Sozialistische Mitteilungen |
17. Okt. 1939 |
In einem in Schweden erscheinenden kommunistischen Presseerzeugnis, das den Titel "Die Welt" trägt, ist eine Erklärung abgedruckt, die angeblich in Bern bei einer Konferenz des "Zentralkomitees der K.P.D." beschlossen wurde. Die Sätze der Erklärung, die sich auf die deutsche Sozialdemokratie beziehen, seien unseren Lesern hiermit zur Kenntnis gebracht, weil sie zur Charakterisierung der Agenten Stalins und zur Klärung unserer Stellung gegenüber den Kommunisten festgenagelt zu werden verdienen. Es heisst dort: "In diesem Augenblick zeigen die Wels, Stampfer, Ollenhauer und Hilferding ihr wahres Gesicht: es ist die Fratze der Kaisersozialisten, der "Burgfriedenspolitiker", der "Retter" des deutschen Kapitalismus vor der proletarischen Revolution. Ihre Sprache im 'Neuen Vorwärts' vom 2. September ist die Sprache des Vorwärts vom Januar 1919, ist die Sprache der Noskiden[1], der hündischen Speichellecker der deutschen Bourgeoisie und der Würger des eigenen Volkes ..."[2]
In der Reihe der "Penguin"-Broschüren ist eine Schrift des englischen Juristen D.N. Pritt erschienen, die sich "Licht auf Moskau" (Light on Moscow) nennt und den Versuch darstellt, die neue Politik der Sowjetunion zu verteidigen.[3] D.N. Pritt ist bekanntlich derselbe "Kronjurist", der im Jahre 1936 eine Schrift zur Rechtfertigung des Moskauer Prozesse verfasst hat.[4] In seiner neuen Arbeit, in der er die Schuld an dem Verrat der Sowjetunion gegenüber den Demokratien der Politik der britischen Regierung zuschieben möchte, erwähnt Pritt die damaligen Moskauer Prozesse mit keinem Wort. Es fiele selbst ihm schwer, ein Argument dafür zu finden, dass die Todesurteile gegen Kollegen Stalins, die beschuldigt waren, eine Annäherung an das Dritte Reich zu versuchen, angesichts der nun von Stalin tatsächlich vollzogenen Zusammenarbeit mit Hitler-Deutschland nicht als verbrecherische Irreführung enthüllt sind. Pritt unterlässt es auch, die "Volksfrontpolitik" der Kommunisten zu erwähnen, weil die Erinnerung an diese Agitation, die mit der Völkerbundspolitik der Sowjetunion verbunden wurde, den Beweis erbrächte, dass die jetzige Politik der Kommunisten nicht nur ein Verrat gegen die Regierungen Englands und Frankreichs, sondern auch gegen die Arbeiterklasse der demokratischen und der vom Faschismus unterdrückten Länder Europas ist. Mit keiner Silbe schliesslich erwähnt Pritt den Sturz Litwinows[5], weil er sonst zugeben müsste, dass der Plan der Annäherung an Hitler im Kreml schon Anfang Mai gefasst wurde, also bei Beginn der Paktverhandlungen mit England und Frankreich, deren Verlauf von Pritt so dargestellt wird, als hätte die Weigerung der englischen Regierung, den von der Sowjetregierung gewünschten Pakt zu schliessen, die "plötzliche" Wendung der russischen Politik zur Folge gehabt.
Wir wollen unseren Lesern einige charakteristische Sätze aus der Schrift Pritts nicht vorenthalten. Dort wird (auf Seite 153) gesagt: "Die Sowjetunion ist der Meinung, dass die Gebiete, die sie bereits erobert hat, sicherlich nicht an Polen zurückgegeben werden sollen und dass die rein polnischen Gebiete keiner polnischen Regierung gegeben werden sollen, die jener ähnelt, die soeben nach Rumänien floh."[6] Das kann also nur bedeuten, dass die Sowjetunion das westliche Polen, das sie Hitler zusprach, lieber unter Hitlers Herrschaft belassen will als unter einer dem Kreml nicht gefügigen polnischen Regierung. An einer anderen Stelle (S. 123) schreibt Pritt: "Die Sowjetunion scheint Deutschland näher zu stehen als uns." Und er fügt hinzu: "Das ist nur folgerichtig und logisch, denn Grossbritannien, Frankreich und Polen haben sie weg von uns und hin zu Deutschland gezwungen." Der Staat also, der
ein "Sechstel der Erde" beherrscht und die "stärkste Armee der Welt" besitzt, hätte sich demnach gezwungen gesehen, die Hilfe Hitlers zu suchen, weil er der Freundschaft der Westmächte nicht sicher zu sein glaubte. Wenn das so ist, da haben selbst jene, die immer schon den Prahlereien der Kommunisten skeptisch gegenüberstanden, das "Vaterland" der Kommunisten noch weit überschätzt.
Das Schicksal der Flüchtlinge in Polen
Aus den bisherigen Berichten über die Tragödie der Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei, die sich in Polen befanden, als der Ueberfall Hitlers auf Polen begann, lässt sich wenig Klarheit über den Verbleib dieser Flüchtlinge gewinnen, mit Ausnahme von 12 Personen, die mit dem Amerikaner Mr. Field[7] und dem tschechischen Kommunisten Novy[8] nach Rumänien gelangen konnten. Fest steht jetzt, dass erst nach dem Einfall der Nazi-Armee in Polen die Evakuierung der Flüchtlinge aus Kattowitz und Krakau begonnen wurde - und dass sowohl die Eisenbahnzüge, in denen sich die Frauen und Kinder ins Innere des Landes begeben sollten, als auch die Marschkolonnen der männlichen Flüchtlinge (für die es keinen Platz mehr in den Zügen gab) ihre Bestimmungsorte nicht erreicht haben und wahrscheinlich durch die eindringenden deutschen Stosstruppen abgeschnitten worden sind. Ob ein Teil der Flüchtlinge sich zur Zeit des Eindringens der Roten Armee in jenem Teil Polens befand, der von den russischen Truppen besetzt wurde, ist nicht mit Sicherheit zu erfahren. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann man das nur von jenen annehmen, die sich im Lager der tschechoslowakischen Legion in Ostpolen befanden.[9] Die Anfragen, die von Bukarest aus nach Moskau gerichtet wurden, um Klarheit über den Aufenthalt und das Schicksal von Flüchtlingen in Ostpolen zu erhalten, sind unbeantwortet geblieben. - Einem geringen Teil der Flüchtlinge ist es möglicherweise gelungen, wieder über die Grenzen der Tschechoslowakei zurückzuflüchten. - Aus dem Briefe eines Flüchtlings, der die Katastrophe überlebte und nach England berichtete, entnehmen wir folgenden Abschnitt. "Darüber, wer die Schuld trägt, dass unsere Evakuierung im letzten Augenblick durchgeführt wurde, kann ich jetzt nicht entscheiden. Tatsache ist jedoch, dass hier grosse Fehler gemacht wurden. ... Um genau zu berichten, muss ich erwähnen, dass in diesem Zeitpunkt die Beziehungen zwischen den sozialdemokratischen und den kommunistischen Flüchtlingen sehr gespannt waren. Die Hauptursache war, dass die Kommunisten die Politik der Sowjetunion verteidigten, die angeblich dem Frieden dienlich sei. Sie behaupten fest, dass es keinen Krieg geben werde. Es waren dieselben Leute, die den Standpunkt vertraten, dass die Evakuierung verschoben werden sollte." [10]
"Klar im Erkennen - klar im Ziel"
Die Broschüre der deutschen Sozialdemokraten, die von ihrer Londoner Vertretung herausgegeben wurde und anhand von Dokumenten eine Darstellung der sozialdemokratischen Politik in den letzten sechs Jahren und damit eine Begründung ihrer Haltung jetzt und in Zukunft gibt, ist jetzt in englischer Uebersetzung (Firm our view - firm our aim) erschienen. Von der deutschen Ausgabe wird in diesen Tagen eine zweite Auflage erscheinen.[11]
Editorische Anmerkungen 1 - "Noskiden": abschätzige kommunistische Bezeichnung für Anhänger und Gefolgsleute Gustav Noskes bzw. (allgemein) für "rechte" Sozialdemokraten. Der Sozialdemokrat G. Noske (1868 - 1946), Dezember 1918 - Februar 1919 im Rat der Volksbeauftragten (zuständig für die Ressorts Militär und Marine) und 1919/1920 Reichswehrminister, hatte sich bei der Niederschlagung von Aufständen und Unterdrückung von Unruhen der Hilfe von Freikorps und des alten Militärs bedient. 2 - "Die Welt" (Untertitel: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung) erschien wöchentlich von 1939-1943 in Stockholm. Sie war gewissermaßen (vorausschauend ) als Nachfolgeorgan jener "Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung" (s. d.) konzipiert, die Anfang 1940 in der Schweiz verboten wurde. Das obige Zitat ist der "Welt", Nr. 1 vom 18.-24.9.1939, entnommen. 3 - Denis Nowell Pritt (1887 - 1972), britischer Jurist und Politiker, seit 1918 Mitglied der Labour Party, 1935-1940 Labour-MP, 1940 aus der Partei ausgeschlossen, 1940-1950 parteiloses Parlamentsmitglied, 1954 Internationaler Stalin-Friedenspreis. Vgl. D. N. Pritt: Light on Moscow. Soviet Policy analysed, Harmondsworth 1939. 4 - D. N. Pritt: The Zinoviev Trial, London 1936. 5 - Sturz Litwinows: Siehe SM vom 26. Aug. 1939, Anm. 2 6 - Die polnische Regierung floh anlässlich des Einmarschs der sowjetischen Truppen am 17.9.1939 nach Rumänien, wo sie interniert wurde. 7 - Nach den u. e. Memoiren von V. Novy handelt es sich um Hermann Field. Hermann Field (geb. 1910) war ein in London lebender Amerikaner, der - nach der Besetzung Böhmens und Mährens durch die Deutschen - im Auftrag einer englischen Organisation als Fluchthelfer für bedrohte Tschechen tätig war. Hermann Field trug wie sein Bruder (s. u.) 1940/1941 dazu bei, dass Menschen aus Vichy-Frankreich entkommen konnten (darunter eine Reihe von Kommunisten, für die sich später ihre Bekanntschaft mit den Fields als verhängnisvoll auswirken sollte). Trotz ihrer humanitären Leistungen und ihrer Sympathien für den Kommunismus wurde fälschlich der Verdacht gegen sie konstruiert, sie seien "US-Spionageagenten". 1949-1954 verbrachte Hermann Field in einem polnischen Gefängnis, ohne je vor Gericht verurteilt worden zu sein. Nach seiner Freilassung kehrte er in die USA zurück.
8 - Vilém Novy (1904 - 1987), Schriftsetzer, schon früh Funktionär der KPTsch, Dezember 1938 - Juni 1939 illegale politische Tätigkeit, dann Emigration (Flucht) nach Polen, nach dem deutschen Überfall auf Polen Flucht nach Rumänien, 1939-1945 Exil in GB, in der Nachkriegszeit Chefredakteur des Zentralorgans der tschechischen Kommunisten und Abgeordneter, in den 50er Jahren im Gefängnis (u. a. wegen "mangelhafter bolschewistischer Wachsamkeit"), 1963 "rehabilitiert", danach Rektor der Parteihochschule in Prag. Vgl. Vilém Novy: Zeiten und Zeugen. Erinnerungen eines tschechischen Kommunisten, Berlin 1979. 9 - "Tschechoslowakische Legion": wahrscheinlich sind damit jene Soldaten und Offiziere gemeint, die nach dem deutschen Einmarsch (März 1939) aus der CSR nach Polen geflohen waren und von denen sich verschiedene bei Kriegsausbruch der polnischen Armee als Freiwillige zur Verfügung gestellt hatten. 10 - Briefschreiber unbekannt. 11 - "Klar im Erkennen ..."
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