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TEILDOKUMENT:




Teil A:
Wie steuern? Die alte, immer neue Frage




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I. Makro- oder Mikropolitik, Nachfrage- oder Angebotspolitik: Kein entweder – oder!



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1. Mit dem Euro in einen großen Binnenmarkt

1998 wird das sechste Jahr hintereinander, in dem die G7 Länder im Durchschnitt 2,5 Prozent Inflation nicht überschreiten oder noch darunter bleiben. Diesen Erfolg der Inflationsbekämpfung hätte noch vor zehn Jahren niemand erwartet. Inflationsbekämpfung ist kein Thema mehr, das zwischen den Parteien mit unterschiedlichen Orientierungen in Frage gestellt wird. Schwedische Sozialdemokraten oder französische Konservative sind hier inzwischen einer Meinung. Diese gemeinsamen Erfolge sind wichtiger als alle Versprechen und Verpflichtungen für die Zukunft.

Wir begrüßen deshalb eine fristgerechte Einführung des Euro zum 1. Januar 1999. Die Stabilisierungserfolge in den großen Ländern der EU bieten die wesentliche Voraussetzung für eine gemeinsame Währung. Die Einhaltung der Kriterien der 3 Prozent Neuverschuldung und der 60 Prozent Gesamtverschuldung werden in ihrer Bedeutung für den Erfolg der Währungsunion übertrieben. Die ungünstige gesamtwirtschaftliche Ausgangssituation ist kein Grund, den Start des Euro zu verschieben. Die Vorteile eines weiter wachsenden Handels ohne Wechselkursrisiken überwiegen bei weitem kurzfristige Risiken durch direkten regionalen Wettbewerb. Die deutsche Wirtschaft und die Arbeitnehmer – vor allem in den Exportindustrien – werden von der gemeinsamen Währung stark profitieren. Die Erfolge einer beschäftigungsorientierten Lohnpolitik werden dann nicht mehr durch Aufwertungseffekte „aufgefressen".

Es ist betrüblich, daß es in den letzten Jahren nicht gelungen ist, die Interessen Deutschlands an einer gemeinsamen Währung in einer breiten Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Die Sorge „Wir verlieren eine gute DM und tauschen einen weichen Euro ein", ist verständlich, aber als Entscheidungsgrundlage zu einseitig.

Richtig und wichtig ist:

Die Einigung Europas ist ein kostbares Gut, auch im wirtschaftlichen Sinn.

Wir schaffen das Risiko ab, daß immer wieder Exporterfolge durch Aufwertungen zunichte gemacht werden.

Wir vermeiden die unnötigen Kosten verschiedener Währungen in einem zusammenwachsenden Wirtschaftsraum.

Wir verstärken die mittelfristigen Bemühungen einer Konsolidierung der öffentlichen Haushalte in allen beteiligten Ländern und fördern damit unsere eigenen langfristigen Interessen.

Wir verstärken die internationale Arbeitsteilung in Europa und erzielen mehr Wachstum und Beschäftigung.

Dabei wird die deutsche Bevölkerung nicht überfordert, denn besondere Anpassungszwänge für die Bundesrepublik sind nicht zu erkennen. Die Angst vor dem Verlust einer stabilen Währung muß übersetzt werden in die Frage, wie unabhängig und stabilitätsorientiert sich die europäische Zentralbank verhalten wird. Hier bleibt ein kleines Restrisiko. Die Sorgen sind jedoch übertrieben. Selbst in Großbritannien wurde durch Beschluß der neuen Labourregierung die Unabhängigkeit der Zentralbank gestärkt. Das Konzept einer unabhängigen Zentralbank hat in Europa inzwischen ein solides politisches Fundament.

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2. Makrosteuerung unter den Bedingungen hoher Staatsschuld

Die gängige Unterscheidung zwischen Angebots- und Nachfragepolitik ist in einem schlechten Sinne abstrakt. Denn natürlich sind es beide Klingen der Schere (Alfred Marschall), die den Schnitt bewirken. Da wir uns auf strukturelle und einzelwirtschaftliche Aspekte konzentrieren, könnte es so scheinen, als ob wir die Makro-Politik als wirkungslos ansehen. Tatsächlich dürfte ein gutes Drittel der aktuellen Arbeitslosigkeit konjunktureller Natur – also durch gesamtwirtschaftliches Koordinationsversagen verursacht – sein.

Dennoch konzentrieren wir uns auf den großen Rest, die zwei Drittel an Beschäftigungslosigkeit, in denen das Bündel der strukturellen Faktoren seinen Niederschlag findet: auf Reallöhne, die nicht durch eine entsprechende Produktivität gedeckt sind, auf ein Lohnfindungsverhalten, das sich um die Beschäftigten, die Insider, bemüht, auf Abstimmungsmängel zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage in regionaler und qualifikatorischer Sicht usw. Diese Akzentuierung rührt nicht daher, daß wir die gesamtwirtschaftliche Ebene nicht mehr in der Pflicht sehen. Unsere Schwerpunktsetzung hat auch viel mit den komparativen Vorteilen des Managerkreises zu tun: Wir wollen das Wissen aus unternehmerischen Erfahrungen für die Politik nutzbar machen.

Ein zweiter Grund kommt hinzu: Gegenwärtig sind der staatlichen Fiskalpolitik durch den rapiden Anstieg der Staatsschuld in den neunziger Jahren zum Teil die Hände gebunden. Um so mehr müssen Umschichtungen öffentlicher Mittel in produktivere Verwendungen und ein Umbau der Einnahmesysteme, die mehr Anreize eröffnen und die Funktionsweise von Märkten verbessern, auch realisiert werden, denn nur so können schwache Konsumausgaben und schon zu hohe Staatsschulden noch kompensiert werden. Der Anstieg der Exporte reicht nicht aus. Wir brauchen eine Binnenexpansion. Die setzt zuerst Vertrauen und positive Erwartungen voraus. Die Unternehmer müssen wissen, wie sich unter dem Regime des Euro Kosten und Wettbewerbsvorteile entwickeln werden. Die Unternehmer und Arbeitnehmer müssen wissen, daß in den kommenden Jahren Gewinne und Einkommen deutlich entlastet werden und nicht immer wieder neue Abgabenprozente auf sie zukommen.

Dagegen wirkt der Nachfrageimpuls eines undifferenzierten Anstiegs der Pro-Kopf-Arbeitseinkommen nur kurzfristig und kann sogar negative Effekte nach sich ziehen, wenn er einen beschäftigungsfeindlichen Umfang annimmt: So war der starke Lohnanstieg in Deutschland 1990 bis 1992 mit ursächlich für die nachfolgende schwere Rezession. Der beispiellose expansive Impuls des einheitsbedingten Verschuldungsanstiegs hat zwar, soweit er zu öffentlichen und privaten Investitionen führte, die Wachstumsmöglichkeiten positiv beeinflußt, ist im übrigen aber zusammengebrochen. Staatliche Nachfrageimpulse ohne gleichzeitige politische und technische Innovationsschübe verpuffen wie Strohfeuer.

Auch ein bloßer Anstieg der verfügbaren Einkommen (z.B. durch steigende Löhne) induziert nicht automatisch und proportional Beschäftigung. Ein niedriger Anstieg der Pro-Kopf-Einkommen kann auch auf der Kostenseite die Voraussetzungen für mehr Arbeitsplätze verbessern, damit mehr Köpfe Arbeitseinkommen beziehen und damit auf der Nachfrageseite die Binnenexpansion gefördert wird. Die Lohnsteigerung kann dabei bis an die Produktivitätssteigerung heranreichen. Außerdem ist entscheidend, welcher Anteil des (kostenrelevanten) Bruttoeinkommenszuwachses tatsächlich in verfügbares Einkommen umgesetzt wird und welche Bedingungen für die Unternehmen existieren, steigende Gewinne in zusätzliche Arbeitsplätze zu „investieren".

Steigende Exporte und wachsende Unternehmensgewinne setzen sich um so eher in inländische Investitionen und ein wachsendes Arbeitsplatzangebot in Deutschland um,

• je höher die Nettokapitalrendite einer Investition im Verhältnis zu einer vergleichbaren Auslandsinvestition ist und – in Zusammenhang damit –

• je unkomplizierter und einfacher es ist, zusätzliche Arbeitskräfte zu – im internationalen Konkurrenzvergleich – rentablen Bedingungen einzustellen und sich gegebenenfalls auch wieder von ihnen zu lösen.

Für das Wachstum bleibt entscheidend, daß

Arbeit zu Konditionen angeboten wird, die es attraktiv machen, bei steigender Nachfrage auch das Angebot an Arbeitsplätzen zu erhöhen;

zusätzliche Arbeitseinkommen wegen geringer Grenzbelastung auch tatsächlich vorrangig die verfügbaren Einkommen erhöhen;

die Perspektiven der Kapitalverwertung und allgemein die Zukunftserwartungen so gestaltet sind, daß inländische Standorte für Neu- und Ersatzinvestitionen in- und ausländischen Kapitals eine hinreichende Anziehungskraft entfalten.

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3. Eine Angebotspolitik von links einleiten

Es wäre fatal, wenn im Wahlkampf 1998 ein Wettlauf darum entstünde, wer den Vorurteilen von Wählern oder ihrem Sicherheitsbedürfnis am wohlfeilsten Nahrung bietet. Was Realitätsblindheit für Schäden anrichtet, muß allen zur Genüge klar geworden sein, als Bundeskanzler Kohl

eine Halbierung der Arbeitslosigkeit versprach,

die blühenden Landschaften für Ostdeutschland ankündigte,

und bis heute daran festhält: „Wir sind kein Einwanderungsland", obwohl die Bundesrepublik unter den Industrieländern, selbst im Vergleich zu den USA und Kanada, die höchste Einwanderungsintensität erreicht.

Solche Versprechen oder Bewertungen haben nichts bewirkt, sondern nur deutlich gemacht: Wir werden mit wenig Realitätsbezug regiert. Daß der Bundeskanzler die Illusion eines Aufbruchs erzeugt hat, de facto aber „Weiter so" handelte wie zuvor, hat viel zur Stimmung der Resignation und zu den Ohnmachtsgefühlen beigetragen, denen man allenthalben begegnet und die jetzt wie Mühlsteine am Hals der verantwortlich Handelnden wirken.

In der SPD brauchen wir eine intensivere Auseinandersetzung mit einem Paradigmenwechsel in Richtung auf eine Angebotspolitik von links und eine lang anhaltende Anstrengung zur Verbesserung der mikroökonomischen Grundlagen künftigen Wachstums. Niemand soll das Wissen um die Bedeutung von Nachfragestrategien aufgeben. Der Berg der Staatsschulden macht jedoch globale fiskalische Nachfragestrategien unmöglich. Konsolidierung hat Vorrang. Eine Kompensation wird dadurch möglich, daß eine an der Expansion der Arbeitsplätze orientierte Lohnpolitik Spielraum für eine wachstumsfördernde Geldpolitik verschafft und ein vereinfachtes Steuersystem Innovationsimpulse ohne zusätzliche Defizite auslöst. Außerdem lassen sich die Strukturen von Einnahmen und Ausgaben zugunsten von mehr Wachstum und Beschäftigung verbessern. Der Staat ist nicht handlungsunfähig.

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II. Mehr Beschäftigung und Wachstum durch einen flexiblen Arbeitsmarkt



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1. Zum Zustand des Arbeitsmarkts und der Politik

Die Arbeitslosen in Europa erlebten eine Flut von Versprechungen. Die Realität blieb mit 18 Millionen Erwerbslosen unverändert. Die Bundesrepublik erreicht den 5-Millionen-Rekord. Resignative Positionen breiten sich aus. Ein Modesatz lautet: „Durch Wachstum wird keine Vollbeschäftigung entstehen". Dennoch: mehr Wachstum wäre zumindest hilfreich. Leider entspricht die historisch überkommene Qualifikationsstruktur heute nicht der Struktur der nachgefragten Qualifikationen. Vor allem wächst die Zahl der niedrig qualifizierten Arbeitnehmer (Arbeitslosenquote über 20 Prozent), die bei den herrschenden hohen Abgaben und Preisen der von ihnen erzeugten Produkte nicht in der Lage wären, ein ausreichendes Einkommen zu verdienen. Schließlich wird auch das Bruttosozialprodukt zu wenig arbeitsintensiv erzeugt. Die Beispiele anderer Länder und einfache Anschauung machen deutlich, uns geht die Arbeit noch lange nicht aus. Arbeitslosigkeit ist nach den internationalen Erfahrungen kein unabänderliches Schicksal. Die (unvollständige) Aufzählung verschiedener Gründe macht allerdings die Schwierigkeiten einer Politik für mehr Beschäftigung deutlich. Politik für mehr Beschäftigung muß den lähmenden Pessimismus genauso überwinden wie die Starrheiten der Lohnbildung oder des Ausbildungssystems. Sie muß die Besteuerung genauso reformieren wie auch die Beziehungen zwischen den Tarifparteien.

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2. Flexibilisierungsrechte für die Betriebsparteien

Die veränderten Entwicklungsbedingungen zwingen zu neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen auch in der Arbeitsmarktpolitik. Dabei muß sie sich von dem Grundsatz leiten lassen: Wirtschaftliche Beschäftigungssicherheit für viele ist mehr wert als rechtliche Arbeitsplatzsicherheit für immer weniger Arbeitnehmer. Der Dreh- und Angelpunkt bleibt Flexibilisierung. Das wird vielfach als Entlassung der Arbeitnehmer in einen schutzfreien Raum mißverstanden. In Wirklichkeit brauchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine definierte Dispositionsfreiheit über geltende allgemeine Regelungen. Viele kleine Beschäftigungspakte müssen möglich werden.

Dabei geht es nicht darum, soziale Schutzrechte prinzipiell weiter zu reduzieren. Unternehmensleitungen und Belegschaftsvertretungen sollten aber bestimmte Regelungen zeitweise außer Kraft setzen können, wenn dies der Sicherung der Arbeitsplätze und neuen Beschäftigungsmöglichkeiten dient. Die vordringlichsten Flexibilisierungsrechte sind:

Es werden Sozialpläne verabredet, die dem Übergang der Betroffenen auf einen neuen Arbeitsplatz dienen, statt Abfindungen zu vereinbaren. Solche Maßnahmen können z.B. Qualifizierungen sein. Sie sind nach § 254 SGB III durch die Bundesanstalt für Arbeit förderungsfähig.

Die Betriebsparteien sollten für einen begrenzten Zeitraum für gefährdete oder im Aufbau befindliche Betriebsteile oder Betriebe einen Verzicht auf Tarifentgelte vereinbaren können, die eine Beteiligung der Arbeitnehmer an künftigen Gewinnen vorsehen.

An die Stelle von Wochenarbeitszeiten treten Jahresarbeitszeiten, um die Zeiten hoher und niedriger Beschäftigung verrechnen zu können.

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3. Beschäftigungsorientierte Lohnbildung

Der Arbeitsmarkt schrumpft in verschiedenen Bereichen in seine produktiven Bereiche hinein. Die dadurch hervorgerufene Produktivitätssteigerung bei den verbleibenden Arbeitsplätzen kann nicht zum Maßstab der Lohnerhöhung werden, weil zu diesen Produktivitäten keine ausreichende Zahl von neuen Arbeitsplätzen entsteht. Die Lohnentwicklung sollte weiter hinter der Produktivitätsentwicklung zurückbleiben. Die Lohnstrukturen entsprechen in vielen Bereichen nicht den Strukturen der Produktivität. Die Lohnspreizung ist zu gering. Die bittere Wahrheit lautet: Der technische Fortschritt und die wachsende Komplexität von Märkten, Organisationen und Lebensbeziehungen machen niedrig qualifizierte Arbeitskräfte immer häufiger nicht beschäftigbar. Dort, wo Bruttolöhne aus Gründen der Beschäftigungsexpansion sinken, müssen gezielte Abgabensenkungen einer entsprechenden Verringerung der Nettoeinkommen entgegenwirken oder einen Ausgleich aus öffentlichen Kassen schaffen.

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4. Mehr Beschäftigung für Niedrigqualifizierte

Viele Nachfrager, insbesondere im Dienstleistungssektor, stöhnen über zu hohe Bruttolohnkosten, die sie selbst aus hochversteuerten Nettoeinkommen bezahlen. Die Anbieter fühlen sich ausgeplündert, denn es bleibt zu wenig übrig, um davon leben zu können. Schwarzarbeit wird zur gemeinsamen „Notwehr". Besonders betroffen ist, wer den Übergang aus der Sozialhilfe in eine niedrig bezahlte Erwerbstätigkeit schaffen will. Bei gering bezahlten Tätigkeiten oder bei Teilzeitbeschäftigung z.B. von alleinerziehenden Müttern, die eine Kombination von Sozialhilfe und Erwerbseinkommen erforderlich machen, besteht de facto ein Grenzsteuersatz von 100 Prozent, weil die Sozialhilfe bei steigenden Einkommen entsprechend gekürzt wird. Die derzeitige Ausgestaltung der Sozialhilfe lädt zur Schwarzarbeit ein.

Hier müssen die gezielte Kombination aus Transferzahlungen und Arbeitseinkommen oder eine Absenkung der Abgaben im unteren Einkommensbereich zu einer Ausweitung der Arbeitsplätze führen. Auch ökonomisch macht das in einer hochentwickelten Wirtschaft Sinn. Die Volkswirtschaft produziert Computer und Bratwurst. Gleichzeitig bleiben für alle die Arbeitsanreize zu gering, weil Einkommensteuer und Sozialabgaben zusammen zu unerträglichen Belastungen führen. In einer Steuer- und Abgabenreform müssen die Belastungen auf das Einkommen gesenkt werden.

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5. Die Qualifikationslücke schließen

Aus- und Weiterbildung allein lösen das Beschäftigungsproblem nicht. Allerdings gilt auch: ohne ein umfassendes und modernes Lehrstellenangebot und ohne ganz erhebliche Weiterbildungsanstrengungen für Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit bedrohte Erwerbstätige werden bei steigender Nachfrage schon lange vor jeder Vollbeschäftigung Engpässe am Arbeitsmarkt auftreten und als Wachstumsbremse wirken.

Die Diskrepanz zwischen angebotenen Qualifikationen und benötigten Qualifikationen hat offensichtlich zugenommen. Deshalb wird berufliche Weiterbildung immer wichtiger. Daraus müssen endlich Schlußfolgerungen gezogen werden, um die riesigen Kosten der Arbeitslosigkeit durch Investitionen, die einen positiven Return on Investment aufweisen, zu verringern. Die Bundesanstalt für Arbeit beziffert die Kosten der Arbeitslosigkeit im Jahr 1997 auf 180 Mrd. DM pro Jahr (Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe für Erwerbsfähige) und liegt dabei vermutlich noch an der unteren Grenze. Der Aufwand für die Qualifizierung von Arbeitslosen, also der investive Teil in der Verwendung dieser Mittel, liegt (rechnet man das Unterhaltsgeld nicht mit, das ohnehin als Arbeitslosengeld oder –hilfe zu zahlen wäre) im Jahr 1998 bei 4 Mrd. DM oder 2,2 Prozent dieser gigantischen Summe.

Eine grobe Modellrechnung liefert einen Hinweis auf den Weg zu einer Beantwortung der Frage, wie hoch die Investitionsquote in Weiterbildung und Qualifizierung sein sollte, um die wirtschaftlichen Kosten der Arbeitslosigkeit so niedrig wie möglich zu halten. Wenn für einen Langzeitarbeitslosen um 50 Prozent höhere Aufwendungen (gegenüber den Unterhaltskosten) für ein Jahr anfallen, weil er qualifiziert wird, so ergibt sich schon ein beachtlicher positiver Return on Investment innerhalb eines Jahres nach Abschluß der Qualifizierung, wenn 50 Prozent der Qualifizierten eine Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt finden.

Warum können nicht auch in diesem Bereich marktwirtschaftliche Mechanismen zur Optimierung der Investitionsquote genutzt werden? Weiterbildungsträger erhalten nach einem marktwirtschaftlichen Modell für Arbeitslose, die sie qualifizieren, nicht mehr einen festen Zuschuß pro Lehrgang und Teilnehmer, wie bisher üblich, sondern eine Art „Kopfgeld" für jeden von ihnen qualifizierten Arbeitslosen, der im ersten Arbeitsmarkt wieder dauerhaft Fuß faßt. Das „Kopfgeld" wäre je nach Dauer der Arbeitslosigkeit (die ja auch höhere Kosten verursacht hat) zu variieren, um nicht nur den Leichtvermittelbaren, sondern auch schwervermittelbaren Langzeitarbeitslosen eine Chance zu geben.

Die Bundesrepublik verfügt über eine vielfältige und an Wettbewerb gewöhnte Bildungsträgerlandschaft zur Qualifizierung von Arbeitslosen. Für sie würde in diesem Modell auch die Vermittlung von Arbeitslosen zu einer marktwirtschaftlichen Aufgabe, denn die Bildungsträger würden sich bemühen, nicht nur marktgerecht zu qualifizieren, sondern zugleich die Arbeitsvermittlung zu optimieren.

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III. Förderung des wirtschaftlichen Wachstums durch Forschung und Technologie



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1. Daten und Fakten

Eine Bilanz von 15 Jahren Forschungs- und Technologiepolitik der Bundesregierung läßt eine zunehmende Divergenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit erkennen. Der Forschungsetat des „Zukunftsministeriums" leidet unter Auszehrung, sein Anteil am Bundeshaushalt ist seit 1982 um ein Drittel gesunken. Der Anspruch, sinkende staatliche Forschungsausgaben durch steigende private Aufwendungen der Wirtschaft zu kompensieren, blieb Illusion. Bezogen auf den Anteil am BIP ist die Bundesrepublik nach OECD-Statistiken inzwischen auf einen Mittelplatz zurückgefallen. Die Gefahr einer Erosion der Leistungskraft wächst. Noch gibt keinen Grund zur Panik, doch die Kräfte der Erneuerung können als Folge zu schwacher Forschungsausgaben von Wirtschaft und Staat nachlassen. Alarmierend ist die Positionierung der deutschen Wirtschaft in neuen Märkten. Deutschland erwirtschaftet seine Exportüberschüsse mit neuen Produkten in klassischen Märkten und zeigt Schwächen in Märkten, die sich neu herausgebildet haben.

Der quantitative Rückgang der öffentlichen Forschungsausgaben scheint von einer qualitativen Versteinerung der Struktur des Forschungshaushalts und seiner instrumentellen Mechanismen begleitet.

Die im Bundeshaushalt 1998 genannten Schlüsseltechnologien für das 21. Jahrhundert sind ganz überwiegend bereits in den siebziger Jahren als solche erkannt und gefördert worden.

Eine durchgreifende Reform der Großforschungseinrichtungen, mit dem Ziel, neue Schwerpunkte zu setzen, den Transfer von Forschungsergebnissen zu verbessern und durch den Transfer von Personen zu unterstützen, läßt immer noch auf sich warten. Als Ergebnis der Mischfinanzierung von Forschungseinrichtungen blockieren sich Bund und Länder gegenseitig.

Der Zusammenbruch der industriellen Strukturen in Ostdeutschland hätte eine energische und transparente Strategie der Erneuerung erfordert, bei der geklotzt und nicht gekleckert wird. Sie ist weitgehend ausgeblieben. Hier hat die Forschungspolitik in Verbindung mit der Wirtschaftspolitik am deutlichsten versagt. Statt problemorientierter neuer Ansätze wurden klassische Förderungstechniken der Bundesrepublik auf die völlig anderen Verhältnisse in den Neuen Ländern übertragen.

Hinzu kommen einige Fehlentwicklungen, die nur schwer zu korrigieren sind:

• Auf europäischer Ebene sind in den vergangenen 15 Jahren eine Vielzahl von Förderprogrammen aus der Taufe gehoben worden, aber die bürokratischen Verfahren der Mittelvergabe machen sie vor allem für kleine und mittlere Unternehmen weitgehend unattraktiv. Eine Reform der europäischen Forschungsförderung ist dringlich.

Die Bundesregierung fördert Schwerpunkte in der europäischen Weltraumforschung, die wissenschaftlich fragwürdig sind und wirtschaftlich nur geringfügige Multiplikatoreffekte hervorrufen. Das ESA-Programm muß dringend reformiert werden. Die ESA kostet uns eine Milliarden DM pro Jahr. Es wird Zeit, in diesem Bereich ein gemeinsames Konzept mit Frankreichs neuer Regierung zu entwickeln und, soweit noch möglich angesichts der Bindungen an die bemannte Weltraumfahrt, dann auch durchzusetzen.

Zu einem interessanten neuen Ansatz könnte sich das Instrument der Leitprojekte entwickeln, vorausgesetzt, das Entscheidungstempo entspricht dem schnellen technischen Wandel und die Umsetzung wird nicht durch Finanzierungsprobleme verzögert. Hier hat der Zukunftsminister gute Ideen, ist aber zu schwach, um die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen.

Positiv ist auch in vielen Punkten das Engagement des Forschungsministeriums im Bereich der Informationstechnik und der Neuordnung der Informationsmärkte. Aber es weist einige Lücken auf, die dringend geschlossen werden müssen, beispielsweise auf dem Gebiet der Nutzung der Informationstechnik für Bildung und Weiterbildung.

Fazit: Der Zukunftsminister will in einigen Feldern die Erneuerung, aber er vermittelt zu schwache Zukunftsimpulse, um als vorwärtstreibende Kraft in einer Bundesregierung zu wirken, die sich ohnehin schwertut, Visionen zur Zukunftsgestaltung zu entwickeln.

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2. Handlungsnotwendigkeiten

Einige strategische Entscheidungen bei der Formulierung einer neuen Forschungspolitik und der daraus folgenden Aufstellung eines Forschungshaushalts ab 1999 sind:

Die Forschungspolitik muß aus ihrem Aschenputteldasein gelöst werden.

Sie braucht im Bundeshaushalt die Priorität, die zur Sicherung der Zukunft unseres Landes erforderlich ist.

Eine neue Politik auf Bundesebene darf nicht durch nachlassende Anstrengungen der Länder konterkariert werden. Sie muß so angelegt werden, daß auch auf Länderebene ein neuer Aufbruch stattfindet.

Wichtige Zukunftsthemen sehen wir in folgenden Bereichen:

In der informatisierten Welt von morgen werden neue mathematische Verfahren und Methoden, die Nutzung virtueller Realitäten bei der Vermittlung von Wissen und Erkenntnis, die Informatisierung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen und der zielgerichtete Zugang zu Informationen eine wachsende Rolle spielen. Die Forschungspolitik wird sich auf diese Herausforderung in einem internationalen Kontext ständig neu einstellen müssen, um dem Tempo der Entwicklung folgen zu können.

Im Straßenverkehr sind neue Antriebstechniken ein interessantes Forschungsthema. Neue energiesparende und umweltverträgliche Antriebstechniken werden vor allem im Bereich der Umwandlung von chemisch gespeicherter Energie in elektrische Energie (z.B. Brennstoffzellen), ihrer Speicherung in Batterien (ein Feld der Ionik, die in Deutschland als Forschungsthema bisher vernachlässigt wird) und der effizienten Steuerung der Energierückgewinnung (intelligente Leistungselektronik) vorangetrieben werden. Eine Beschleunigung durch Forschungsförderung führt zu umweltverträglichen Lösungen, die international ausstrahlen und der deutschen Automobilindustrie neue Märkte erschließen können. Sie sind ein wichtiger Beitrag für ein weltweites nachhaltiges Wachstum.

Forschung für eine bezahlbare Medizintechnik (unter Einsatz moderner Mikrotechniken), für die effiziente Bekämpfung der immer noch nicht beherrschbaren Krankheiten und Allergien (unter Nutzung des Fortschritts in der Gentechnik) oder für die wirksame Bekämpfung von Schmerz (unter Migräne leiden immer noch Millionen Menschen in Deutschland) gehören ebenso zu den Prioritäten, wie die Humanisierung des Arbeitslebens, die in der sozialliberalen Koalition zu vielfältigen neuen Erkenntnissen geführt hat (z.B. Gruppenarbeit statt Fließband) und im Hinblick auf die Probleme der Zukunft weiterentwickelt werden muß.

Forschungs- als Industriepolitik darf kein Tabuthema bleiben. Wenn öffentliche Forschungseinrichtungen ihre Prioritäten an Zukunftsmärkten orientieren, so ist das ein Beitrag zur Modernisierung der deutschen Wirtschaft und Teil einer Industriepolitik, in der auch die direkte Förderung von Unternehmen, von Leit- und Verbundprojekten und von indirekt spezifischen Förderprogrammen zur Nutzung des Potentials neuer Technologien ihren Platz hat. Entscheidend sind die schnelle Umsetzung neuer Produkte und Dienstleistungen in den Markt, damit neue Arbeitsplätze entstehen, und die effiziente Prioritätensetzung in der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft, in der die Forschungspolitik eine Moderatorenrolle spielen kann und muß. Prioritäten sind nicht zu haben ohne Posterioritäten.

Die Forschungspolitik hat sich selbst Fesseln angelegt, die eine effiziente Prioritäten- und Posterioritätensetzung behindert. Das gilt für die Aufsplitterung der Forschungspolitik des Bundes auf viele Ressorts und für die schwierige Zusammenarbeit mit den Ländern im Bereich der institutionellen Forschungsförderung.

Die forschungspolitischen Schwerpunkte und Instrumente müssen so angelegt werden, daß spezifische Fördermaßnahmen grundsätzlich zeitlich befristet werden (Zero Based Budgeting) und eine enge Abstimmung nationaler und europäischer Forschungsförderung sichergestellt wird. Wichtigstes Ziel einer neuen Politik ist es, dazu beizutragen, daß die Wirtschaft ihre Forschungsanstrengungen in Deutschland wieder erhöht. Das wird nur gelingen, wenn diese Politik von einer Verbesserung der Rahmenbedingungen für forschungsintensive Unternehmen am Standort Deutschland begleitet wird. Forschungspolitik ist deshalb nicht nur Forschungsförderung. Sie muß breiter angelegt werden und eng mit anderen Politikbereichen kooperieren.

Junge Technologieunternehmen mit hohem Wachstumspotential sind für die ständige Erneuerung der Wirtschaftsstruktur der Bundesrepublik lebenswichtig. Eine neue Bundesregierung sollte daher unter Federführung des Forschungsministeriums ein Gesamtkonzept zur Gründung junger Technologieunternehmen verabschieden, das unter anderem bei den Rahmenbedingungen für die Bereitstellung von professionell gemanagtem Wachstumskapital ansetzen muß.

Eine für die Zukunft unseres Landes entscheidende Aufgabe hat Forschungspolitik bei der Erneuerung der Wirtschaftsstrukturen in Ostdeutschland zu erfüllen. Hier muß qualitativ und quantitativ in anderen Dimensionen als bisher gedacht und gehandelt werden. Die Förderung des Bundes muß in einer Hand gebündelt werden, damit sich in Abstimmung mit der Wirtschaft und den Landesregierungen Technopole bilden können, die als Kristallisationspunkte für neue Strukturen dienen. Fördermaßnahmen für Unternehmen müssen radikal vereinfacht, transparent angelegt und insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen und für Neugründungen attraktiv gestaltet werden. Bei den Fördermaßnahmen für kleine und mittlere Unternehmen muß die Humankapitalbildung und die Softwareförderung stärker ins Blickfeld rücken (Beispiel: wachstumsorientierte Personalkostenzulage).

Der Transfer von Forschungsergebnissen in wirtschaftlich oder gesellschaftlich attraktive Anwendungen ist nicht ohne einen lebendigen Personalaustausch zwischen Forschung und Anwendung zu realisieren. In der institutionellen Forschungsförderung muß der Übergang von traditionellen Forschungsbürokratien zu wettbewerbsorientierten Forschungsunternehmen geschafft werden, ohne dabei die Grundlagenforschung zu vernachlässigen oder gar in Frage zu stellen. Ein darauf zugeschnittener Forschungstarifvertrag ist notwendig, der den Wechsel zwischen Forschung und Industrie begünstigt.

Um den Anforderungen an die Neugestaltung der Forschungspolitik zu genügen, müssen nicht nur die besten Köpfe in Wirtschaft und Wissenschaft an ihrer Definition beteiligt werden. Auch die Entscheidungsstrukturen im Ministerium gehören auf den Prüfstand. Eine flache Hierarchie, Teamarbeit über Referatsgrenzen hinweg und eine reibungslose Zusammenarbeit mit einer Projektträgerlandschaft, die wesentliche Entscheidungen bereits in eigener Regie trifft, stellen an die Organisation der Forschungspolitik Anforderungen, die eingelöst werden müssen, damit eine neue Politik erfolgreich umgesetzt werden kann.

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IV. Die Staatsfinanzen neu ordnen [ Zu einer ausführlichen Darstellung der Staatseinnahmen und - ausgaben sowie für eine detaillierte Analyse der Budgetstruktur des Bundes vgl. Teil A, Kap. IV der Langfassung.]



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1. Die Entwicklung des Staatssektors



1.1 Zu den Aufgaben der Haushaltspolitik

Die wichtigste Aufgabe der Haushalts- und Finanzpolitik besteht in der Koordination der Fachpolitiken zu einem gesamtwirtschaftlich und finanzpolitisch verträglichen Ganzen. Die Festlegung der Steuer- und Abgabenquote, der Einnahmestruktur, des zulässigen Defizits, des gesamtwirtschaftlich verträglichen mittelfristigen Ausgabepfads und die Aufteilung des so definierten Ausgabevolumens auf die verschiedenen Politikfelder sind die eigentlich elementaren politischen Entscheidungen, die – ob bewußt oder unbewußt – immer den Rahmen für alles Übrige setzen.

1.2 Die Ausgaben – Gesamtentwicklung

Seit den fünfziger Jahren wirkte ein ständiger Turboeffekt. Der Anteil der Staatsausgaben am BIP erhöhte sich von 42,0 Prozent in 1970 auf 48,9 Prozent in 1980. Das Bruttoinlandsprodukt stieg rasch. Seit 1980 wirkt dagegen eine Doppelbremse. Das Wachstum der Wirtschaft hat sich verlangsamt. Bei gleichzeitig leicht fallender Steuerlastquote wurde das Ausgabeniveau nur um den Preis steigender Schulden aufrechterhalten (Staatsschuld 1998 2.370 Mrd. DM, Zinsen rund 140 Mrd. DM). Der Anteil der Zinsen am BIP erreichte 5,4 Prozent (Investitionen noch 5,6 Prozent). Nach Abzug der Zinsen fallen die Ausgaben schon seit einiger Zeit real. Angesichts hoher Vorbelastungen oder feststehender Bindungen geht der Staat fiskalisch in Ketten.

1.3 Die Einnahmen

Die Einnahmenquote stieg parallel zu den Ausgaben (1970 39,3 Prozent des BIP, 1980 46,1 Prozent, 1998 44,6 Prozent). Dahinter ergab sich eine dramatische Strukturverschiebung weg von den Steuern und hin zu den Sozialabgaben (Anteil der Sozialabgaben am BIP in 1970 12,6 Prozent, in 1998 19,8 Prozent). Der Anteil der Steuerquote am BIP sank von 24 Prozent im Jahr 1970 auf rund 21,7 Prozent im Jahr 1998. Der Rückgang der Steuereinnahmen entfällt weitgehend auf den Rückgang der Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie der Gewerbesteuer. Selbst der Anteil der Mineralölsteuer ist entgegen allen politisch erklärten Zielsetzungen nicht gestiegen.

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2. Die besonderen Probleme des Bundeshaushalts: Der Bund am Bettelstab



2.1 Ein Überblick

Die Situation des Bundeshaushaltes ist geprägt durch den steigenden Anteil an der Verschuldung des Staates von etwa 50 Prozent des BIP in 1980 auf rund zwei Drittel des BIP in 1995 und den fallenden Anteil der gesamten Staatsausgaben (1980 noch 41,6 Prozent der staatlichen Gesamtausgaben, 1996 nur noch 35,4 Prozent). Dahinter stehen die sinkende Ergiebigkeit der Lohn- und Einkommensteuer, und der Rückgang der Einnahmeanteile zugunsten der Länder unter anderem durch den Solidarpakt, der die Ostländer in den Finanzausgleich einbezog. Weitere Einnahmeverluste brachten die Bahnreform und die Reform des Familienlastenausgleichs.

Seit 1995 hat der Bund zugunsten der Länder insgesamt Einnahmeverluste von knapp 50 Mrd. DM hingenommen. Im Rollenkonflikt zwischen Bund und Ländern sind die Länder in einer starken Position, denn sie können risikolos engste fiskalische Interessen verfolgen, weil jeweils die Legitimation der Bundesregierung und nicht die einer einzelnen Landesregierung auf dem Spiel steht.

2.2 Die Ausgaben sinken

Der Anteil des Bundeshaushalts am BIP sinkt seit langem (1980 14,7 Prozent, 1998 rund 12 Prozent), und das trotz Mehrbelastung des Bundes durch die deutsche Einheit. Dieser Rückgang konnte nur verkraftet werden, weil Ausgaben auf die Sozialversicherung oder in Sondertöpfe verschoben wurden (Fonds Deutsche Einheit, Kreditabwicklungsfonds). Der Bund wird immer mehr zum Sklaven seiner Altlasten, die sich von 1980 bis 1998 von rund 24 Mrd. DM auf knapp 120 Mrd. DM erhöhten (Zinsausgaben, Pensionen, Kosten der Einheit, Zuschuß Bundeseisenbahnvermögen allein 15,8 Mrd. DM). Nach Abzug der Altlasten fielen die Ausgaben in den neunziger Jahren real ab. Bundeshaushaltspolitik gleicht einer ständigen Krisenbewältigung. Steigende Schulden und ein ständiges hektisches Stopfen von Haushaltslöchern bestimmen das Bild und unterhöhlen Vertrauen in die Verläßlichkeit der Politik. Den sinkenden Bundesanteil kann man schon als feststehendes „Waigelsches Gesetz" der neunziger Jahre konstatieren. Unter den gegebenen Bedingungen muß der Bund in den kommenden Jahren finanzpolitisch weitgehend handlungsunfähig werden.

2.3 Ein Ausweg

Nach den eingetretenen Verwerfungen in den öffentlichen Haushalten stehen nunmehr Richtungsentscheidungen in folgenden Bereichen an:

langfristige Einnahmeaufteilung zwischen Bund und Ländern, inklusive der Grundzüge einer Reform der Finanzverfassung,

Reform der Rentenversicherung, Neubestimmung einer Arbeitsteilung zwischen Bundeshaushalt und Sozialversicherung sowie Festlegung eines zulässigen Korridors der Sozialabgaben, denn der Bund wird am Ende immer für die Gesamtbelastung des Bürgers mit Steuern und Abgaben zur Verantwortung gezogen;

Klärung des insgesamt als verkraftbar angesehenen Staatsanteils. Das mit dem politisch festgelegten Einnahmeanteil verbundene Einnahmevolumen und seine trendmäßige Entwicklung wären auf der Grundlage einer vorsichtigen Schätzung des durchschnittlichen mittelfristigen BIP-Wachstums zu kalkulieren. Das zyklische Auf und Ab von Wirtschaftswachstum und Inflation wäre dabei außer acht zu lassen. Die so ermittelten Einnahmezahlen wären der Haushalts- und Finanzplanung zugrundezulegen.

Nach den großen, „politisch" entschiedenen Einnahmeverzichten des Bundes zugunsten der Länder im Umfang von 1,5 Prozent des BIP seit 1991 ist es unrealistisch, den früheren Einnahmeanteil des Bundes am BIP (1991 12,2 Prozent) schnell wieder zu erreichen. Bei den 10,3 Prozent des Jahres 1998 kann es allerdings auch nicht bleiben, 11 Prozent sollten angestrebt werden. Da die Einnahmen aus Privatisierungen und Notenbankgewinnen zurückgehen werden, wird der Anteil der Steuereinnahmen des Bundes um deutlich mehr als 0,7 Prozentpunkte des BIP angehoben werden müssen.

• Aus einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung bei gleichzeitiger Absenkung des Progressionsgrades und der Tarifsätze können nach einer Übergangsfrist gesamtstaatliche Mehreinnahmen von etwa 1,2 Prozent des BIP, darunter für den Bund von 0,5 Prozent des BIP, erwartet werden. Ein ähnlich hoher Betrag könnte für den Bund aus einer Erhöhung der Mineralölsteuer erzielt werden, was einer Erhöhung von rund 30 Pfennig pro Liter entspräche.

Für die dauerhaft tragfähige Nettoneuverschuldung des Bundes sollte eine Obergrenze von 1 Prozent des BIP angesetzt werden. Aus dem politisch normierten Einnahmeanteil und der dauerhaft tragbaren Verschuldung ergibt sich dann eine zulässige Ausgabenquote des Bundes von 12 Prozent des BIP – exakt die voraussichtliche Ausgabenquote des Jahres 1998. Diese wäre dann zwar durch den erhöhten Einnahmeanteil am BIP dauerhaft solide finanziert, neue Ausgabespielräume ergeben sich dadurch aber nicht.

In der fast schon totalen Krise der Bundesfinanzen liegt auch eine Chance. Keine Bundesregierung wird die nächste Legislaturperiode politisch überleben, wenn sie finanzpolitisch am Ausgangspunkt des September 1998 einfach weitermacht, denn alle rationalen Möglichkeiten der Verschuldung wie auch des Schiebens und Streckens sind erschöpft.

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3. Intelligente Konsolidierung durch Budgetierung und Modernisierung

Es muß eine systematische Strategie entwickelt werden, die das langfristige Ausgabewachstum an die langfristigen Einnahmemöglichkeiten bindet und das solchermaßen festgelegte Ausgabevolumen nach möglichst rationalen Kriterien auf die verschiedenen Ausgabezwecke verteilt. Das hierfür zu entwickelnde – und teilweise schon vorhandene – Instrumentarium läßt sich zusammenfassen unter dem Begriff ‘Budgetierung’. Als rationale Lösungen müssen:

• am langfristigen Trend orientierte Einschätzungen der Einnahmenentwicklung zur Entscheidungsgrundlage werden,

• langfristig orientierte Ausgabekorridore für die einzelnen Aufgabenbereiche zur Verfügung gestellt werden und

• langfristige Konsequenzen vorausschauend innerhalb des jeweiligen Ausgabenbereichs gezogen werden. Das schließt eine umfassende Prüfung von Normen, Gestaltungsprinzipien und Arten der Aufgabenerfüllung ein.

An der Spitze der Budgetierung muß eine Regelbindung der Ausgabenentwicklung an die Einnahmenentwicklung stehen. Es kommt im Kern darauf an, die Ausgaben nicht mehr als Summe der wie auch immer ermittelten Bedarfe festzulegen, sondern umgekehrt die Standards der Bedarfsdeckung vorausschauend am Entwicklungstrend der Einnahmeseite zu orientieren und auf dieser Grundlage die unvermeidliche Konkurrenz um knappe Mittel möglichst rational und transparent zu organisieren. Aus den Eckwerten zur Haushaltsstruktur des Bundes folgt, daß der gesamte Ausgaberahmen (nach Altlasten) bei vertretbarer Verschuldung auf längere Sicht nicht mehr real wachsen kann oder umgekehrt, daß Wachstum in einem Bereich die reale Abnahme in einem anderen voraussetzt. Die Finanzkorridore der verschiedenen Bereiche müssen für einen mittelfristigen Zeitraum politisch verläßlich festgelegt werden. Auf dieser Basis kann dann jeder Minister seine Ressortverantwortung wahrnehmen und am Ergebnis auch gemessen werden.

Die Ausgaben aller Gebietskörperschaften müssen entsprechend den langfristigen Einnahmemöglichkeiten verstetigt und auf dieser Grundlage in ihrer Produktivität optimiert werden. Die Produktivitätsreserven sind gigantisch. Sie werden aber erst erschlossen, wenn der politische Leistungswettbewerb seine Erfüllung in der optimalen Nutzung eines gegebenen und mittelfristig verläßlich festgelegten Ausgabevolumens findet.

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4. Reform des Steuersystems

Die Bürger leiden seit einiger Zeit unter dem doppelten Zugriff ständig steigender Beitragssätze in der Sozialversicherung und einer wachsenden Grenzbelastung mit Lohn- und Einkommensteuer. In der politischen Diskussion wird demgegenüber oft auf den fallenden Anteil der Einkommensteuerbelastungen verwiesen. Allerdings sieht diese Meinung die Bürger nur als Kollektiv. Tatsächlich ist der Preis für immer mehr Abschreibungsmöglichkeiten, Ausnahmen und Schlupflöcher, die immer nur einer Minderheit zugute kommen, die ständig wachsende Belastung der Mehrheit, die (noch) keine besonderen Steuersparanstrengungen unternimmt und vielleicht dazu auch gar keine Möglichkeit hat. Haushalte aus dem oberen Fünftel der Einkommensbezieher tragen – bezogen auf ihr Einkommen – eine geringere Steuerlast als Haushalte der mittleren Fünftel. Dies führt trotz formal hoher Steuerprogression zu einer erheblichen Unterbesteuerung der Besserverdienenden. Der Lösungssatz könnte lauten:

Werden die steuersparenden Gestaltungsmöglichkeiten für Spitzenverdiener weitgehend gekappt, dann wird ein Tarif mit flacher Progression, niedrigerem durchschnittlichen und niedrigem Spitzensteuersatz möglich, bei dem die oberen Einkommensschichten einen höheren Anteil am Gesamtaufkommen tragen. Das Ergebnis (mehr tatsächliche Umverteilung bei niedrigeren Sätzen) würde auch die Ergiebigkeit der Steuer nicht beeinträchtigen.

Die Prämien auf hohe legale und illegale Steuer- und Abgabevermeidungsstrategien würden entfallen. Die Scheinpolitik einer hohen Progression, über die man im Plenum diskutiert, um sie in den Ausschüssen de facto wieder aufzuheben, würde ein Ende finden.

All dies hat jedoch nur sehr begrenzt in die deutsche steuerpolitische Diskussion der letzten beiden Jahre Eingang gefunden. Statt dessen geriet die Diskussion durch die (vor allem von der FDP betriebene) Fixierung auf eine „Nettoentlastung" in eine völlige Schieflage. Ein einflußreicher Teil der öffentlichen Meinung möchte offenbar die steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten für die Besserverdiener weitgehend erhalten und einen neuen, weit niedrigeren Steuertarif. Das geht natürlich schon deshalb nicht, weil der Anteil der Lohn- und Einkommensteuer, Körperschaft- und Gewerbesteuer am BIP ist seit 1991 von 12,2 Prozent auf 10,7 Prozent gesunken ist und damit noch weit unter dem Niveau des Jahres 1970 liegt.

Zahlreiche Staaten – unter anderem die USA, England, Neuseeland, Australien, die Niederlande, Österreich und Italien – haben mittlerweile ihre Steuerprogression über die Länge des gesamten Tarifs teilweise erheblich gesenkt und gleichzeitig die Bemessungsgrundlage verbreitert. Sie haben allesamt bei niedrigeren Sätzen ein höheres Aufkommen als wir. Unsere Vorschläge sind keine Utopie. Sie entsprechen vielmehr einem fast schon allgemeingültigen internationalen Standard.

Für eine Einkommen- und Körperschaftsteuer mit breiter Bemessungsgrundlage und niedrigen Sätzen sprechen: Der Ergiebigkeitsaspekt, der Wachstumsaspekt, der Konkurrenzaspekt und der Gerechtigkeitsaspekt. Auch in Deutschland gibt es tragfähige und durchgerechnete Vorschläge, sei es der Vorschlag der Bareis-Kommission oder das Modell des ehemaligen rheinland-pfälzischen Finanzstaatssekretärs Dr. Thilo Sarrazin. Dennoch scheiterte die Reform, weil keine Partei den unterschiedlichen Gruppierungen ihrer Klientel den Verzicht auf bestimmte Vergünstigungen zumuten wollte. Im Ergebnis blieben jene, die einen großen Wurf wagen wollten, überall in der Minderheit. Damit haben nur wenige einen Nutzen, die meisten aber einen Schaden.

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V. Änderung der Finanzverfassung

Seit der Verfassungsklage von Bayern und Baden-Württemberg gegen den geltenden Länderfinanzausgleich hat das Thema ‘Finanzverfassung’ in den Medien Konjunktur. Auch die Vorschläge des Sachverständigenrats im Jahresgutachten 1997/98 haben die Diskussion weiter belebt. Es wird allerdings nicht möglich sein, eine grundlegende Neuordnung des Länderfinanzausgleichs ohne gleichzeitige Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern vorzunehmen, weil die Bundesergänzungszuweisungen integraler Bestandteil des bundesstaatlichen Finanzausgleichs sind, und weil die von Bayern und Baden-Württemberg angestrebte größere Selbstbehaltsquote bei den Einnahmen Lücken bei den ärmeren Ländern reißt, die nur durch zusätzliche Einnahmen oder zusätzliche Einsparungen geschlossen werden können.

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1. Die Mängel des bundesstaatlichen Finanzausgleichs

Bis Ende der sechziger Jahre hatten die Bundesländer, wie auch der Bund, kaum Schulden in nennenswertem Umfang. Die unterschiedliche Finanzkraft der Länder führte bei unvollkommenen Ausgleichsmechanismen zu einem entsprechend unterschiedlichen Ausgabeverhalten, kaum aber zu unterschiedlicher Verschuldung. Dann aber bewirkte die Reform des bundesstaatlichen Finanzausgleichs 1969 eine weitgehende Einebnung noch vorhandener Finanzkraftunterschiede zwischen den Bundesländern. Die Summe der Ausgleichsmechanismen bewirkt heute, daß Nehmerländer im Finanzausgleich (wie Schleswig-Holstein, Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz) inklusive Ausgleichszahlungen höhere Steuereinnahmen pro Kopf erzielen als Geberländer (wie Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern oder Baden-Württemberg). Die überkommenen Unterschiede in der Wirtschaftskraft sind im wesentlichen unverändert geblieben. Die Nehmerländer haben jedoch seit Anfang der siebziger Jahre trotz vergleichbar hoher Steuereinnahmen durchweg deutlich mehr Schulden gemacht als die Geberländer. Einschließlich der Zinsausgaben haben heute die Nehmerländer deutlich höhere Nettoausgaben pro Einwohner als die Geberländer und Jahr für Jahr eine deutlich höhere Nettoneuverschuldung. Noch 1980 hatte die Gesamtverschuldung der alten Bundesländer (ohne Stadtstaaten) 95 Prozent der jährlichen Steuereinnahmen betragen, 1995 waren es bereits 160 Prozent.

Der gegenwärtige Finanzausgleich hat grundsätzliche ordnungspolitische Mängel:

Wegen der Gleichverteilung der Einnahmen haben weder die reichen noch die armen Länder an einer ergiebigen Nutzung ihrer Steuerquellen ein tatsächliches Interesse.

• Die Zielsetzung des Finanzausgleichs, über die Gleichverteilung der Einnahmen die Gleichheit der Lebensverhältnisse in Deutschland sicherzustellen, führt auf der Ausgabenseite zum Anspruch der armen Länder, trotz überdurchschnittlicher Verschuldung auf möglichst allen Gebieten die Versorgungs- und Leistungsstandards der reichen Länder sicherzustellen.

Am Ende wird so der Staatscharakter der Bundesländer ausgehöhlt (Gleichschaltung bei den Einnahmen, in der Besoldungsstruktur und beim größten Teil der Leistungsstandards).

Der politische Wettbewerb – sowohl in den Ländern zwischen Opposition und Regierung als auch zwischen Ländern – ist fast ausschließlich auf Verbesserung der Leistungsstandards durch weitere Ausgabenerhöhungen ausgerichtet. Nennenswerte Konsolidierungsbemühungen versickern regelmäßig, weil kein Bundesland befürchten muß, mit seinen selbstverursachten Verschuldungsproblemen auch tatsächlich dauerhaft alleingelassen zu werden. Die Rückkehr zur fiskalischen Rationalität und Eigenverantwortung erfordert bei hochverschuldeten Ländern eine mehr als zehnjährige Phase beträchtlicher Minderausgaben.

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2. Zentraler Reformgrundsatz: Jede Gebietskörperschaft braucht die ungeteilte Verantwortung für ihre Finanzen

Der im Maastricht-Vertrag festgelegte und für eine europäische Finanzverfassung mittlerweile weitgehend unstreitige Grundsatz des no bailing out" jeder Staat steht in der ungeteilten Verantwortung für die Ergebnisse seiner Haushaltspolitik – sollte auch die Ausgangsbasis für eine grundlegende Reform des bundesstaatlichen Finanzausgleichs werden. Die Wähler und die Regierungen müssen sich der Risiken einer Verschuldung auf der Ebene der einzelnen Länder in hohem Maße bewußt sein. Größere Finanzschulden müssen die Ausnahme bleiben.

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3. Elemente einer Reform

Die überfällige Reform des bundesstaatlichen Finanzausgleichs muß

Bund und Länder in ihren Finanzen und ihren finanzpolitischen Entscheidungen voneinander unabhängiger machen und für eine Entflechtung der Verantwortung sorgen,

politisches Handeln auf Bundes- und Landesebene wieder transparent und für den Bürger in der Einheit von Entscheidung und Verantwortung zuordnungsfähig machen,

Bund und Länder in die Lage versetzen, den Umfang ihrer Einnahmen und Ausgaben eigenverantwortlich zu gestalten, und

das fiskalische Eigeninteresse der Länder am wirtschaftlichen Erfolg ihres Landes deutlich steigern.

Es muß also eine klare Rückmeldung vom wirtschaftlichen Erfolg zur finanziellen Leistungskraft eines Landes, aber auch mehr Möglichkeiten für ein eigenverantwortliches Handeln auf der Landesebene geben. Dann werden sich mit der Zeit auch die Entscheidungsmaßstäbe der Wähler ändern, und solides finanzpolitisches Verhalten wird bei Wahlen mit mehr Nachdruck eingefordert werden.

Zu einer grundlegenden Reform gehören die folgenden Ansatzpunkte:

• Beschränkung aller Wirkelemente des bundesstaatlichen Finanzausgleichs dergestalt, daß die Steuereinnahmen der Nehmerländer auf nicht mehr als 90 Prozent des Bundesdurchschnitts aufgefüllt werden.

Beseitigung des zweistufigen Finanzausgleichs. Die insgesamt zur Finanzausstattung der Länder notwendigen Mittel sollen diesen unmittelbar zufließen und in einem einstufigen Verfahren umverteilt werden. Die bisher zum Teil absurden Verteilungsergebnisse sind wesentlich in der Zweistufigkeit – zunächst horizontaler Finanzausgleich, dann Bundesergänzungszuweisungen – begründet.

Beschränkung der bundesstaatlichen Vorgaben für Art und Umfang der Aufgabenerfüllung der Länder. Finanzschwache Länder müssen die tatsächliche Möglichkeit besitzen, auch in den Kernaufgaben der staatlichen Aufgabenerfüllung andere Akzente zu setzen als reichere Länder. Für die Sozialhilfe z.B. wäre eine allgemeine bundesrechtliche Rahmenregelung grundsätzlich ausreichend.

Lockerung der bundeseinheitlichen besoldungsrechtlichen Vorgaben, Möglichkeit zum Abschluß abweichender Tarifverträge durch die Länder.

Mehr Möglichkeiten zur eigenständigen Gestaltung der Steuereinnahmen, z.B. durch eigene Hebesätze oder Zuschlagsmöglichkeiten analog zum amerikanischen Beispiel.

Noch sympathischer wäre allerdings eine sung, bei der die Steuerquellen von Bund und Ländern vollständig getrennt werden. Im Jahr 1996 hatten die gemeinschaftlichen Steuern, die Bund und Ländern (bzw. Gemeinden) zu je unterschiedlichen Anteilen gemeinsam zustehen, ein Gesamtaufkommen von 555 Mrd. DM. Davon flossen 201 Mrd. DM dem Bund zu, der Rest (einschließlich Bundesergänzungszuweisungen und Beteiligung der Länder an der Mineralölsteuer) an Länder und Gemeinden. Außerdem nahm der Bund aus dem Solidaritätszuschlag 26 Mrd. DM ein. Im gleichen Jahr betrug das Aufkommen aus der Umsatzsteuer 237 Mrd. DM.

Falls man nun

die Umsatzsteuer zu einer reinen Bundessteuer,

alle Steuern auf das Einkommen zu reinen Ländersteuern (inklusive Gemeinden) machte und

den Solidaritätszuschlag (Ergänzungsabgabe) ebenfalls den Ländern zuwiese,

dann verbliebe gegenüber der bisherigen Verteilung noch ein Betrag von 11 Mrd. DM zugunsten des Bundes, der allerdings den seit 1991 eingetretenen strukturellen Verlust in der relativen Einnahmeposition des Bundes nicht annähernd ausgleichen würde.

Man hätte dann die gesamte Einnahmeverteilung radikal vereinfacht und entflochten. Der Bund würde sich künftig ausschließlich aus Verbrauchsteuern, Länder und Gemeinden im wesentlichen aus Steuern auf das Einkommen finanzieren. Der Bund hätte dann jederzeit die Möglichkeit, seinen Finanzbedarf über veränderte Steuersätze bei den spezifischen Verbrauchsteuern und der Umsatzsteuer in angemessener Weise zu decken, müßte sich dafür aber auch jeweils unmittelbar politisch rechtfertigen.

Wegen der Einheitlichkeit der Besteuerung sollte die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die Bemessungsgrundlage und die Tarife der Steuern auf das Einkommen auch künftig dem Bund (mit Zustimmungspflicht des Bundesrates) zustehen. Länder und Gemeinden müßten bundesrechtlich definierte und durch die eigene Gesetzgebung (Rechtsverordnung) zu aktivierende Zuschlagsrechte zur Einkommen- und Körperschaftsteuer erhalten. Die Zuschlagsrechte müßten so ausgestaltet sein, daß die bisherigen Zuschußempfänger im Finanzausgleich ihre bisherigen Einnahmevolumen durch Nutzung der Zuschläge sichern könnten. Eine Zuschlagsmöglichkeit von 10 Prozent zu den Tarifen der Einkommen- und Körperschaftsteuer wäre hierzu ausreichend. Würden diese Vorschläge realisiert, könnten Bund und Länder ihre Finanzierungsnotwendigkeiten aus eigenen Steuerquellen decken und insoweit eigenständig handeln. Sie stehen andererseits gegenüber der Öffentlichkeit in einer transparenten und eindeutigen Verantwortung.

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VI. Den Sozialstaat modernisieren



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1. Die Schlüsselaufgabe: Balance wahren

Jede Gesellschaft muß als Gegenstand der kollektiven Wahl darüber entscheiden, wie der Lebensunterhalt der Alten und der Kinder finanziert werden soll, welche Krankheits- und Pflegerisiken kollektiv getragen oder privat abgesichert werden. Die Bundesrepublik steht vor einem Dilemma. Das System der dynamischen Rente stammt aus einer Phase hohen Wachstums und hoher Kinderzahl. In der Zwischenzeit hat sich das Wachstum nachhaltig verlangsamt. Mehr als ein Drittel aller Erwachsenen wird kinderlos bleiben. Die Erwerbsquote der Frauen hat 60 Prozent (Ostdeutschland 74 Prozent) erreicht und steigt weiter.

Gleichzeitig hat sich die Lebenserwartung erhöht (Männer 72,8 Jahre, Frauen 79,3 Jahre). Das Rentenalter ist ständig gesunken. Der durchschnittliche Staatspensionär genießt seine Pension 18 Jahre. Heute beträgt der Altenquotient 35 (auf hundert Menschen im erwerbsfähigen Alter von 20 bis 60 Jahren kommen 35 Personen über 60 Jahre). Durch eine weiter steigende Lebenserwartung kann sich der Altenquotient bis zum Jahr 2050 verdreifachen. Das wird dramatische Veränderungen und Anspruchsteigerungen im Sozialsystem hervorrufen (Beitragssatz zur Rentenversicherung 25 bis 30 Prozent, zur Krankenversicherung über 15 Prozent, Pflegeversicherungssatz ebenfalls deutlich erhöht).

Gegenwärtig leben wir noch in einer demographischen Schönwetterperiode. Der Altenquotient hat einen Tiefstand erreicht. Das Durchschnittsalter der Erwerbstätigen ist niedrig (Konsequenz des Babybooms). Dennoch machen die Sozialleistungen bereits etwa 60 Prozent der Staatsausgaben aus. Die Mehrheit der sozialversicherungspflichtigen Bürger zahlt mehr Sozialbeiträge als Steuern. Armut war bis in die sechziger Jahre Altersarmut. In der Zwischenzeit leben als Folge hoher Rentensteigerungen vor allem Kinder und Jugendliche von der Sozialhilfe. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich seit 1980 fast verdreifacht. 1995 lebten in Deutschland 2,5 Millionen Menschen ganz oder teilweise von der Sozialhilfe. Dabei stieg die Zahl der Kinder, die Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten, weit überdurchschnittlich (in Westdeutschland 1980 rund 80.000 Kinder unter 7 Jahren, 1997 fast 400.000).

Armut ist heute vor allem Jugend- und Familienarmut. Doch noch immer werden höhere Renteneinkommen nicht voll besteuert. Noch immer entstehen bei Hinterbliebenen mit eigenen und ererbten Rentenansprüchen Überversorgungen. Noch immer nimmt das Renten- und Pensionssystem nicht zur Kenntnis, daß Alterssicherung nicht nur durch Beiträge und Steuerzahlungen finanziert wird, sondern die Kosten für die Erziehung der nächsten Generation auch eine Alterssicherungsleistung darstellen. Jeder Bauer im 19. Jahrhundert wußte, daß seine Alterssicherung von der Arbeitskraft seiner Kinder, der Fruchtbarkeit seiner Felder und dem guten Zustand seiner Gebäude abhing. Realwirtschaftlich und kollektiv hat sich daran nichts geändert. Das Umlagesystem der Rentenversicherung belohnt Kinderlosigkeit, obwohl Kinder die wichtigste Investition bleiben. In einer Gesellschaft, in der ein Drittel der künftigen Rentner keine Kosten für Kinder getragen hat, wachsen die ungeplanten Umverteilungen zwischen Familien und Kinderlosen in einem unerträglichen Ausmaß.

Man muß vermuten, daß die Alterung der Erwerbstätigen, legt man bisherige Erfahrungen zugrunde, die Produktivitätsentwicklung bzw. das wirtschaftliche Wachstum eher beeinträchtigen. Ein Staat der Überalterung und der fehlgesteuerten Einwanderung wird als Standort immer unattraktiver, wenn gleichzeitig die heutigen Schwellenländer ihre Infrastruktur- und Steuerungsprobleme bewältigt haben und mit einer gut mit neuem Wissen ausgebildeten Erwerbsbevölkerung um nach wie vor knappes Kapital konkurrieren. Alterung kann Kapitalflucht hervorrufen. Die „grauen" Sorgen dieser Generation sind mindestens so begründet wie ihre „grünen" Sorgen.

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2. Einwanderung in der bisherigen Form – keine Lösung

Die Einwanderung kann in der bisherigen Form weder aus der Sicht der Einwanderer noch aus der Sicht der deutschen Bevölkerung fortgesetzt werden. Einwanderung ist nur vertretbar, wenn die Zuwanderer dauerhafte Beschäftigungs- und Aufstiegschancen erhalten. Tatsächlich verfügen Einwanderer vielfach nicht über ausreichende Qualifikationen. Sie verschärfen damit den Anbieterwettbewerb auf einem ohnehin durch Überangebot gekennzeichneten Arbeitsmarkt für niedrig Qualifizierte. Ihre Kinder werden zu schlecht ausgebildet. (20 Prozent der Ausländerkinder erreichen keinen Hauptschulabschluß). Diese Unterausbildung wächst sich zu einer schleichenden Krise des Sozialstaats aus, denn Deutschland als Land mit der höchsten Einwanderungsintensität (Zahl der Einwanderer pro 100.000 Einwohner und Jahr von 1983 bis 1988 in den USA 245, in Kanada 479, in Deutschland West 1022) ist nach dem politischen Verständnis der Regierung kein Einwanderungsland. Diese Realitätsverweigerung wird eine der teuersten, die sich die Bundesrepublik leistet. Wer den Sozialstaat in der Zukunft nicht überfordern will, der muß eine aktive Integrationspolitik zugunsten der – unabhängig von politischen Entscheidungen zu erwartenden – Einwanderer betreiben, damit sie ausreichend ausgebildet erfolgreich am Arbeitsmarkt konkurrieren können.

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3. Eine steuerfinanzierte Einheitsrente – die bessere Lösung?

Angesichts der Risiken für Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und Produktivitätswachstum, die als Folge der Geburtenentwicklung und der hohen Abgabenlasten zu befürchten sind, müssen alle künftigen sozialpolitischen Überlegungen die Rückwirkungen der Sozialtransfers auf die wirtschaftliche Entwicklung in Rechnung stellen. Maximierung der Transfers kann nicht mehr unbefragt als sozial gelten, wenn dadurch die wirtschaftliche Basis des Systems gefährdet wird. Unselbständige Arbeit in Deutschland wird gegenwärtig mit Sozialabgaben von 770 Mrd. DM pro Jahr belastet. Ein weiterer dynamischer Anstieg in allen Zweigen der Sozialversicherung ist vorprogrammiert. Für die Rentenversicherung sollte man deshalb nicht nur die Konsequenzen einer Weiterentwicklung des Status quo bedenken. In einer kritischen Gesamtanalyse müssen auch Alternativen genauso auf ihre Auswirkungen durchdacht und ihre Akzeptanz überprüft werden. Die bisherigen staatlichen Alterssicherungssysteme waren eine der großen sozialpolitischen Innovationen des zwanzigsten Jahrhunderts, die von Deutschland ihren Ausgang nahmen. Sie wurden zum Fundament des Wohlfahrtsstaats. Inzwischen haben sich die Voraussetzungen dramatisch verändert. Dabei darf man nicht nur an die hohen Belastungen denken. Auch die private Vorsorgefähigkeit und die Vorsorgeformen haben sich ausgeweitet.

Statt der bisherigen staatlichen Systeme sollte – entsprechend dem holländischen oder dänischen Beispiel – eine allgemeine steuerfinanzierte Altersrente durchdacht werden, die das soziale Existenzminimum sichert und ab dem 65sten Lebensjahr gezahlt wird. Ergänzend wäre zu prüfen wie die Formen betrieblicher oder privater Altersversorgung steuerlich gefördert werden könnten. Beiträge in die Alterssicherungssysteme sollten steuerfrei, die späteren Rentenauszahlungen dagegen steuerpflichtig sein. Eine Einheitsrente von 1.500 DM monatlich für die Bevölkerung Deutschlands im Alter von 65 Jahren und älter (12,54 Millionen Menschen in 1994) würde 226 Mrd. DM kosten statt 441,0 Mrd. DM, die jetzt schon für alle Systeme aufgewendet werden.

Eine steuerfinanzierte Einheitsrente wäre bei der Vermeidung von Altersarmut treffsicherer als das bisherige System. Die Kosten unselbständiger Arbeit würden erheblich abgesenkt. Die Abhängigkeit von der Beschäftigungssituation ginge zurück. Der Staat würde entlastet, seine Verantwortung auf einen Kernbereich der Sicherung konzentriert. Die Anreize für eine private Vorsorge würden steigen, die volkswirtschaftliche Kapitalbildung würde beträchtlich angeregt, was Wachstum und Beschäftigung stärken müßte. Die Folgewirkungen im Hinblick auf mehr Gleichheit oder Ungleichheit müßten genauso wie die Akzeptanz bei verschiedenen Altersgruppen vergleichend untersucht werden. Dabei liegt auf der Hand, daß die Übergangsprobleme nicht einfach zu lösen sein wären. Sie sollten jedoch, wenn eine kritische Prüfung der Transfersysteme einschließlich der Pensionsverpflichtungen des Staates einen Systemwechsel als dringlich ergibt, grundsätzlich lösbar sein.


©Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1998

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