollte man diesen Vorgang nicht als Resignation vor einem angeblich unlöslichen Problem ansehen. Man soll sich nicht von der außenpolitischen Gefährdung der deutschen Einheit lähmen lassen. Es gilt, jetzt alle Kräfte anzustrengen, um die wirtschaftliche Belebung, vor allem im Westen, zu erreichen. Die erfolgreiche einheitlich dirigierte Durchführung des Marshall-Plans kann dann zu politischen und staatsrechtlichen Konsequenzen führen, die das Ziel der deutschen Einheit zu verwirklichen imstande sind.

Das kann ich nicht überblicken! Vorläufig scheinen Teile der französischen Politiker noch der Illusion zu huldigen, als ob die recht starke Partikularisierung Deutschlands den französischen Sicherheitsbedürfnissen entgegenkommen würde. In Wirklichkeit ist jetzt jede starke Betonung des Föderationsgedankens in deutschen Ländern eine Gefährdung für die Erhaltung des deutschen Volkes und für die Belebung der deutschen Wirtschaft. Dieser Hyperföderalismus hat jetzt absolut negative Folgen und würde tatsächlich den Marshall-Plan torpedieren. Man muß von diesen staatsrechtlichen Spielereien fort- und zu den wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten hinkommen.

Die Einladung ergeht an die Präsidenten des Wirtschaftsrates und des Exekutivrates. Da können sich evtl. auch die acht Ministerpräsidenten und Bürgermeister

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der Freien Städte zusammenfinden. Dann besteht die Möglichkeit, daß die Generale Clay[17] und Robertson[18] Informationen geben und daß sie deutsche Ansichten für alle möglichen Fälle haben möchten. Die Deutschen sind hierbei immer in Gefahr, durch unbesonnene Aeußerungen eine außenpolitische Atmosphäre zu schaffen, die sie selbst vermeiden wollen. Die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten vertreten nicht die Ansicht, die legitimierten Vertreter der ganzen deutschen Nation zu sein. Die Ministerpräsidenten sind für andere Aufgaben und unter anderen Umständen gewählt worden. Die wirklichen Vertreter des deutschen Volkes sind die politischen Parteien.

Die ganze Meldung über den Verfassungsentwurf der beiden großen Parteien durch die AP ist offensichtlich von einer interessierten Stelle gemacht worden. Die Sozialdemokratie läßt sich weder von außen- noch von innerpolitischen Faktoren vor vollendete Tatsachen stellen und nimmt keine Direktiven entgegen. Auch ein evtl. Verfassungsentwurf der CDU ist keine Grundlage für eine staatsrechtliche Diskussion der Ministerpräsidenten.

Eine Zentralgewalt, die von den Ländern ausgeht, akzeptieren wir nicht. Dann wäre die Folgerung, daß die Länder ihre Direktiven von den Kommunen erhalten müßten. Dieser bayerische Verfassungsentwurf, ich glaube von Prof. Glum[19], ist eine völlig naive traditionelle Mischung von Nationalismus und Partikularismus. Ich greife da nur den Satz heraus: "Kriegserklärungen und Friedensschluß erfolgen durch Bundesgesetze." Mit Leuten dieser politischen Ansichten kann man überhaupt nicht diskutieren.

Ich hoffe, daß man diese Dummheit nicht macht. Die Kommunisten haben jetzt noch die eine Chance der halben und falschen Maßnahmen der Angelsachsen und den Protest gegen die Situationen, die daraus entstehen. Sie haben die ungeheuerliche Belastung, daß sie allmählich nicht mehr eine Partei im deutschen Parteiensystem sind und auch nicht im internationalen. Heute heißt ein Kommunist sein, Russe sein!

Man soll sich bei der Abwehr des Kommunismus nicht auf dieselbe Ebene stellen, wie sie die Attacke des Kommunismus ist.

Die westlichen Demokratien müssen Berlin halten. Würden die westlichen Demokratien Berlin aufgeben, würden sie zeigen, daß sie keine zuverläßliche [!] und zielsichere Politik haben und daß sie politisch nicht vertrauenswürdig sind. Würden die westlichen Demokratien Berlin aufgeben, dann würden sie nicht nur das Zutrauen der westdeutschen Bevölkerung verlieren, sondern der Mangel an Zutrauen würde sich dann auch in den westeuropäischen Ländern fortpflanzen und sie würden als nicht mehr fähig angesehen werden, die Demokraten in Europa zu schützen. Die Selbständigkeit von Berlin bedeutet eine starke Möglichkeit, immer noch zum Ausgleich zwischen Ost und West zu kommen.

Handel in Nordwest-Europa

Die Vorkriegslage

Im Jahre 1938 importierten alle europäischen Länder zusammen, einschließlich Englands, Güter im Werte von 1,5 Milliarden Dollar aus den Vereinigten Staaten. Ihre Exporte nach den Vereinigten Staaten betrugen nur 500 Millionen Dollar. So bestand also ein Defizit von 1 Milliarde Dollar in der europäischen Handelsbilanz mit den Vereinigten Staaten.

Dennoch konnte der ökonomisch gesunde Körper des Vorkriegs-Europa sich ein solches Defizit leisten, weil es reichlich ausgeglichen wurde durch Einnahmen aus Aktiven und Investierungen im Ausland, Einkommen aus Transporten, Fremdenverkehr usw. (1926 zeigte ein ähnliches 1-Milliarde-Dollar-Defizit in der europäischen Handelsbilanz mit den USA.)

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Aenderungen in der Außenhandelslage Europas




Karten von Dr. Fritz Baade entwickelt. Die Schätzungen des Autors für 1947 basieren auf den tatsächlichen Daten für den frühen Teil des laufenden Jahres, soweit sie verfügbar sind. Zahlen: Millionen Dollar.

Das Zentrum Europas

Das Fundament des europäischen Außenhandels war der Handel der europäischen Länder untereinander. Die europäischen Länder kauften und verkauften im Jahre 1938 für etwa 7 Milliarden Dollar Güter untereinander, wodurch sich in diesem Jahre der Gesamtbetrag des Handels, der durch den europäischen Blutstrom floß, auf etwa 14 Milliarden Dollar belief.

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Die Exporte aus den europäischen Ländern an andere europäische Nationen waren 4,5 mal größer als das, was die USA an Europa verkauften.

Es ist bezeichnend, daß ein wesentlicher Teil dieser intereuropäischen Transaktionen in dem Handel mit dem Land im Zentrum Europas - mit Deutschland - bestand. Die deutschen Exporte an Europa in diesem Jahr waren gleich den Exporten aus den Vereinigten Staaten an alle europäischen Nationen. Darüber hinaus erreichten die Exporte aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland den Betrag von 1,2 Milliarden Dollar - das ist mehr als zweimal der Wert aller Exporte aus Europa nach den Vereinigten Staaten. (Auch hier waren die Verhältnisse dieselben im Jahre 1928, was die Beweisführung bestätigt, daß 1938 noch ein typisches Vorkriegsjahr war.)

Der Ablaß

Die Struktur des normalen europäischen Handels beruht auf der Nordweststrecke des Kontinents. Von der Ruhr, von Holland, Belgien, Nordfrankreich und England stammte der Warenfluß, welcher Europa in die Lage versetzte, über die ganze Welt zu handeln. Der Blutstrom des intereuropäischen Handels ist vollständig zerstört worden. Als Ergebnis wird das Bild für 1947 ungefähr folgendermaßen aussehen:

Die Exporte der Vereinigten Staaten nach Europa werden dieses Jahr wahrscheinlich einen Gesamtwert von 5,5 Milliarden Dollar überschreiten. Aber die europäischen Nationen werden nur für 750 Millionen Dollar Produkte nach Amerika verschiffen. Das bedeutet, daß in diesem Jahr ein Handelsdebet von etwa 4,75 Milliarden Dollar oder sogar mehr sein wird, wodurch das Hineinpumpen großer Dollarkredite und sogar unbezahlter Exporte in Europa erforderlich werden wird.

Der Molotow-Plan

Hinter dem Eisernen Vorhang arbeitet der Molotow-Plan[22]. Er funktioniert genau wie ein Pumpsystem, das in diesem Jahr aus Osteuropa Güter im Werte von mindestens 3 Milliarden Dollar herauszieht und nach Rußland leitet, entweder durch den Mechanismus der Reparationen oder durch "Handelsabkommen", die den Protektoratsstaaten auferlegt werden.

Westlich des Eisernen Vorhangs wird der intereuropäische Handel in diesem Jahr nur 5 bis 6 Milliarden Dollar betragen. Das ist weniger als die Hälfte des Handels im Jahre 1938. Der Handel der europäischen Länder mit Deutschland wird noch nicht einmal ein Zwanzigstel des Vorkriegsdollarbetrages erreichen. Das sind die Gründe, weshalb Europa heute ein todkranker Patient ist, der nur durch periodische Bluttransfusionen aus Amerika am Leben gehalten wird. Der einzige Weg Europa zu retten, ist, es zu unterstützen, sich selbst zu helfen. Dies wird weitere Bluttransfusionen erfordern, besonders weil die Molotow-Spaltung Europa arg verkrüppelt hat. Aber Nahrung und Dünger müssen dahin gehen, wo sie schnell weitere Nahrung und Dünger erzeugen.

Nur unter einem solchen System kann der amerikanische Dollar das Geschäft einer jeden gesunden Anleihe tun: mehr Dollars machen und nach Hause zurückkommen.

"Gebt die deutschen Kriegsgefangenen früher frei als vereinbart!"

Dies ist der Appell, den der Vorsitzende der SPD, Dr. Kurt Schumacher, in folgendem Weihnachtsaufruf an die Siegermächte und die Weltöffentlichkeit richtet:

"Der Streit in der Welt geht um die Produktionsmittel. Keine Maxime und keine technische Methode kann aber darüber hinwegtäuschen, daß die Menschen im Mittelpunkt aller Dinge stehen müssen.

Die Diktaturen haben die Entmenschlichung der Politik gebracht. Für sie sind die Menschen nur Material. Unempfindlich gegen die Leiden und die Sehnsucht der einzelnen Menschen haben sie den Einzelmenschen in die große Mühle der Kriege, der Gefangenschaft, der Sklavenarbeit gebracht.

Das deutsche Volk hat seine Kriegsgefangenen nicht vergessen! Nicht nur die einzelnen Familienangehörigen denken an sie. Alle Kämpfer gegen jede Art der Diktatur bemühen sich, nicht nur die Menschlichkeit im eigenen Volk wachzuhalten, sondern an die Menschlichkeit in aller Welt zu appellieren.

Gleichgültigkeit, Hartherzigkeit und Gefühllosigkeit gegenüber Kriegsgefangenen sind Unmenschlichkeiten! Gebt unsere Kriegsgefangenen frei - und gebt sie eher frei, als Ihr in diesem Jahr vereinbart habt! Die deutsche Sozialdemokratie wird nicht müde werden, immer wieder für die Freiheit aller Menschen, für die Befreiung der Kriegsgefangenen einzutreten."

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"Munster-Lager im Schnittpunkt vieler Straßen"

Ueber die Probleme der aus der Kriegsgefangenschaft Heimkehrenden schreibt unter obiger Ueberschrift Jan Molitor interessante Beobachtungen in der in Hamburg erscheinenden "Zeit", der wir folgende Stellen entnehmen:

"Ist es Zufall? England schickt in diesem Dezembermonat 20.000 Kriegsgefangene heim, anstatt 15.000 in den Vormonaten. Wird draußen an Weihnachten gedacht? Aus Rußland werden diesmal an die 12.000 das Lager bei Munster passieren, anstatt der monatlichen Durchschnittszahl von 7.000. Nicht alle, die aus Rußland heimkehren, müssen durch Munster-Lager gehen. Viele, die in der Ostzone zu Hause sind, fahren nicht erst hierher ins Hannoversche Land weiter und in die Lüneburger Heide. Aber mit dieser Ausnahme finden alle Wege, auf denen Gefangene nach Deutschland heimkehren, ihren Schnittpunkt hier. In Munster-Lager müssen sich die Wege kreuzen. Es ist das einzige, das zentrale Entlassungslager, das in der britischen Zone noch besteht. Da kommen monatlich aus Frankreich 5.000 bis 8.000 Männer, aus Belgien 2.000 bis 3.000 und aus anderen Ländern wie Italien, Norwegen oder Luxemburg kommen monatlich noch an die 7.000. Von hier aus führen viele Wege in das zerrissene Deutschland hinein. Von jenen Gefangenen, die aus England eintreffen - wie gesagt 15.000 monatlich - verteilen sich 6.000 auf die Englische Zone, 4.000 auf die Amerikanische, 4.000 auch auf die Russische Zone und Berlin und 1.000 etwa auf die Französische Zone. Ein schönes Lager ist dies nicht. Wie könnte ein Lager schön sein? Aber die Baracken sind wenigstens sauber, nicht ungepflegt sind die Wege durch die Barackenstadt, und es sind Bäume da: Die geben Dämmerung wie aus Güte. Ja, ihr Anblick könnte sogar innere Stille geben. Aber das ist nicht wahr. Die Heimkehrer sind Wartende. Und Wartende können nicht ruhig sein. Die in der Britischen Zone bleiben, brauchen zwei bis drei Tage, ehe sie endgültig frei sind. Fünf Tage dauert's, bis Transporte in die Amerikanische und Russische Zone gehen, 14 Tage gar zur Entlassung in die Französische Zone - 'wegen eines Gegenverkehrs', wie eine Auskunft lautet. Drei Wochen vergehen, ehe die Berliner heimfahren können, und für die Wartezeit zur Reise in die Russische, Amerikanische, Französische Zone und nach Berlin lautet die Erklärung: 'Es müssen immer tausend Mann beisammen sein'.

So warten sie alle und sind unruhig, obwohl sie anerkennen, daß die Entlassungsformalitäten, die sie 'Papierkrieg' nennen, korrekt und flüssig vor sich gehen. Dennoch heißt ein Tag in diesem Lager, Erfahrungen von Jahren sammeln. Stehe ich dort, wo sich im Lager die Straßen kreuzen, so sehe ich sie einherschlendern oder heranmarschieren, sich näherschleppen oder herumspazieren, und nicht die verschiedenen Uniformen allein, sondern der Blick auf die Gesichter und auf das Gebaren verrät, daß sie verschiedene Menschen sind, je nachdem, aus welchem Lande sie kamen. Den Mann aus England unterscheidet man auf den ersten Blick von dem, der aus Rußland kommt. Es sind verschiedene Menschen geworden. Das Gesicht des fremden Landes hat ihr Antlitz geprägt. Und doch ist es nicht übertrieben zu sagen, daß die Worte 'Deutschland' und 'zu Hause' denselben Eindruck auf sie machen. In Munster-Lager kreuzen sich so nicht nur die Straßen, die auf der geographischen Karte zu bezeichnen sind, sondern zugleich die Wege der geistigen Situation. Hier hören die Kriegsgefangenen auf, Massenmenschen zu sein, die Formation entläßt sie; von hier ab werden sie Zivilisten und Menschen sein. Hier legen sie alte Lasten ab und buckeln neue auf; private Sorgen. Und hier stellen sie neue Fragen: Wie kann uns geholfen werden? Wer hilft?

Es ist verständlich, daß die Heimkehrer, wenn sie der Weg zum Lagerpfarrer oder zu den Männern der YMCA-Organisation[23] führt, nicht mehr in 'Reih und Glied' erscheinen. Aus der Masse tritt der Mensch hervor, zeigt sein Antlitz. Doch haben sich, wie der Lagerpfarrer sagt, Typen gebildet. - Da ist der Mann aus England. Gepflegt, verwöhnt, gesund und ordentlich gekleidet. Er hat sich als Facharbeiter auf der Insel bewährt und hat das Bewußtsein, daß auch in England der Deutsche wieder etwas gilt. Er kommt mit gefülltem Seesack. Er ist äußerlich und innerlich satt. Er hat Pläne. - Da ist der Mann aus Aegypten und dem Nahen Osten, ein Mann, der ähnliche Züge trägt, gesund und

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braungebrannt. Doch was ihn plagt, ist oft eine gewisse Renitenz gegen die Siegermächte. Er hat unter bitteren Verhältnissen oft schwer arbeiten müssen. Da ist der Mann aus Belgien. Er hat im Bergwerk gearbeitet, ist muskulös und bescheiden. Er hat von allen Kriegsgefangenen im Lande des einstigen Gegners seit Jahresfrist wohl die meiste Sympathie erfahren und eine Anerkennung, die ihn in der Wertschätzung noch am ehesten der Bevölkerung gleichsetzte. - Da ist der Mann aus Frankreich. Er kommt nicht ohne Verbitterung und oft in abgerissenem Zustand, was seine Kleider betrifft. Aber er ist gerecht genug zu sagen, daß sich in den meisten französischen Lagern die Verhältnisse gebessert haben, wenn auch regionsweise immer noch der Haß gegen den Mann aus Deutschland spürbar ist. - Und da ist der Mann aus Rußland, wie er im Zimmer des Pfarrers steht. Er ist im Wesen und Ansehen russisch geworden. 'Ein ausgepreßter Schwamm', sagt der Pastor, 'ausgelaugt und ausgebrannt, jedem Einbruch einer Dämonie preisgegeben, zerlumpt, krank an Leib und Seele. Einer, der entschlußlos und mechanisch auf Befehle handelt wie eine Maschine. Er ist verschüchtert oder mißtrauisch. Er hat sich seelisch abgekapselt und ist scheu bis manchmal in ihm und seinen Kameraden die Moral eines Wolfsrudels erwacht, das sich mit ungehemmter Gier auf alles Nützliche stürzt. Einige sind verschwiegen, andere geschwätzig wie Kinder. Doch forscht man tiefer, so findet man, daß sie angefüllt sind mit Fragen. Sie haben Angst. Manchmal sogar Angst vor der Freiheit, die sie doch mit allen Fasern ihres Herzens ersehnten.'

Es ist wahr: Die Rußlandheimkehrer reden wenig, aber plötzlich bricht es aus ihnen heraus, und dann sagen sie, daß oft nicht die Wachmannschaft ihre Peiniger waren, sondern jene Deutschen unter ihnen, die sich zu Funktionären aufgeschwungen hatten. Sie sagen, daß es Unterschiede in Rußland gibt, und viele loben das Gebiet von Leningrad, in dem man energische Maßnahmen getroffen habe, daß die Kriegsgefangenen nicht mehr unkontrollierbar an Entbehrungen stürben. Fast alle aber sagen, Haß hätten sie in Rußland von der Zivilbevölkerung nur in seltensten Fällen erfahren. Und sie berichten von ärmlichen Tauschgeschäften, die sie mit russischen Einwohnern machten und von den Versuchen, wie ein Teil den anderen über Wasser hielt. Doch obwohl sie nicht nur Elend, sondern dann und wann auch Güte erlebten, sind ihre Erinnerungen niemals schön, am wenigsten an die Kirgisensteppe, wo allein schon die Natur grausam genug zu sein scheint, und am allerwenigsten an das winterliche Sibirien, wo spätestens im November der Frost einsetzt: Dies bedeutet, daß man fortan bis zum Frühling mit dem vorhandenen Vorrat an Lebensmitteln auskommen muß ... Die Portionen werden knapper, je länger der Winter dauert, die Korruptionen größer, an denen leider wieder die deutschen Funktionäre beteiligt sind ...

Ich fand zuletzt, daß in Munster-Lager nicht nur die Psychologie wie ein Appell sprach, sondern sogar die Statistik. Ein Beispiel: Zwei Drittel der Englandheimkehrer haben feste Wohnsitze, ein Drittel ist heimatlos. Flüchtlinge aus dem Osten. Wo sollen sie hin? Wo sollen sie bleiben, wenn niemand hilft?"

"British Aid for German Workers (Arbeiterwohlfahrt)"

Unter diesem Namen wurde im Oktober 1947 auf Initiative von Vertretern der "Arbeiterwohlfahrt London" und englischer Sozialisten in London ein neues englisches Hilfskomitee gegründet, dem bekannte englische Mitglieder der Labour Party und Freunde des deutschen Wiederaufbaus wie Victor Gollancz, Fenner Brockway[24], R. R. Stokes, M.P., Ashley Bramall, M.P., Joe Reeves, M.P., und Lucy Middleton, M.P., angehören.

Die Aufgabe des Komitees besteht darin, die Arbeit der "Arbeiterwohlfahrt" in Deutschland dadurch zu unterstützen, daß Werbearbeit und Sammlungen innerhalb der englischen Arbeiterbewegung, in den Genossenschaften, den Gewerkschaften und den Ortsgruppen der Labour Party organisiert werden. Die Verteilung aller von dem Komitee gesammelten Spenden erfolgt ohne Ausnahme durch die Zentrale der Arbeiterwohlfahrt in Hannover, Friedrichstraße 15.

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Im Dezember trat dieses neugegründete Komitee durch die Veranstaltung der "Weihnachtsmesse" zum ersten Male vor die englische Oeffentlichkeit. Unter den zahlreichen Besuchern dieser in einer vegetarischen Gaststätte veranstalteten Weihnachtsmesse sah man auch zahlreiche englische Freunde, u.a. auch die Parlamentsabgeordneten Ashley Bramall, Harry Hynd[25], Lucy Middleton und den Vorsitzenden des Komitees, den Abgeordneten Joe Reeves. Die Mitglieder und Freunde der "Vereinigung Deutscher Sozialdemokraten in Großbritannien" und der "Treugemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten" - die am Zustandekommen der Messe und der Versorgung der Verkaufsgegenstände treu zusammengearbeitet hatten - waren auch in diesem Jahre stark vertreten, auch deutsche Kriegsgefangene waren der Einladung der Veranstalter gefolgt.

Die Verkaufsstände waren voll schöner und zum Teil auch heute in England seltener Gegenstände - Kleidungsstücke, für die die Spender die erforderlichen "coupons" bereits abgegebenen hatten. Spenden Londoner Firmen, Verlagshäuser und von den Autoren gezeichnete Bücher, Zeichnungen, Skizzen und Drucke deutscher Kriegsgefangener in England und selbst einige Handfertigkeitsarbeiten aus der Heimat. Der englische Karikaturist Frank Horrabin[26] hatte eigens einige Kinderzeichnungen angefertigt. Kein Wunder, daß gut gekauft wurde.

Eröffnet wurde die Weihnachtsmesse am 14. Dezember, nachmittags, vom Vorsitzenden, dem Labour-Abgeordneten Joe Reeves, der in kurzen, eindringlichen Worten von der Not in Deutschland sprach. Er forderte Hilfe besonders für jene, die durch ihr Eintreten für Freiheit und Recht während der Hitlerzeit ihre Gesundheit und Widerstandskraft in deutschen Konzentrationslagern eingebüßt haben. Ihnen sollte der gesamte Erlös der Weihnachtsmesse zugute kommen.

Eine Ausstellung deutscher Kriegsgefangener in London

Im Dezember 1947 veranstaltete das im Londoner Stadtteil Brondesbury gelegene Heim deutscher Kriegsgefangener, deren Bewohner publizistische und Bildungsarbeit für die Kriegsgefangenen in Großbritannien leisten, eine Ausstellung eigener Arbeiten.

Es waren Bilder (Oelgemälde, Aquarelle und Graphiken), Spielzeug und Proben des von den Kriegsgefangenen in diesem Hotel hergestellten Anschauungsmaterials. Das künstlerische Niveau, das in allen diesen Arbeiten zu bemerken war, besonders in den Landschaftsbildern und der Gebrauchsgraphik (unter der sich preisgekrönte Entwürfe für eine Weihnachtskarte der "Save Europe Now"-Organisation befanden) war durchwegs erstaunlich hoch und verriet eine Fülle von Talenten in der etwa hundert Mann starken Belegschaft dieses Kriegsgefangenenheims. Es war erfreulich zu sehen, wie hier junge, kunstbegeisterte Menschen, die der Krieg in Gefangenschaft gebracht hat, die Jahre fern der Heimat zur Weiterentwicklung ihres Strebens und Könnens benutzt haben, und viele Bilder verrieten, wieviel Anregungen sie von englischer Landschaft und Architektur und auch von Beispielen moderner europäischer Kunstströmungen, die sie bei ihrem Aufenthalt in London kennenlernten, empfangen haben.

Gäste bei der "Vereinigung" in London

Herta Gotthelf, die Leiterin des Frauenbüros beim Parteivorstand in Hannover, weilte zu einem kurzen Besuch in London. Er war ausgefüllt mit einer großen Anzahl von Besprechungen mit amtlichen Stellen, Freunden und Genossen der internationalen und englischen Arbeiterbewegung und alten Freunden und Mitarbeitern der deutschen Emigration in London. Die weiblichen Labour-Abgeordneten des House of Commons gaben Herta unter dem Vorsitz von Dr. Edith Summerskill, Staatssekretärin im Gesundheitsministerium, einen Empfang im Parlamentsgebäude, und in zahlreichen Einzelbesprechungen mit Funktionären der

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Labour Party im Transport House, mit Vertretern der Fabian Society im Wilton Park Training Centre, im Norfolk House usw. konnte Herta wichtige Fragen im Interesse unserer Aufbauarbeit in der Heimat besprechen.

Auf Einladung der "Vereinigung Deutscher Sozialdemokraten in Großbritannien", deren führendes Mitglied sie während ihrer Emigration in London war, berichtete sie in einer Versammlung über ihre Arbeit, ihre Erfahrungen und Erfolge im Aufbau einer sozialdemokratischen Organisation, die auch von starken Frauenkräften getragen wird. Am gleichen Abend berichtete auch die Labourabgeordnete Lucy Middleton von den Eindrücken ihrer kürzlich durchgeführten Studienreise nach Deutschland und brachte interessante Vergleiche zwischen ihrem Wahlkreis Plymouth, der unter dem deutschen "Blitz" besonders stark gelitten hatte, und den Zerstörungen in Deutschland und den gemeinsamen Wiederaufbauproblemen in beiden Ländern. Sie behandelte dieses zum Teil kritische Problem vom Standpunkt einer internationalen Sozialistin.

Nach den Referaten hatten beide Rednerinnen nach Gelegenheit, einige aus der Reihe der Versammlungsbesucher gestellte Anfragen zu beantworten.

In der gleichen Versammlung erschien der Genosse Gelbart[27], Kopenhagen, als Gast und überbrachte die Grüße der deutschen Genossen in Dänemark und der dänischen Parteifreunde, die so viel Opfer und Solidaritätsbeweise für die sozialdemokratische Emigration, aber auch für die durch die Hitlerherrschaft nach Dänemark gebrachten 150.000 deutschen Kriegsflüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten geliefert hatten.

Dr. Kurt Schumacher kommt nach London

Als Ergebnis der Beratungen der Internationalen Sozialistenkonferenzen in Clacton on Sea und Bournemouth im Jahre 1946 wurde bekanntlich das Socialist Information und Liason Office geschaffen, das nun in Ausführung der Beschlüsse der letzten Internationalen Sozialistenkonferenz in Antwerpen eine Arbeitstagung zur Erledigung politischer, organisatorischer und finanzieller Fragen für den 10. und 11. Januar nach London einberufen hat. Als Vertreter der SPD wurde der Parteivorsitzende Dr. Kurt Schumacher delegiert, der in Begleitung des Gen. Dr. Rudolf Katz (ehem. Redakteur der "Neuen Volkszeitung", New York, jetzt Justizminister in Schleswig-Holstein) nach London kommt. Arno Scholz[28], der Chefredakteur des "Telegraf", Berlin, wird während dieser Zeit ebenfalls in London weilen.

Unterstützt unsere Aktivitäten!

Die Versendung unserer "SOZIALISTISCHEN MITTEILUNGEN", deutscher Parteizeitungen, Broschüren und sonstigen Materials an unsere Mitglieder und Freunde in den verschiedensten Ländern ist mit erheblichen Kosten verbunden.

Wir bitten alle Freunde, uns durch Einsendung freiwilliger Beträge, die Fortsetzung dieser Aktivitäten zu ermöglichen. Beiträge bitte an folgende Adresse senden:

Wilhelm Sander, 33, Fernside Avenue, London, N.W.7




Issued by the London Representative of the German Social Democratic
Party, 33, Fernside Avenue, London N.W.7 Telephone: MILL Hill 3915

[Beilage zu SM, Nr. 107, 1948]

[Beilage, Seite: - 1 - ] -

[Deutschland 1947
Versuch einer graphischen Entflechtung]


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[Beilage, Seite: - 2 - ] -


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Editorische Anmerkungen


1 - Die SM-Ausgaben 107 bis 115 aus dem Jahr 1948 wurden gesetzt und gedruckt. Sie lösten die maschinengeschriebenen und hektographierten Ausgaben der "Sozialistischen Mitteilungen" zwischen 1939 und 1947 ab.

2 - Der "Volkskongreß" (oder ausführlich: der "Deutsche Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden") sollte 1947/1949 - organisiert durch die SED - ein gesamtdeutsches Vorparlament darstellen.
Vgl. SM 108, Febr. 1948, S. 14 ff.

3 - Toni Jensen (geb. 1891), Lehrerin, 1921 - 1933 SPD-MdL Preußen, in etwa der gleichen Zeit Mitglied SPD-Bezirksvorstandes für Schleswig-Holstein, 1933 Entlassung aus dem Amt als Lehrerin, 1933 -1945 Privatlehrerin. Nach 1945 Stadtschulrätin in Kiel, 1956 in den Ruhestand getreten.

4 - Josef (Jupp) Kappius (1907 - 1967), Zeichner und Konstrukteur, ab 1924 SAJ-, ab 1925 DMV-Mitglied, ab 1933 illegale Tätigkeit für den ISK, 1937 Flucht in die Schweiz, im selben Jahr nach Frankreich, 1939 nach Großbritannien, 1939-1944 Internierung in Australien, 1944 Schulung für die illegale Tätigkeit in Deutschland, September 1944 Fallschirmabsprung über dem Emsland, mit Hilfe alter ISK-Kontakte illegale Tätigkeit. Ab 1945 Bildungs- und Schulungsarbeit in der SPD, 1955-1967 SPD-MdL NRW.

5 - Walter May (1900 - 1953), Lehrer, später Industrieangestellter, seit 1926 SPD-Mitglied, seit 1930 Mitglied der Freien Lehrergewerkschaft. Ab 1945 Schulrat in Berlin, 1946-1950 SPD-Mitglied der Stadtverordnetenversammlung von Großberlin, 1947-1950 Leiter der Abt. Volksbildung des Berliner Magistrats, zuletzt Hauptschulrat in Berlin-Reinickendorf.

6 - Nestripke = Siegfried Nestriepke (1885 - 1963), Redakteur, Intendant und Dozent, 1919-1933 Generalsekretär der Volksbühne Berlin, später aus der "Reichsschrifttumskammer" ausgeschlossen und bei einem Filmkonzern beschäftigt. 1946-1947 als SPD-Stadtrat Leiter der Berliner Magistratsabteilung für Volksbildung, 1947 Gründer der Freien Volksbühne in West-Berlin, 1949-1955 Intendant des Theaters am Kurfürstendamm, Dozent an der Freien Universität Berlin.

7 - Anna Siemsen (1882 - 1952), Schwester von August Siemsen (siehe SM 33, 1. Jan. 1942, Anm. 7), Lehrerin, nach dem I. Weltkrieg Beitritt zur USPD, 1922 zur SPD, 1921-1923 Oberschulrätin in Berlin, 1923 Honorarprof. für Pädagogik an der Universität Jena, 1928 - 1930 SPD-MdR, 1931 zur SAP, 1933 Austritt, im selben Jahr Emigration in die Schweiz, dort Mitarbeiterin der Bildungszentrale der Schweizerischen Sozialdemokratischen Partei (SPS), 1934 durch Scheinehe schweizerische Staatsbürgerschaft, 1936/1937 Befürworterin einer deutschen Volksfront (im Exil). 1945 Rückkehr nach Deutschland, 1946 Dozentin für Literatur und Pädagogik an der Universität Hamburg, tätig in der Sozialistischen Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa.

8 - Hans Wehn (1904 - 1984), kaufmännischer Angestellter, SPD-Mitglied seit 1925, 1946 hauptamtliche Funktion bei der SPD, 1948-1966 zuerst beim Auer-Buchverlag (Lektor), dann bei Auer-Druck (Geschäftsführer) in Hamburg beschäftigt.

9 - Zu Willi Wolff (SPD-Bezirk Niederrhein) konnten keine biographischen Angaben ermittelt werden.

10 - In Richard Stöss (Hrsg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980 (2 Bände), Opladen 1983 u. 1984, findet die Deutsche Wählergesellschaft keine Erwähnung. Es handelte sich um eine parteipolitisch unabhängige Organisation, die sich u. a. für ein relatives Mehrheitswahlrecht (Beispiel: Großbritannien) und gegen das Verhältniswahlrecht, aber auch gegen eine Mischung beider Wahlsysteme einsetzte. Gustav Dahrendorf (s. d.), Beiratsmitglied der Deutschen Wählergesellschaft, 1953: "Das relative Mehrheitswahlrecht begünstigt die großen Parteien - es ist politisch und auch sonst keineswegs nachteilig, die Parteienzersplitterung einzudämmen. Vielmehr ist es ein Nachteil, daß die Verhältniswahl geradezu einen Anreiz für Geltungsbedürftige und Ehrgeizlinge bietet, jede Gefühlsaufwallung, auch solche sehr temporärer Bedeutung, sogleich durch eine Parteigründung aufzufangen. Alle echten und tragenden Volksbewegungen können sich auch beim relativen Mehrheitswahlrecht behaupten und durchsetzen." Und: "Unter dem relativen Mehrheitswahlrecht tritt an die Stelle der Parteiliste ein Mann oder eine Frau in kleinem Wahlkreis. Die anonyme Liste ist ein Unrecht am Wähler, der genau wissen muß, wen er wählt."

11 - In dem o. e. Parteien-Handbuch wird auch der Bund deutscher Föderalisten nicht genannt. Der Bund deutscher Föderalisten war im August 1947 in Bad Ems gegründet worden. Einer der Tagungsteilnehmer von Bad Ems : "Es war doch erst die Abkehr vom Föderalismus und die Hinwendung zum Zentralismus, die Deutschland naturnotwendig zum Erliegen seiner wahren Kultur- und Seelenwerte und damit schließlich zu Diktatur und Zusammenbruch geführt hat." In einem folgenden Aufruf an die deutsche Öffentlichkeit hieß es, Deutschland müsse im Geiste der föderalistischen Klassiker des 19. Jahrhundert bundesstaatlich geformt werden, um es auf diese Weise wieder in die Gemeinschaft Europas einzugliedern. Es sei die Aufgabe des Bundes, keine Verflachung des genossenschaftlich-bündischen Gedankens durch Modeströmungen eintreten zu lassen. Die Gründungsmitglieder des Bundes (u. a. Politiker und Publizisten) gehörten mehrheitlich dem rechts-konservativen Spektrum an.

12 - Während des II. Weltkrieges hatte die ILP den Vorschlag propagiert, man solle den europäischen Zusammenschluss, wie er von kapitalistischer Seite befürwortet werde, ablehnen und statt dessen eine Organisation für die "Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa" gründen. Die Gründungskonferenz, an der Sozialisten aus versch. europäischen Ländern teilnahmen, fand im Februar 1947 in London statt. Anfängliche Grundthese: Ausschließlich sozialistische Regierungen könnten die Einheit Europas verwirklichen. In ganz Europa sollten lokale und nationale Komitees der Organisation geschaffen werden. Auf einer zweiten Konferenz im Juni 1947 bei Paris, an der sich Vertreter aus 14 Ländern beteiligten (keine offiziellen Parteivertreter), wurde der Name in "Sozialistische Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa" verändert. Bekannter geworden unter der französischen Bezeichnung "Mouvement socialiste pour les Etats Unis d' Europe" (MSEUE). Die anfangs von der britischen ILP vertretene rigoristisch-sozialistische Position betr. Einheit Europas wurde im Laufe der Zeit mehr und mehr fallengelassen. An der deutschen Sektion bzw. Landesgruppe der MSEUE war dann auch die SPD beteiligt, während die Labour Party allen Europaorganisationen kritisch gegenüberstand.

13 - Zu Rudolf Gerstung konnten keine biographischen Angaben ermittelt werden. 1953 arbeitete er noch im Sozialpolitischen Referat des PV der SPD in Bonn.

14 - "Otto Berling": Christian Wilhelm Berling (geb. 1897), nach Studium 1920-1933 Beamter der Kölner Stadtverwaltung, als Sozialdemokrat 1933 nach dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" entlassen, 1938 vorübergehend verhaftet. 1945/1946 Stadtdirektor in Köln, 1946/1947 Oberkreisdirektor in Aachen.

15 - Dena = Deutsche Nachrichtenagentur (Frankfurt a. M.), eine der Vorläuferinnen der nach Gründung der Bundesrepublik entstehenden Deutschen Presse-Agentur (dpa).

16 - 7./8. Januar 1948 in Frankfurt: Konferenz der Militärgouverneure mit den Ministerpräsidenten und Vertretern der bizonalen Verwaltungen. Vgl. dazu: Weiz, Kreikamp, Steger: Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1949. Band 4. Oldenbourg Verlag München, Wien, 1983.

17 - Lucius D. Clay (1897 - 1978), amerikanischer General, wesentlich an der Planung und Durchführung der alliierten Invasion in Frankreich 1944 beteiligt, 1947-1949 US-Militärgouverneur in Deutschland, einer der Initiatoren der Luftbrücke nach Berlin (1948/1949).

18 - Brian Hubert Robertson (1896 - 1974), britischer General und Verwaltungsfachmann, 1947-1949 Chef der Militärregierung in der Britischen Besatzungszone Deutschlands, 1949-1950 britischer Hoher Kommissar in Deutschland.

19 - Friedrich Glum (1891 - 1974), Jurist, 1923 - 1937 Dozent und Prof. für Staats- und Verwaltungsrecht in Berlin, 1945/1946 Berater der amerikanischen Militärregierung in Verfassungs- und Verwaltungsfragen, 1946-1952 Ministerialdirigent in der bayerischen Staatskanzlei, allerdings 1948 wegen eines Artikels aus dem Jahre 1933 (gegen den bayerischen Länderpartikularismus) beurlaubt, 1949 Lehrauftrag an der Universität München.

20 - Heinrich Brüning (1885 - 1970), 1924-1933 MdR (Zentrum), 1930-1932 Reichskanzler, 1934 Flucht in die Niederlande, seit 1935 in den USA, seit 1939 Prof. in Harvard. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1951-1954 Prof. in Köln, zog sich 1957 wieder in die USA zurück.

21 - Vollständiger Titel: "The Journal of Commerce and Commercial" (New York), die älteste Wirtschaftszeitung der USA (gegr. 1827).

22 - Quasi der Gegenentwurf zum amerikanischen wirtschaftlichen Hilfsangebot (Marshall-Plan), den Molotow auf der Pariser Europakonferenz (SU, GB und Frankreich) Anfang Juli 1947 entwickelt hatte und der wiederum von GB und Frankreich abgelehnt wurde. Molotow bestand auf Erfüllung der Reparationen durch Deutschland.
Vgl. auch SM 108, Febr. 1948, S. 9 ff (Europäische Verhandlungen zum Marshall-Plan).

23 - YMCA = Young Men's Christian Association, eine 1844 in London gegründete Organisation, die sich bald über die ganze Welt verbreitete. Die "Pariser Basis" (1855) legte fest, daß der YMCA eine Gemeinschaft in der universalen Kirche sein sollte; er wurde damit zum Vorläufer der ökumenischen Bewegung. Das soziale Engagement wird besonders betont. Dem YMCA-Weltbund gehört in Deutschland der (evangelische) Christliche Verein Junger Männer (CVJM) an.

24 - Fenner Brockway (1888 - 1988), 1928 und 1933-1939 Generalsekretär der ILP, 1946 Trennung von der ILP und Rückkehr zur Labour Party, 1929-1931 und 1950-1964 MP, 1947-1952 Mitglied des International Committee of Socialist Movement for United Europe, Engagement in der Bewegung der Kriegsdienstgegner, Antikolonialist, 1964 Life Peer.

25 - "Harry Hynd": Henry Hynd (1900 - 1985), Eisenbahnangestellter, Labour-Politiker und Gewerkschafter, 1945-1966 MP.
Vgl. auch SM 108, Febr. 1948, S. 5 f. "Kapitel "Appell an die brit. Arbeiterschaft", 3. Punkt "Geld"

26 - James Francis Horrabin (1884 - 1962), Journalist und Zeichner, Mitglied der Fabian Society.

27 - = Fritz Gelbart aus Kopenhagen (s.d.).

28 - Vgl. Arno Scholz: Nullvier. Ein Jahrgang zwischen den Fronten, Berlin 1962. In diesen Scholz-Memoiren eine ausführliche Schilderung des Londonbesuchs von Kurt Schumacher.




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