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TEILDOKUMENT:




Teil B: Schlüsselstrategien



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I. Den Bildungssektor gerechter und effizienter machen



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1. Die Modernisierungsaufgabe

Alle sind sich einig: Bildung muß für den Menschen und für die Gesellschaft zuallererst einen allgemeinbildenden, im weitesten Sinne humanistischen Auftrag erfüllen. Sie muß einen Beitrag dazu leisten, den Schülerinnen und Schülern sowie den Studierenden ein fundiertes Allgemeinwissen zu vermitteln, Verständnis für die Gemeinschaft wecken und die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung in der und für die Gesellschaft herausbilden. Dazu gehören beispielhaft das Verständnis für die kulturellen Grundlagen unserer wie auch anderer staatlicher Gemeinwesen, für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, die Erkenntnis, daß ein dauerhaft friedliches Zusammenleben zwischen Menschen im privaten wie im öffentlichen Leben aber auch zwischen verschiedenen Gesellschaften nur auf Kooperation und gewaltfreien Konfliktlösungsmustern basieren kann und schließlich das Wissen um den Wert unserer immer stärker gefährdeten Umwelt und unserer Lebensgrundlagen.

Darüber hinaus ist Bildung für den einzelnen die wichtigste Zukunftsinvestition. Humankapital ist wichtiger als Sachkapital. Bildung ist auch Massengeschäft. An den Hochschulen studieren gegenwärtig rund 1,8 Millionen Studenten. Die Hauptschulen schrumpfen. Dafür drängen immer mehr Jugendliche in die Gymnasien. In einer komplexeren Umwelt wird angesichts der Wissens- und Informationsexplosion die Organisation des Bildungssystems immer schwieriger. Gleichzeitig haben sich auch dieKunden" des Bildungssystems, d.h. Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern, aber auch die privaten und die öffentlichen Arbeitgeber sowie die weiterführenden Bildungsinstitutionen, verändert. Die Ausländerquote ist gestiegen. In innerstädtischen Schulen sind die Deutschen oft in der Minderheit. Bildungsmotivation und die Unterstützung durch die Eltern schwanken erheblich.

In den letzten Jahren werden immer mehr Schwächen deutlich:

Dreizehn Schuljahre bis zum Abitur (oft noch mehr) sind zu viel. Elf bis vierzehn Semester bis zu einem Hochschulexamen sind zu lang (Alter der Studienabgänger fast 28 Jahre). Junge Akademiker sind reich an Wissen und arm an Erfahrungen, wenn sie 30 werden und wirklich selbständig sein sollten, um z. B. ein Unternehmen zu gründen. Die Aufnahme eines Studiums ist zu risikoreich, denn fast ein Drittel der Studienanfänger bricht das Studium ab.

• In den Schulen grassieren Lernunlust, Gewalt, Konzentrationsschwäche und Aggressivität.

Das Bildungssystem erzeugt unerträgliche Ungleichheit. Zwanzig Prozent der ausländischen Hautschüler erreichen keinen Hauptschulabschluß. Sechs Prozent der Ausländer (3,8 Prozent der deutschen Kinder) besuchen Sonderschulen. Hauptschulabgänger haben immer schlechtere Chancen in der Konkurrenz um knappe Ausbildungsplätze. Gleichzeitig erhalten Akademiker eine aufwendige Sonderausbildung, die von den Steuerzahlern finanziert wird, und erzielen gestützt auf die staatliche Ausbildung – hohe Bildungsrenten.

Im Lichte der Diskussion über die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland rückt ins öffentliche Bewußtsein, daß die Modernisierung des gesamten Bildungssystems von entscheidender Bedeutung dafür ist, welche Rolle Deutschland im Konzert der Wirtschaftsnationen zukünftig noch spielen kann.

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2. Zur Entwicklung des allgemeinen Schulsystems



2.1 Die Kunden setzen die Maßstäbe

Kriterium für die Qualität der Schulausbildung muß in erster Linie die Tauglichkeit der Ausbildungsergebnisse aus der Sicht der „Kunden" der Schulen sein. Weder in Haupt- und Realschulen noch in Gymnasien sind Zeugnisse ein ausreichender Maßstab für die Ausbildungsqualität. Seit Jahren wird ein Abfallen des Leistungsstandes beklagt. Viele Betriebe lehnen die Einstellung Auszubildender wegen zu geringer Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeiten ab. Mängel des Leistungsstandes der Abiturienten haben unter anderem zu Forderungen nach Eingangsprüfungen an den Universitäten geführt.

Die Verifizierung und Veröffentlichung allgemeiner Qualifizierungsdefizite aus der Sicht derer, die als weiterführende Bildungseinrichtungen oder als Arbeitgeber bestimmte Anforderungen stellen müssen, um die eigenen Leistungen erbringen zu können, würde die Motivation der Schulbehörden und Schulen fördern, Abhilfe zu schaffen und einen Qualitätswettbewerb eröffnen. Notwendig sind nicht einmalige und schnell veraltende Studien oder Umfragen, sondern ein ständiges Screening auf der Grundlage von Rückmeldungen derjenigen, die die Schulabgänger aufnehmen. Es müssen Performance-Indikatoren entwickelt und veröffentlicht werden. Wirtschaft und weiterführende Einrichtungen sollten registrieren und die Öffentlichkeit bzw. die Schulbehörden darüber informieren können, welche Schulen ihnen in der Lebenswirklichkeit Absolventen zur Verfügung stellen, die sich auf ihre Anforderungen einzustellen vermögen.

2.2 Der Wettbewerb unter den Schulen bedingt die Förderung der freien Schulwahl und eine entsprechende Organisation des Schulbesuchs

Wettbewerb erfordert die tatsächliche Möglichkeit des Schülers, ein Angebot in größerer Entfernung oder auch außerhalb des eigenen Wohnortes wahrzunehmen. Dies scheitert heute weitgehend an der Organisation der Halbtagsschule. Forderungen nach dem Angebot ganztägigen Schulunterrichts bis hin zu Internatsschulen müssen daher unterstützt werden. Sie sind auch geeignet, denjenigen Schülern die notwendige Förderung anzubieten, die häusliche Hilfe nicht im gleichen Maß in Anspruch nehmen können wie andere.

Schulen sind heute keiner direkten Konkurrenz und wenig frischen Einflüssen ausgesetzt. Bei den Lehrern bestehen Motivationsdefizite und – insbesondere bei älteren Lehrkräften – Burning-out-Effekte. Neben einer Änderung der falschen Personalpolitik, die zu wenig Einstellungen ermöglicht, ist eine stärkere organisatorische Selbständigkeit der Schulen, verbunden mit der Einstellungsbefugnis im Rahmen vorzugebender Personalbudgets und einer Bestellung der Schulleiter auf Zeit, erforderlich.

2.3 Engagement der Unternehmen

Die Unternehmen sollen nicht nur mehr Leistungsfähigkeit der allgemeinbildenden Schulen fordern. Sie müssen sich dafür auch engagieren. Ein solches Engagement muß vom Staat (steuerlich) gefördert werden. Die Verknappung der öffentlichen Mittel hat bisher in erster Linie zu Forderungen an die Eltern und die Schüler geführt, sich zugunsten ihrer Schulen unentgeltlich zu engagieren. Kooperationen zwischen Unternehmen und Schulen gibt es in weit geringerem Maße.

2.4 Die Ungleichheit verringern

Ein zentraler Mangel des staatlichen Bildungssystems bleiben die extremen Ungleichheiten. Deutlich wird dies an der ständigen inneren Umstrukturierung. Die Hauptschule wird zur Schrumpfschule, immer mehr Eltern versuchen ihre Kinder auf Gymnasien oder zumindest auf die Realschule zu schicken. Dahinter steht die Erkenntnis, daß die Ergebnisse der Hauptschule immer häufiger nicht ausreichen, um im Wettbewerb um knappe Ausbildungsplätze oder attraktive Arbeitsplätze mitzuhalten. Bezieht man die Jugendarbeitslosigkeit der Hauptschüler oder derer, die keinen Abschluß schaffen, mit ein, dann steht man vor einer erschreckenden Ungleichheit.

Einerseits erzielen Akademiker durch eine intensive Nutzung des staatlichen Bildungssystems hohe Bildungsrenten, andererseits sind gerade Hauptschulabgänger, die dieses System in weit geringerem Umfang in Anspruch nehmen, von den Verdrängungsprozessen am Arbeitsmarkt in besonderem Maße betroffen. Die Quote der Ausländer in den Hauptschulen, die mit besonderen Bildungsschwierigkeiten fertig werden müssen, bleibt unverändert hoch. Für den längerfristigen Erfolg im Berufsleben muß die Hauptschule die Jugendlichen mit Basisqualifikationen ausstatten: das sind Lesen, Grundlagen in Rechnen, in der Rechtschreibung, der schriftlichen und mündlichen Kommunikation sowie in der EDV-Anwendung. Im Rahmen des gesamten Bildungsbudgets muß zugunsten der Hauptschüler an Intensität und Differenzierung zugelegt werden. Bei Aufstockungen der Mittel für das Bildungssystem sollten die Hauptschulen Priorität erhalten, denn hier findet man, anders als in den Hochschulen mit den überlangen Bildungsgängen, kaum Rationalisierungsreserven und auch keine Möglichkeit, wie bei Studiengebühren, zusätzliche Mittel zu mobilisieren.

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3. Zur Fachhochschul- und Hochschulausbildung



3.1 Eintrittsalter und Studiendauer müssen gesenkt werden

Dazu muß die Ausbildungszeit der mit der Hochschulreife abschließenden Schulzeit um ein Jahr verkürzt werden. Die Hochschulen müssen gleichzeitig die Konsequenzen daraus ziehen, daß die viel größeren Zeitreserven im Bereich des Studiums selbst liegen. Die Hochschulen Frankreichs sowie auch private Hochschulen in Deutschland mit einem Trimestersystem und weniger Leerzeiten in den Semesterferien zeigen, daß ein Studium durchaus mit 24 oder 25 Jahren abgeschlossen werden kann, ohne daß die Ausbildungsqualität darunter leidet.

3.2 Die Zugangsbedingungen müssen wettbewerblich orientiert sein

Der Numerus clausus und die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) sind seit langem überholt. Studienplatzsuchende müssen sich der Aufgabe stellen können, sich bei einer Hoch- oder Fachhochschule ihrer Wahl um einen Studienplatz zu bewerben. Die Fachhochschulen und Hochschulen müssen sich fragen lassen, welche Qualität ihre Ausbildung hat. Ähnlich wie bei den Schulen sind die staatlichen Stellen aufgefordert, durch Erhebungen über die Abbruchquoten und über die Akzeptanz bei den die Absolventen einstellenden Institutionen, Rückschlüsse auf die Qualität des Ausbildungsangebots zu ermöglichen. Die Hochschulen müssen zur Sicherung ihrer Standards Bewerber ablehnen können. Ob insoweit Eignungsprüfungen (wie bereits bei den privaten Einrichtungen) nötig sind, bedarf der Prüfung.

3.3 Der Studierende muß sich an den Kosten der Ausbildung beteiligen (Studiengebühren)

Ein materielles Engagement für das eigene Studium ist den Studierenden durchaus zuzumuten. Ein eigenes wirtschaftliches Risiko beim Studium wirkt der verbreiteten Neigung zu einer unvertretbaren Verlängerung der Studienzeiten entgegen. Es erhöht die Motivation, das Studium effektiv zu gestalten und in eine Ausbildungseinrichtung zu investieren, die den größeren Erfolg verspricht. Zugleich werden auf diese Weise leistungsstarke Einrichtungen mit Mitteln belohnt, die sie zweckentsprechend einsetzen können. Dabei muß freilich sichergestellt werden, daß von den Hochschulen über Studiengebühren eingenommene Mittel nicht durch entsprechende Kürzungen der staatlichen Zuwendungen wieder voll neutralisiert werden. Darüber hinaus sollten die an den Hochschulen vorhandenen Rationalisierungspotentiale ausgeschöpft werden.

Die Studiengebühren können von Kindern leistungsfähiger Eltern direkt aus dem Einkommen getragen werden. Kinder weniger gut situierter Eltern können Kredite aufnehmen, deren Verzinsung und Tilgung einkommens- und studienabschlußabhängig gestaltet werden kann. Dort, wo die Akademikerausbildung – mit oder ohne Abschluß – nicht zu überdurchschnittlichen Einkommen führt, sollte der Staat ebenfalls auf Rückzahlung verzichten. Eine solche Regelung würde Abschreckungseffekte weitgehend vermeiden. Sozialen Härten kann auch durch Förderungsmodelle vorgebeugt werden.

3.4 Sozialverhalten muß Gegenstand der Studiengänge sein, der Praxisbezug muß erhöht werden

Ob Fach- oder angehende Führungskraft, das Zusammenarbeiten mit gleichberechtigten Partnern in einer weniger hierarchischen Welt wird zum entscheidenden Erfolgskriterium. Fach- und Methodenkompetenz bleiben erfolglos, wenn es nicht verstanden wird, dies anderen zu vermitteln. Presentation Skills und Transformation Leadership sind feste Bestandteile der Lehrangebote führender amerikanischer Hochschulen. Über die privaten Fachhochschulen und Hochschulen hinaus müssen sie auch in Deutschland zum Standard werden.

So ist auch die Diskussion, ob die Lehre und Wissenschaft mit der Wirtschaft zusammenarbeiten darf, obsolet. Nur die enge Partnerschaft von Lehre und Forschung mit führenden Unternehmen der Wirtschaft sichert den Erfolg der Unternehmen im globalen Wettbewerb, bietet der Wissenschaft unter anderem dringend benötigte Mittel und den Studierenden den notwendigen Realitätsbezug.

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4. Zur Beruflichen und Berufsschulbildung im Dualen System



4.1 Das Duale System verbessern

Das Duale System hat sich nach der gesetzlichen Fixierung durch das Berufsbildungsgesetz 1969 als ein sich selbst steuerndes System bewährt. In den vergangenen 20 Jahren haben zwischen 53 und 75 Prozent der Schulabgänger eine Berufsausbildung im Dualen System aufgenommen. Bei Übernahmequoten von über 80 Prozent konnte von einem nahtlosen Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem gesprochen werden. Die Selbststeuerung des Systems resultierte aus dem unternehmerischen Bestreben und vielfach auch aus dem Ethos, den eigenen Nachwuchs selbst auszubilden und ins Unternehmen zu integrieren.

Mit der wirtschaftlichen Talfahrt Deutschlands hat sich eine Schere zwischen Angebot und Nachfrage nach Ausbildungsplätzen geöffnet. Die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen unter 20 Jahren ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen und schwankt je nach Bundesland zwischen 6 und 18 Prozent. Auf der anderen Seite suchen Branchen wie der Einzelhandel, aber auch einzelne Industriezweige, verzweifelt nach Nachwuchs.

Vielfach werden von den Unternehmen kurze gezielte Qualifizierungsmaßnahmen für effizienter gehalten als mehrjährige Berufsausbildungsgänge. Nur das Duale System kann jedoch ein Spektrum an Ausbildungsberufen bieten, das für alle Leistungsklassen der Schulabgänger angemessene Berufe bieten kann. Die Berufswelt der Zukunft wird nicht an Schreibtischen der Arbeitsverwaltung ersonnen, sondern entfaltet sich im wirtschaftlichen Prozeß. Deshalb darf sich die Berufsausbildung nicht von der Arbeitsrealität abkoppeln. Staatlich organisierte Berufsbildungsmaßnahmen ohne betrieblichen Bezug sind auch in den Neuen Bundesländern ein im Grunde falscher Ansatz, der nur im Rahmen von Notmaßnahmen zu rechtfertigen ist. Falsch wäre es aber auch, die Ausbildung nur den Wirtschaftsunternehmen zu überlassen.

4.2 Der Weg führt von der Berufsausbildung zur Berufsfeldausbildung. Bildungsziel ist die Lernfähigkeit als Voraussetzung der Berufstüchtigkeit

Wir sollten Berufsbilder so flexibel fassen, daß sich für die Auszubildenden und die im Beruf Tätigen variable Entwicklungsperspektiven ergeben. Dieser Lösungsansatz führt auf den Weg von der Berufsausbildung zur Berufsfeldausbildung: Ein Auszubildender könnte zunächst einen Ausbildungsvertrag über eine breitgefächerte Grundausbildung von etwa 18 Monaten in einem Berufsfeld abschließen, mit der Option, danach eine weiterführende Spezialausbildung zu erhalten. Ein solches Modell böte sowohl die notwendige Flexibilität für die Unternehmen als auch größere Arbeitsplatzchancen für die Auszubildenden. Eine zukunftsgerichtete Berufsausbildung muß, wenn sie ihre Legitimation nicht verlieren will, die Grundlagen legen für ein offenes, sich beständig veränderndes Arbeitsleben. Ihre Schwerpunkte liegen nicht nur bei der Vermittlung des erforderlichen fachlichen Spezialwissens, sondern auch eines breiten Grundlagenwissens.

4.3 Hemmende Rahmenbedingungen der Berufsausbildung müssen beseitigt, Fehlentwicklungen muß begegnet werden. Nötig ist eine „Konzertierte Aktion Berufliche Bildung"

In den letzten Jahren haben insbesondere kleinere Unternehmen die Ausbildung ganz eingestellt und größere die Ausbildungsquoten reduziert. Ausbildungsaktivitäten werden vor allem wegen der damit verbundenen wirtschaftlichen Belastung zurückgefahren. Sämtliche Arbeitszeitverkürzungen der letzten Jahre gingen auf Kosten der betrieblichen Ausbildungszeit. Warum sollen die Auszubildenden nicht, im eigenen Interesse an einer hochwertigen Ausbildung, ein paar Stunden mehr pro Woche in die eigene Entwicklung investieren können? Jeder Studierende, der in angemessener Zeit ein gutes Examen ablegen möchte, muß das schließlich auch tun.

Ähnlich kontraproduktiv ist die Wirkung tarifvertraglicher Übernahmegarantien, die nur zu einer besonders kritischen Einstellungsprüfung führen. Ausbildungshemmend wirkt auch mangelhafte Information. Die Quote der vorzeitig gelösten Ausbildungsverträge ist von 14,3 Prozent im Jahre 1984 auf 25,2 Prozent im Jahre 1994 deutlich gestiegen.

Im Sinne einer Beseitigung der Hemmnisse und Fehlentwicklungen, zu denen auch Qualifikationsdefizite der Schulabgänger zählen, ist eine konzertierte Aktion aller an der Berufsbildung Beteiligten der öffentlichen Arbeitgeber, der Unternehmen, der Auszubildenden, der Arbeitnehmervertreter, der Verbände sowie der übrigen berufsbildenden Stellen – erforderlich. Ihre „gemeinsame Sache" besteht darin, über ein leistungsfähiges Ausbildungssystem und eine entsprechend hohe Qualifikation der Arbeitnehmer den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken und dadurch wieder vermehrt Arbeitsplätze zu schaffen und auf diesem Wege dem einzelnen Arbeitsplatzchancen zu eröffnen, die durch eine kurzsichtige Politik des Sparens an der falschen Stelle gefährdet werden.

Eine zukunftsgerichtete Berufsausbildungspolitik muß verstärkt neue Berufe in zukunftsträchtigen Betätigungsfelder fördern, um es den Unternehmern zu erleichtern, in neue, zukunftsorientierte Bereiche zu investieren und damit zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Wenn dies gelingt, können die Vorteile, welche die duale Berufsausbildung in der Vergangenheit für Wirtschaft und Gesellschaft unter Beweis gestellt hat, auch in die Zukunft übertragen werden.

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II. Eine umweltverträgliche Mobilitätsgesellschaft



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1. Die Mobilitätsgesellschaft als Risikogesellschaft

Unsere Gesellschaft bezeichnet sich als Dienstleistungs-, Informations- oder Kommunikationsgesellschaft. Man kann sie mit gutem Grund auch als Mobilitätsgesellschaft klassifizieren. Alle Prognosen gehen davon aus, daß in den nächsten 10 bis 15 Jahren der Individualverkehr kräftig anschwellen wird. Gemessen an dieser Nachfrageexplosion werden Kapazitätsausweitungen auf den Straßen und Autobahnen nur noch in Teilbereichen geplant oder akzeptiert. Deutschland fährt in einen gigantischen Stau. Die Hoffnung, durch eine Expansion des Schienenverkehrs diesen Stau vermeiden zu können, bleibt auf absehbare Zeit Illusion.

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2. Technische Innovationen zur Ausweitung der Kapazitäten

Als eine (Teil-)Lösung ermöglichen es technische Innovationen, mit der gegebenen Verkehrsinfrastruktur mehr Verkehr abzuwickeln. Die Verkehrstelematik wirkt wie ein großes Straßenbauprogramm ohne zusätzliche Straßen bei weit geringeren Kosten. Allerdings werden wir auch der Erfahrung der Vergangenheit wieder begegnen, daß man auf jeder neuen Autobahn und jeder neuen Unterführung nach einiger Zeit wieder im Stau steht. Die Vorstellung, bei einem freien Gut durch Angebotsausweitung zu einer vollständigen Befriedigung der Bedürfnisse zu kommen, widerspricht uralten Einsichten der Ökonomie. Bei den gegebenen ökonomischen Prinzipien sind Staus unausweichlich. Wir werden uns weiter von den Straßen herunterstauen und durch Abgase Gesundheit und Klima beeinträchtigen.

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3. Neue Technik, neue ökonomische Prinzipien für eine Verkehrspolitik der Zukunft



3.1 Verkehrspolitik als Infrastruktur- und Subventionspolitik

Gegenwärtig gibt es in der Welt rund 500 Millionen Autos und im Jahr 2010 werden es eine Milliarde oder auch mehr sein. Der Energieverbrauch steigt wahrscheinlich um 30 Prozent. Man kann ohne Übertreibung sagen, das Auto der Gegenwart hat keine Zukunft. Der gegenwärtige Individualverkehr wird an Grenzen der ökologischen Belastung und der Tragbarkeit von Zeitverschwendungen und anderen volkswirtschaftlichen Kosten geraten. Als Kompensation für die Subventionierung des Individualverkehrs durch preisfreie Straßen müßte der Schienenverkehr auch weiterhin subventioniert werden. Die Subventionierung des gesamten Mobilitätssystems hat eine überzogene räumliche Arbeitsteilung, zu weit getriebene Trennung von Wohnen und Arbeiten und ganz einfach zu viel Verkehr zur Folge.

3.2 Ein Paradigmenwechsel für die Verkehrspolitik der Zukunft

Die Verkehrspolitik der Zukunft braucht einen Paradigmenwechsel.

• Das Selbstverständnis einer speziellen Infrastrukturpolitik, die den Bürgern Kollektivgüter bereitstellt, ohne sie dafür individuell zur Kasse zu bitten, führt in die schwelende Staukrise. Erst wenn Straßennutzung belastungsabhängig vermarktet wird, verschwinden die Staus.

• Das bisher angestammte Recht des einzelnen durch sein Automobil die Atmosphäre zu verschmutzen, führt nur dazu, die Umwelt und damit auch sich selbst zu schädigen. Solange keine saubere Antriebstechnik zur Verfügung steht, müssen nachhaltige relative Preisverschiebungen die Luftbelastungen zumindest eingrenzen. Durch eine Erhöhung der Mineralölsteuer sollten ständige reale Preiserhöhungen herbeigeführt werden, die über die realen Einkommenssteigerungen hinausgehen.

Wenn es z.B. gelänge, die Brennstoffzelle 5 bis 10 Jahre früher als beim gegenwärtigen Innovationstempo zu erwarten, zu einer Marktreife zu bringen, und es dann gelänge, innerhalb eines Zeitraumes von 15 Jahren den Automobilbestand der Welt umzurüsten, wäre ein wesentlicher Engpaß, der sich aus der bisherigen Verkehrsentwicklung ergibt, weitgehend überwunden. Die ökologischen Grenzen des Verkehrswachstums würden hinausgeschoben. Die Politik hat es in der Hand, diesen Wettlauf zu unseren Gunsten zu beeinflussen.

Die technische Entwicklung macht es möglich, in Zukunft den einzelnen Autofahrer entsprechend seiner individuellen Nutzung von Straßen und Autobahnen zu belasten. Dabei sind zwei Formen zu unterscheiden. Einmal geht es darum, im Rahmen einer Ökosteuerreform dem einzelnen die Umweltbelastungen anzurechnen mit der Folge, daß ein Anreiz zum benzinsparenden technischen Fortschritt entsteht und die einzelnen den Umfang ihrer Verkehrsleistungen anpassen und/oder sparsamere Autos kaufen.

Eine solche Politik wird jedoch die Staus nicht vermeiden. Sie verringert lediglich die Umweltbelastungen, die aus den Staus entstehen, nicht jedoch die Zeitverschwendungen. Hier sind belastungsabhängige Stauabgaben sinnvoll. Die Technik dafür ist vorhanden. Auch die Bedenken, daß etwa die Mobilität der einzelnen durch den Staat überwacht werden könne, lassen sich ausräumen. Die Engpässe dürften auf absehbare Zeit in der Akzeptanz solcher Maßnahmen liegen. Die wichtigste Verhaltensänderung besteht in einer Erhöhung der Besetzungsziffern in den Stoßzeiten des Verkehrs. Modellrechnungen und Modellversuche haben zur Genüge bewiesen, daß schon eine Steigerung der Besetzungsziffern um 30 oder 40 Prozent dazu führen wird, daß die gegenwärtig regelmäßig auftretenden Staus weitgehend verschwinden. Dies erfordert eine Koordinierung für eine Minderheit von Autofahrern, die in den Stoßzeiten bei anderen mitfahren. Der Anreiz dazu wird sich aus den erhöhten Individualkosten während der Stauzeiten ergeben.

3.3 Einbettung in eine Gesamtstrategie

3.3.1 Komplementäre Maßnahmen zu Staupreisen

Parallel zur Erhebung von Stauabgaben muß das Entstehen von individuellen Mobilitätsdienstleistungen angeregt werden. Mitfahrzentralen können Verrechnungssysteme und Koordinierungsdienstleistungen anbieten. Die Arbeitgeber haben die Chance, diejenigen, die mit Minibussen vier bis fünf KollegInnen morgens zur Arbeit mitnehmen, bei der Zuteilung von Parkplätzen zu privilegieren. Unabhängig von den Staupreisen ist es z.B. möglich, auf mehrspurigen Straßen Bus-Vorrangspuren auch für vollbesetzte Pkws (drei Personen und mehr) zu öffnen. Auch dadurch würde bei gegebenem Verkehr ein höheres Maß von Mobilität möglich werden. Die dadurch erreichbare Entkoppelung von Verkehrsaufkommen und Mobilitätsergebnis, d.h. beispielsweise die Zahl der transportierten Personen, wäre die einzig wirksame Form, in der die Staus überwunden werden können.

3.3.2 Ein Mobilitätssystem ohne Subventionen

Wenn es gelingt, den Individualverkehr mit seinen volkswirtschaftlichen Kosten zu belasten und insbesondere auch die Folgekosten der Staus zuzurechnen und Staus zu vermeiden, dann gibt es auch keine Rechtfertigung mehr dafür, den öffentlichen Personennahverkehr zu subventionieren. Im Zuge des Aufbaus von Mobilitätsmärkten im Individualverkehr könnten die Subventionen des öffentlichen Personennahverkehrs abgebaut werden. Es blieben lediglich sozialpolitisch motivierte, den einzelnen Individuen gewährte Subventionen übrig.

Die Diskussion über die Verringerung der Kilometerpauschale hat deutlich gemacht, welche massiven Vested Interests durch die Rundumsubventionierung jeder Form des Verkehrs inzwischen entstanden sind. Der Abbau dieser Subventionen hat deutliche Veränderungen in den räumlichen Preisstrukturen und der räumlichen Arbeitsteilung zur Folge. Entfernungsüberwindungen würden teurer. Angesichts der Dimension einer Umsteuerung in eine subventionsfreie Mobilität sind Übergangsfristen von 10 bis 15 Jahren unausweichlich.

Es ist nicht möglich, im Detail alle Veränderungen darzustellen, die in einer Wirtschaft ohne Mobilitätssubventionen eintreten werden. In jedem Fall werden sich relative Preisverschiebungen ergeben. Die räumliche Arbeitsteilung wird zurückgehen oder zumindest in ihrem Wachstum gebremst. Insgesamt werden durch diese Veränderungen Zeit und Infrastruktur effektiver genutzt. Es werden volkswirtschaftliche Gewinne durch den Abbau subventionierter Mobilität entstehen. Diese Gewinne stehen für anderweitige Investitions- und Verteilungsentscheidungen zur Verfügung. Es wird eine politische Frage sein, sie gerecht zu verteilen.

3.3.3 Kapazitätsentscheidungen bleiben politische Entscheidungen

Eine Strategie, bei der die Nutzung von Straßen vermarktet wird, hat erhebliche fiskalische Konsequenzen. Für den Staat als Verkäufer von Straßennutzungen entsteht eine neue Einnahmequelle, die weniger Verzerrungen im ökonomischen Verhalten hervorruft als die meisten anderen Abgaben. Durch eine Vermarktung der Straßenleistungen entfällt die gesamte übrige Verkehrspolitik nicht. Das Fernstraßensystem muß nach wie vor auf der Grundlage politischer Entscheidungen ausgebaut werden. Allein aus dem Zusammenspiel von Straßenausbau, Siedlungs- und Verkehrsentwicklung wird deutlich, daß hier kein autonomer Markt für Verkehrsinfrastrukturinvestitionen entsteht, den man sich selbst überlassen kann. Die zusätzlichen Einnahmen werden Teil der allgemeinen staatlichen Fiskalpolitik.

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III. Einen nachhaltigen Aufholprozeß in Ostdeutschland organisieren



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1. Die Situation

In der Einschätzung der Situation in Ostdeutschland herrscht weitgehende Einigkeit. Über die Hälfte der Beschäftigten in Ostdeutschland sind bereits in neu gegründeten Unternehmen tätig. Die sogenannte Produktivitätslücke, der Vergleich der Lohnstückkosten West- zu Ostdeutschlands, halbierte sich von über 50 Prozent im Jahr 1991 auf 26 Prozent in 1994, um sich in den folgenden zwei Jahren langsam auf 22,9 Prozent zu vermindern. Es hat sich viel verändert.

Trotzdem können nicht einmal zwei Drittel der Nachfrage in den Neuen Ländern durch die eigene Wirtschaftsleistung gedeckt werden. Zwar haben sich die Löhne und Gehälter dem westlichen Standard angenähert, aber das wurde und wird mit massiven Subventionen erkauft. Während der Arbeitsmarkt noch mit den Folgen des Strukturwandels zu kämpfen hat, ist ein zweiter Strukturbruch bereits im Gange. Die Bauinvestitionen als Konjunkturlokomotive wurden massiv subventioniert. Im Jahresmittel 1996 waren 17,5 Prozent der Beschäftigten im Baugewerbe tätig (7,8 Prozent in Westdeutschland). Diese Quote kann nicht weiter durchgehalten werden. Das Ausbleiben der veranlagten Einkommensteuer ist Folge der hohen Verluste aus Vermietung, die durch den Bauboom in West und Ost, bei hohen Sonderabschreibungen, entstanden sind. Die subventionsgetriebene Baukonjunktur schlägt in eine Baurezession um. Etwa 450.000 Arbeitsplätze dürften verlorengehen.

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2. Das Arbeitsplatzdefizit in Ostdeutschland

Wachsen wird auch in Ostdeutschland der Dienstleistungsbereich, allerdings nur noch langsam. Für die Jahre 1997 bis 2000 kann bestenfalls mit 200.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen gerechnet werden. Unter Berücksichtigung der 2 Millionen Arbeitslosen, Maßnahmenteilnehmer und Pendler, liegt das zu erwartende Arbeitsplatzdefizit bei 2,6 Millionen Arbeitsplätzen (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1:
Das Arbeitsplatzdefizit in Ostdeutschland

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Das große Defizit besteht in der Industrie (unter Einschluß technisch-wirtschaftlicher Dienstleistungen). Hier liegt nach wie vor die wichtigste Entwicklungsaufgabe. Die bisherigen Bemühungen konzentrieren sich im Übergewicht darauf, aus dem endogenen Potential der Neuen Länder selbst neue Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Weniger konzentriert waren die Bemühungen, durch Direktinvestitionen ausländischer Herkunft eine breitere industrielle Basis zu schaffen.

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3. Die Kapitalbasis verbreitern, Venture Capital bereitstellen, Technologie fördern



3.1 Endogene Kräfte stärken

Ostdeutsche Unternehmen, insbesondere Neugründungen, leiden häufig unter einer Eigenkapitalschwäche, die zumindest das Wachstum behindert, oft aber auch zur Überschuldung führt. Die deutsche Finanzierungs- und Bankenkultur muß ergänzt werden durch eine Venture Capital-Kultur. Diese wird nur entstehen, falls die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen, und wenn es für Anleger interessant ist, in Venture Capital zu investieren, weil hohen Risiken entsprechend hohe Chancen gegenüberstehen.

Die Wachstumsfinanzierung junger Unternehmen kann nicht nur auf staatlichen Förderprogrammen aufbauen, so wichtig diese sind. Entscheidend ist die Entwicklung einer neuen Finanzierungskultur auf privatwirtschaftlicher Basis, die professionell Risiken und Chancen junger Unternehmen beurteilen kann. Das ist besonders schwierig, wenn zunächst einmal ein marktfähiges Produkt entwickelt werden muß.

Junge Unternehmen tun sich besonders schwer, eine Entwicklung bis zum marktfähigen Produkt aus eigener Kraft zu finanzieren oder das dafür notwendige Seed Capital einzuwerben. Genau an diesem Punkt setzte das Programm zur Förderung technologieorientierter Unternehmen (TOU) an. Dessen Wiederbelebung wäre ein wichtiger Baustein in der Finanzierung bis zu einem marktfähigen Produkt.

Die reine Marktfähigkeit eines Produktes ist zwar notwendig aber nicht hinreichend für einen Erfolg. Design und Markenbildung sind ähnlich wichtige Instrumente. Durch konsequente Förderung von Design-Know-how könnten Marktvorsprünge geschaffen werden. Die öffentliche Hand als Auftraggeber könnte durch eine verstärkte Nachfrage bei jungen Unternehmen diesen den Marktzugang erleichtern. Wie in den USA mit dem Small Business Act könnte auch in Deutschland eine entsprechende Beschaffungsrichtlinie erlassen werden – ein immer noch von der öffentlichen Förderung vernachlässigtes Gebiet.

Trotz dieser Möglichkeiten zu Verbesserungen in der Förderung des endogenen Potentials, die zusätzlich zu den alles in allem bewährten Instrumenten erfolgen muß, sollte dieses Potential nicht überschätzt werden. In Sachsen sind bei Gründungen in High-tech-Branchen des verarbeitenden Gewerbes in den vier Boom Jahren 1991 bis 1994 rund 6.000 neue Arbeitsplätze entstanden. An einer Förderung des exogenen Potentials führt kein Weg vorbei.

3.2 Exogenes Potential mobilisieren

Förderung der exogenen Entwicklung bedeutet eine offensive Ansiedlungspolitik von Unternehmen und Unternehmensteilen in Ostdeutschland. Fallbeispiele anderer Regionen wie Irland, Wales, Newcastle oder Schottland zeigen, welche Bedeutung solche externen Investitionsquellen erreichen können. Bei der verstärkten Ansiedlung von Betrieben sowie Betriebsteilen sind die Produktionskosten ein wesentliches Argument. Mit den hohen Infrastrukturinvestitionen haben sich die Voraussetzungen verbessert. Im Verkehrswesen sind die noch vorhandenen Lücken zu schließen.

Einen wesentlichen Beitrag kann der gezielte Aufbau von ‘Technopolen’ leisten, die an vorhandenes Know-how anknüpfen, aber durch eine Kombination von Forschung, Aus- und Weiterbildung, Finanzierung junger Unternehmen und Ansiedlung von Großunternehmen eine ‘kritische Masse’ erreichen. Die Anziehungskraft eines Technopols, also die Häufung von forschungsintensiven Unternehmen und Forschungseinrichtungen einer bestimmten Forschungs- oder Anwendungsrichtung, wie beispielsweise das berühmte Silicon Valley, ist eine Funktion seiner Größe. Je größer ein Technopol ist, z.B. gemessen in der Anzahl der „kreativen Köpfe", desto größer ist seine Ausstrahlung auf andere. Damit ein neues Technopol aber eine Eigendynamik entwickelt, muß es eine bestimmte kritische Masse überschreiten. Die Größe dieser kritischen Masse ist dabei keine Konstante, sondern verändert sich ständig und läßt sich auch nicht genau bestimmen. Zu schnell ändert sich z.B. die Größe und das Wachstum des Marktes, des Anwendungsbereiches. Die Zusammensetzung der anfänglich kritischen Masse, werden erfolgreiche Technopole als Fallbeispiel herangezogen, war stets eine Symbiose aus öffentlich geförderter und von Unternehmen finanzierter Forschung. An dieser Stelle hat die staatliche Technopol-Förderung einen Ansatzpunkt. Durch die Konzentration von Forschungseinrichtungen auf einzelne Standorte kann die Entstehung einzelner Technopole ermöglicht werden.

Das wichtigste Argument jedoch ist das verfügbare Ausbildungsniveau im Verhältnis zu den dafür zu zahlenden Löhne. Beides spricht grundsätzlich für Ostdeutschland. Das Ausbildungsniveau ist hoch. Mit Ausnahme von vereinzelten Stimmen wird ein Facharbeitermangel auch nicht als Hemmnis gesehen. Das durchschnittliche Bruttoeinkommen je Beschäftigten ist im Vergleich zu Westdeutschland auch bis heute deutlich niedriger – 1996 waren es 68 Prozent.

Das heute in der ostdeutschen Praxis zu beobachtende Lohnsystem unterscheidet sich stark vom westdeutschen. Tarifverträge legen Löhne fest, die in Kombination mit den Lohnnebenkosten für viele bestehende Unternehmen nicht tragbar sind. Die Lohnpeitsche als Instrument der Produktivitätssteigerung wirkt in einem erschreckenden Ausmaß. Diese Erkenntnis hat sich zumindest auf betrieblicher Ebene bereits durchgesetzt. Als Folge lösen sich immer mehr Unternehmen, auch mit Zustimmung der Belegschaft, von den Tarifverträgen und schließen Haustarifverträge oder Betriebsvereinbarungen mit niedrigeren Löhnen und Zusatzleistungen ab.

Trotzdem fangen Lohnverhandlungen in Ostdeutschland bei den tariflich vereinbarten Löhnen an. Für neue, hochproduktive Unternehmen bedeutet dies, daß sie ein Lohngefälle zu Westdeutschland nicht ausnützen können. Siedelt sich ein neues hochproduktives Unternehmen in Ostdeutschland an, muß es gleich Tariflöhne, zahlen. Entsprechend kommt der im Durchschnitt vorhandene Standortvorteil der niedrigeren Löhne nicht – oder nur wenig – zum tragen. Durch die weiterhin beschworene rasche Lohnangleichung, ist die zur Zeit noch bestehenden Lohndifferenz in den Tarifverträgen kein großer Vorteil mehr. Bei der Standortentscheidung sind die Lohnanpassungspfade keine Fiktion, sondern Realität. Ein wichtiger Standortvorteil für externe Investoren wird verschenkt.

Welche politische Konsequenz ist daraus zu ziehen? Neue und damit heute zwangsläufig hochproduktive Unternehmen sollten das nominale Lohngefälle ausnützen können. Zur Beeinflussung der Standortwahl sollten die niedrigeren Löhne als ein zentrales Argument genutzt werden können. Für die Politik bedeutet dies einen Paradigmenwechsel: Weg von der raschen Lohnangleichung, hin zur höheren Beschäftigung.

Als einfache Faustformel schlagen wir vor:

Die Lohnverhandlungen für neue Unternehmen sollten nicht automatisch bei den hohen Tariflöhnen anfangen, sondern bei den effektiv bezahlten durchschnittlichen Löhnen.

Die durchschnittlichen Löhne steigen stets geringer als die Produktivität bis die Produktivitätslücke zu Westdeutschland abgebaut ist. Wenn die ostdeutsche Produktivität beispielsweise 80 Prozent der westdeutschen erreicht hat, sollten die Löhne auch 80 Prozent betragen. Derzeit liegen die Löhne bei 68 Prozent und die Produktivität bei 58 Prozent.

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4. Flankierende Maßnahmen: Kaufkraft und Vermögensbildung stärken



4.1 Erhöhung der Akzeptanz einer Strategie der Lohndifferenzierung

Soll versucht werden, die Attraktivität Ostdeutschlands für Direktinvestitionen durch ein im Vergleich zum Westen niedrigeres Lohnniveau zu erhöhen, dann müssen ergänzende Maßnahmen ergriffen werden, um eine solche Strategie oder Entwicklung akzeptabel zu machen. Einmal geht es um Aufklärung für einen ökonomischen Realismus, der anerkennt, daß noch keine Region in der westlichen Welt, die bei einem niedrigen Produktivitätsniveau und hoher Arbeitslosigkeit startete, ohne den Lohnvorteil ein Aufholwachstum hätte organisieren können. Dies gilt für den Bayerischen Wald der sechziger Jahre genauso, wie für Bayern insgesamt. Nominallohndifferenzen sind nicht gleich Reallohndifferenzen, weil örtliche Dienstleistungen (Restaurants, Freizeiteinrichtungen, Gesundheitsleistungen, lokale Lebensmittel, lokale Kulturangebote usw.) aufgrund niedriger Nominaleinkommen deutlich preiswerter sein können, als in Hochlohnregionen. Ganz besonders wird dieser Preisvorteil sich im Wohnungssektor auswirken. So gibt es ganz erhebliche Unterschiede bei den Preisen für Wohneigentum zwischen Ost- und Westdeutschland. Schon jetzt kann man feststellen, daß Wohneigentum in den Stadtregionen Ostdeutschlands fast um die Hälfte preiswerter angeboten wird als in Westdeutschland.

Die Politik sollte in enger Kooperation mit den Tarifparteien zugunsten ostdeutscher Arbeitnehmer eine breit angelegte Vermögensbildungsstrategie starten. Investivlöhne, die den Erwerb von Unternehmensanteilen begünstigen, könnten durch eine steuerfreie Kapitalzulage gefördert werden, um auf diese Weise die Vermögensbildung zu beschleunigen und die Akzeptanz bei den Betroffenen zu erhöhen.

4.2 Ergänzende Maßnahmen

Eine Strategie der Attraktivitätssteigerung ostdeutscher Standorte für Direktinvestitionen braucht eine institutionelle Komponente. Die bestehende Zersplitterung der unterschiedlichen Förderungsorganisationen in den einzelnen Ländern verhindert eine volle Wirksamkeit der Akquisitionsbemühungen. Es liegt auf der Hand, daß die Länder untereinander, wenn es um die Ansiedlung von externen Unternehmen geht, Konkurrenten sind. Unabhängig davon bestehen jedoch gemeinsame Interessen, weil die Attraktivität Ostdeutschlands nur durch eine gemeinsame Parallelstrategie und durch integrierte Bemühungen ausreichend gefördert werden kann. Die Bundesregierung könnte einen gewissen Kooperationszwang durch finanzielle Unterstützung herbeiführen. Im Ergebnis sollte es möglich sein, analog zur ‘Locate in Scotland’-Agentur (Lisc.) eine ‘Locate in East Germany’-Agentur (LEG) mit hochrangiger Besetzung aufzubauen. Sie hätte gegenüber den Landesförderungsorganisationen eine Koordinierungsaufgabe und würde nach außen als Akquisiteur auftreten. Im Detail sind hier schwierige Zuständigkeitsfragen und Kooperationsfragen zu klären. Bei gutem Willen ist eine Lösung jedoch möglich.

Im Rahmen der unterschiedlichen Förderbemühungen könnte die Verstärkung der Ansiedlungsbemühungen durch Unternehmen von außen, eine Konzentration bestehender Technologieförderungen auf wenige Standorte (Technopol-Strategie) und die Erhöhung der Attraktivität des Standorts durch weiterbestehende Nominallohndifferenzen, eine dringend erforderliche Wende einleiten. Der Erfolg ist allerdings nicht garantiert. Alle regionalen Entwicklungsstrategien, die mit ähnlichen Strukturbrüchen zu kämpfen hatten, benötigten Zeit. Nirgendwo ist es gelungen, in den Übergangsphasen die Abwanderung völlig zu stoppen. Das wird auch für Ostdeutschland gelten. Dennoch kann man sich mit dem bisher Erreichten nicht zufrieden geben. Die eingetretenen Veränderungen zeigen, daß Fortschritte möglich sind. Die eingetretenen Veränderungen waren jedoch nicht ausreichend. Sollen Lähmung und Pessimismus überwunden werden, dann ist ein neuer Anlauf notwendig, wobei die wichtigste Grundlage für den Erfolg die nüchterne Einsicht in die eigenen ökonomischen Stärken und Schwächen und die noch zu lösenden Aufgaben bleibt.


©Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1998

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