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TEILDOKUMENT:




Einleitung – Mehr Radikalität bei der Realitätsbewältigung



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1. Ein Jahrzehnt des Paradigmenwechsels und der politischen Innovationen

Im Wahljahr 1998 werden politische Weichen in das nächste Jahrhundert gestellt. Nicht nur das neue Jahrhundert fordert heraus. Noch größere Herausforderungen erwachsen aus den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit. Die letzten 20 Jahre in Deutschland waren:

• Jahre stetig wachsender Arbeitslosigkeit, wachsender Schulden des Staates und der Vorbelastungen durch die Sozialpolitik, einer schleichenden Bildungskrise und eines immer schädlicher werdenden Steuersystems;

• Jahre einer steigenden Einwanderung ohne ausreichende Integrationsbemühungen, einer steigenden Ungleichheit und der wachsenden Armut junger Menschen;

• Jahre eines immer komplexer, schwerfälliger und unübersichtlicher werdenden Staatssystems aus Bund, Ländern, Gemeinden und EU, wodurch demokratische Rechte entwertet werden;

• Jahre einer sinkenden Attraktivität für externe Investoren bei unzureichendem ökologischen Umbau;

• Jahre der Entscheidungsträgheit und eines unproduktiven Machtpatts zwischen den Parteien;

• Jahre einer sorgenvollen bis pessimistischen Grundstimmung einer engagierten linken Öffentlichkeit, die solche Mängel schon fast als schicksalhaft empfindet. Es besteht ein Defizit an Konzepten, weil engagierte Gruppen bei der Arbeit an positiven Visionen ausfallen;

• Jahre wachsender Verschwendungen durch unwirtschaftliche Regulierungen und sinnlose Subventionen.

Ein „Weiter so" bedeutet den dauernden Abschied von der Vollbeschäftigung. Die derzeitige Wirklichkeit Europas zeigt, wir sind in weiten Bereichen falsch programmiert. Die deutsche Politik muß sich ihren Aufgaben radikaler stellen, sonst wird eine Realitätsbewältigung nicht gelingen.

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2. Nach Jahren des Durchwurstelns ohne Prinzipien den roten Faden wiederfinden

Die Liste der Fehler und Fehlentwicklungen ist lang. Dahinter steht auch ein Verlust an klaren Prinzipien. Die Politik des kommenden Jahrzehnts braucht wieder einen roten Faden. Sie muß ernst machen mit dem Grundsatz, daß der Staat sich auf Bereiche beschränkt, die von Gruppen oder einzelnen nicht sinnvoll bewältigt werden können. Sie muß Wettbewerb so weit wie möglich einsetzen, wobei Märkte, wenn neue Techniken oder neue Wettbewerbsformen es erlauben, an die Stelle staatlicher Versorgung treten müssen, und sie muß mehr Transparenz, Verantwortungsklarheit und Zurechnung im öffentlichen Sektor schaffen. Sie muß Zuständigkeiten dort belassen oder hinverlagern, wo Aufgaben für klar abgegrenzte Gruppen effizient erfüllt werden können und die Radikalität ihrer Innovationen abhängig machen vom Ausmaß der eingetretenen Verwerfungen und Innovationsstaus.

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3. Eine optimistische Einsicht:
Wir sind weit reicher als wir scheinen und mächtiger als wir meinen


In einem reichen Land wie der Bundesrepublik sind die meisten ökonomischen Schwierigkeiten auf die Dominanz von Vested Interests, auf unzureichende Steuerung, insbesondere die Behinderung von Märkten, und auf staatlich organisierte Verschwendung zurückzuführen. Die Bereitschaft, nutzlose Verschwendungen abzubauen, kann genügend Ressourcen für Innovationen freischaufeln. Die Verbesserung der Funktionsfähigkeit von Märkten und die Ausweitung ihrer Geltung können mit dem absehbaren und verfügbaren Wissen ein nachhaltiges Wachstum erzeugen. Es gibt noch eine Vielzahl an unerfüllten Bedürfnissen. Neue Arbeitsplätze schaffen ihre Kaufkraft weitgehend selbst. Arbeitslosigkeit ist in einer reichen Gesellschaft wie der Bundesrepublik ein Ergebnis falschen Bewußtseins, falscher Anreize, falscher Regulierungen und fehlenden unternehmerischen und organisatorischen Wissens und Handelns. Arbeit kann in genügendem Umfang durch innovative Arbeit entstehen.

Auch die seit mehr als einem Jahrhundert ablaufende Globalisierung hat zwar Rahmenbedingungen verändert, nationales Handeln aber nicht unwirksam gemacht. Bildung und Infrastruktur, Steuersystem und Regulierungen, Wirtschaftsklima und die Organisation des Arbeitsmarktes bis hin zur Arbeitsdisziplin oder Leistungs- und Risikobereitschaft sind national verankert und schweben nicht irgendwo in multinationalen Räumen.

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4. Eine unverzichtbare Vorbedingung: Das Machtpatt überwinden

Der politische Innovationsstau entsteht auch durch das Machtpatt der Parteien im Bundestag und Bundesrat und die totale Verflechtung aller Entscheidungsebenen und -bereiche. Das Trauerspiel der gescheiterten Steuerreform, die Realitätsverweigerung in der Rentenreform oder Bildungspolitik, der riesige politische Energieaufwand für Winzigreformen (Ladenschluß) liefern Lehrstücke dafür, wie der Wettbewerb zwischen Parteien gleichsam zum Vollgasfahren im ersten Gang mit angezogener Bremse führen kann. Der Konsens über einen unerträglichen Status quo führt zu keinem Konsens über seine Änderung, weil niemand mehr Führung wahrnehmen und sichtbare und zurechenbare Verantwortung übernehmen kann. Der Berg von Mißständen bleibt wie ein großer Geröllhaufen nach einem Erdrutsch liegen, weil niemand ohne die Zustimmung des anderen entscheiden kann, ob er nach rechts oder links von der Straße geräumt werden soll. Es entsteht eine Dauerstimmung der Halbherzigkeit, der Frustration, der politischen Unlust und des freudlosen, endlosen Herumverhandelns, bei dem die Wähler nach einiger Zeit nicht mehr wissen, worum es geht und ganz einfach abschalten. So kann kein Aufbruch entstehen und keine Innovation gedeihen.

Soll demokratischer Wettbewerb innovativ bleiben,

dann müssen die Verantwortungen von Bund und Ländern entflochten und die Autonomie und Selbstverantwortung der einzelnen Länder gestärkt werden;

dann muß jede politische Richtung die Chance haben, den Wählern zu demonstrieren, was ihre Konzeption bedeutet und bewirkt.

Eine Bundestagswahl, die in beiden Kammern zu einheitlichen Mehrheiten führt, kann eine riesige Chance bieten, innerhalb kurzer Zeit wegweisende Strukturentscheidungen durchzusetzen. Das ist unsere Hoffnung. Wir wollen mit unseren Analysen und Empfehlungen dafür konzeptionelle Grundlagen schaffen helfen.


©Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1998

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