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TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 36 ]


4. Erfahrungen aus einer anderen Weltgegend:
Ein NRO-Projekt in Brasilien

vorgestellt von Dr. Sabine Marquardt


1995: Patricia geht in eine Bar am Strand in Recife. Als sie die Bar verläßt - so ihre Angaben - hält auf der Straße ein Auto neben ihr. Ein Mann bedroht sie und zwingt sie, einzusteigen und mit ihm in sein Apartment zu kommen. Er fesselt sie, er mißhandelt und vergewaltigt sie, er fügt ihr mit Messerstichen schwere Verletzungen im Unterleib zu. Er versucht, sie mit einer Plastiktüte zu ersticken, fügt ihr mit einer Eisenstange weitere lebensgefährliche Kopfverletzungen zu und lädt sie schließlich auf einer Müllkippe ab. Durch Zufall wird Patricia dort gefunden. Im Krankenhaus liegt sie vier Wochen im Koma und muß insgesamt ein halbes Jahr dort verbringen. Im Anschluß muß sie sich noch einigen Nachoperationen unterziehen. Als Täter identifiziert Patricia einen Deutschen, der seit Jahren in Brasilien lebt und verschiedene Etablissements für Sextouristen unterhält. Die junge Frau wird in Recife von einer Frauenorganisation aufgefangen, dem Kollektiv „Frauen leben". Sie bekommt psychologische und juristische Hilfe.


Auswege aus der Gewalt

Es gibt also Auswege, die es ermöglichen, daß potentielle Opfer vor Gewalt und Sextourismus bewahrt werden können. Es gibt sogar die Möglichkeit, mit den Opfern sexueller Gewalt zu sprechen und sich von ihnen

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Das Foto der Druckausgabe (Seite 36) kann leider
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erzählen zu lassen, wie sie gegen diese Gefahren angehen. Bei dieser Geschichte handelt es sich um ein Begegnungsprogramm, ein sogenanntes Exposure- und Dialogprogramm, daß die deutsche Kommission Justitia et Pax im November vergangenen Jahres mit der brasilianischen NRO, dem Kollektiv „Frauen leben", in Recife durchgeführt hat.

Ich denke, daß der wirklich spannende Teil dieses Programms die Verteilung der Rollen zwischen Lehrenden und Lernenden. Denn die Lehrenden sind Frauen aus den Entwicklungsländern, die Frauen aus dem Norden einen erfolgreichen Präventionsansatz präsentieren, der eine Möglichkeit bietet, gegen Gewalt an Frauen vorzugehen. Justitia et Pax selbst stellte dafür das Instrument eines Exposure- und Dialogprogramms zur Verfügung und dieses Begegnungsprogramm gibt den Teilnehmerinnen die Möglichkeit, zu überprüfen, ob dieser Präventionsansatz für ihre eigene Arbeit anwendbar ist und wieweit sie diesen Ansatz in ihrer Arbeit unterstützen möchten. Die Frauen aus Deutschland haben eine Brückenfunktion, weil sie die Frauen aus Osteuropa mit nach Brasilien und in das Projekt hinein nehmen.

In diesem Falle bot sich die Möglichkeit, die Lebensbedingungen der Frauen kennenzulernen, die Opfer von sozialer und sexueller Gewalt geworden sind. Diese reichen von Prostitution und Sextourismus über Entführung bis zum Mord. Demgegenüber steht das Kennenlernen von der Möglichkeit der Selbstbefreiung durch Selbsthilfe.


Selbstbefreiung durch Selbsthilfe

Das Dialogprogramm dauerte insgesamt zehn Tage. In den ersten drei Tagen setzten sich die Teilnehmerinnen in Zweiergruppen den Lebensbedingungen der Mädchen und Frauen aus. Dies wurde dann in Erfahrungsberichten festgehalten.

Hierzu das Beispiel einer Lebensgeschichte, die das Programm erstellt hat:

„Ich bin arm, ich bin schwarz und ich weiß, daß ich schön bin und klug bin. Ich weiß, was ich mit meinem Leben an-

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fangen will. Ich werde studieren, ich werde eine gute Anstellung haben. Einen Mann, Kinder? Noch lange nicht! Vielleicht, wer weiß, irgendwann. Aber zuerst Studium, Wohnung, Beruf."

Die 17jährige Celitha, hochgewachsen und von sehr dunkler Hautfarbe, hat zwei Teilnehmerinnen mit nach Hause genommen. Sie wohnt im Stadtviertel Rio Dolce, Süßer Fluß. Die Straßen dort sind sauber, es gibt Elektrizität und Kanalisation. Die Mutter grüßt aus dem Fenster, auf der Straße sitzt ein Mann mit dicken Brillengläsern, der etwas bastelt und uns deshalb die Hand nicht reichen kann.

„Seit ich sieben Jahre alt war, hat mein Vater mich geschlagen, jeden Tag. Wir haben im Landesinneren gewohnt auf dem Hof der Großmutter. Meine Eltern haben gearbeitet und schon ab drei Jahren mußte ich mich um meine kleine Schwester kümmern, alles im Haus machen. Immer gab es Schläge. Die Mutter hat mir nicht geholfen. Nur meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, hat mich manchmal in den Arm genommen und getröstet. Wenn ich vor Schmerzen geweint habe, hat der Vater mir das verboten. Ich sei schlecht, ich habe kein Recht auf Tränen. Das ist ein patriarchalisches Land, mein Vater kann tun und lassen, was er will. Er hat immer recht. Wenn er ein junges Mädchen schlägt, dann denkt sie - und alle anderen auch - daß sie schlecht ist und es verdient hat. Ich habe geglaubt, daß mein Vater mich schlagen darf, daß ich dumm und häßlich bin, daß ich nichts wert bin. Seit zwei Jahren schlägt er mich nicht mehr. Es hat lange gedauert, bis ich gewagt habe, ihm zu sagen, daß er dazu kein Recht hat. Ich habe ihn gefragt: Warum machst Du das? Das ist gegen das Gesetz! Daraufhin hat er gesagt, es sei gegen die Zehn Gebote, seinem Vater zu widersprechen. Dabei geht er nie in die Kirche und hat uns gegenüber auch noch nie von Religion gesprochen. Ob ein Mädchen, das Probleme in der Familie hat, zum Pfarrer gehen könnte? Bestimmt

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nicht! Der würde doch nur zu den Eltern halten. Der Pfarrer käme auch nicht ins Haus, um eine Frau gegenüber ihrem gewalttätigen Mann zu schützen oder um zwischen den Eltern zu vermitteln. Als ich 14 Jahre alt war, hat die Großmutter das Land verkauft und wir sind nach Belinda gegangen.


Das Kollektiv bietet neue Lebensperspektiven

Das hat mein Leben verändert. Es kamen Frauen vom Kollektiv in die Schule und haben Fragebögen verteilt, um herauszufinden, wer Gewalt erleidet oder gefährdet ist. Mich haben sie aufgefordert, an ihrem Programm teilzunehmen. Ich bin in die Gruppe gegangen. Mir wurde eine Therapie angeboten und ich kenne jetzt meinen Wert. Ich habe Selbstachtung gewonnen. Mich schlägt niemand mehr. Ich habe zu meinem Vater gesagt: Ich gehe weg, ich habe Freundinnen. Ich gehe nicht auf die Straße. Ich bin arm und ich bin schwarz, aber ich bin keine Hure für die ausländischen Touristen. Er wollte mir verbieten, zur Mädchengruppe zu gehen. Die Mutter hat mir Wäsche zu waschen gegeben, damit ich nicht aus dem Haus gehen kann. Aber dann sind die Frauen vom Kollektiv gekommen und haben gesagt, daß etwas passiert, wenn sie mich nicht gehen lassen. Die Leiterin hat meine Mutter gefragt: .Willst Du, daß Deine Tochter nichts anderes lernt als Wäscherin zu werden?'

Jetzt bin ich im zweiten Jahr der höheren Schule. Gestern abend habe ich eine Prüfung in portugiesischer Grammatik mit gut bestanden. Noch ein Jahr, dann kommt der Schulabschluß und die Aufnahmeprüfung für die Uni. Das ist sehr schwer, aber mit Hilfe des Kollektivs werde ich es schaffen, denn ich will Journalistin werden. Ich gehe abends von 18-22 Uhr in die Schule. Morgens verdiene ich mir Geld im Kollektiv. Ich bin Lehrerin im Computerzentrum. Nachdem ich den sechsmonatigen Kurs abgeschlossen habe, bilde ich nun andere Mädchen am Computer aus. Da verdiene ich einen halben Mindestlohn, auch wenn er jetzt schon eine ganze Weile nicht bezahlt wurde. Einen Nachmittag bin ich bei der

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Mädchengruppe, einmal in der Woche in der Therapie und das schon seit zwei Jahren."

Die Mutter sagt, daß sie sehr froh ist, daß die Familie mit dem Kollektiv in Kontakt gekommen ist. Endlich hätten sie Frieden in der Familie. Sie hätte ihre Töchter nicht vor dem Vater schützen können. Später erzählt uns Celitha, daß sie sich von der Mutter ziemlich allein gelassen gefühlt hat. Celitha hat als 16jährige an der Konferenz über sexuelle Ausbeutung von Kindern in Stockholm im Jahre 1996 teilgenommen. Beide Eltern mußten der Reise zustimmen. Die Mutter berichtete, wie sehr sie Angst hatte, daß die Tochter nicht wieder kommen würde. Die jüngere Schwester geht auch in die Mädchengruppe, aber ohne allzu großes Engagement. Soweit dieses Fallbeispiel.


Männliche Teilnehmer des Exposure-programms gewinnen neue Einsichten

Die männlichen Teilnehmer des Programms haben am Strand Gespräche mit Mädchen und Frauen führen können, die mit Sextourismus zu tun hatten. Dabei konnten sie auch Einblicke in die Sichtweise von Sextouristen gewinnen und lernten, mit welchen Haltungen solche Männer agieren.

Zur Arbeit des Kollektivs möchte ich noch anmerken, daß es sich dabei um eine Arbeit zur Selbstbefreiung im Zuge einer Bewußtwerdung über familiäre und gesellschaftliche Gewaltstrukturen handelt. Dazu verwendet das Kollektiv gruppen- und gestalttherapeutische Methoden, es werden Alternativen in Form von Ausbildung und Arbeitsmöglichkeiten angeboten. Mit Fragebögen filtern sie potentielle Opfer von Sextourismus heraus, fangen aber auch Opfer in ihrer Organisation auf und beginnen, mit ihnen zu arbeiten. Zusätzlich bilden sie auch Multiplikatoren aus und betreiben Aufklärung von Frauen in ihren Stadtvierteln über ihre Bürger- und Menschenrechte. Sie haben vor Ort Kooperativen zum Geldverdienen entwickelt, beraten Prostituierte und machen sie auf die Gefahr von Menschenhandel aufmerksam.

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Dieser ganzheitliche Ansatz ist in einen gesellschaftspolitischen Kontext eingebettet, der für verbesserte politische Rahmenbedingungen und den Schutz der Menschenrechte steht.


Präventivansatz in andere Länder übertragen

Dieser Präventivansatz einer NRO konnte Eingang in die Sozialarbeit einer Stadt finden um diesen wiederum mit Länderperspektiven zu konfrontieren, wie vor Ort Hilfe zur Selbsthilfe zu betreiben sei. Dabei wurde von uns sehr genau in jeder einzelnen Phase geprüft, was davon für uns in einem anderen Kontext transferiert werden kann.

Zusammenfassend noch einmal die wichtigsten Punkte zu dieser Arbeit.

  • Erstens: Der Abbau von Gewaltstrukturen muß ansetzen bei möglichen Opfern. Diese müssen ein neues Selbstwertgefühl gewinnen. Lebensalternativen müssen entwickelt werden - ohne den Traum vom Märchenprinzen in Europa.
  • Zweitens: Bewußtseinsschaffung über die Strukturen von Gewalt von Frauen und in den Familien. Die daraus resultierende Selbstbefreiung sollte psychologisch und juristisch begleitet werden - selbstverständlich auch das Angebot von Bildungsmöglichkeiten und Arbeitsperspektiven.
  • Drittens: Für eine Arbeit auf Nichtregierungsebene gehört unbedingt das politische Lobbying dazu. Die strukturellen Rahmenbedingungen für ein gewaltfreies Leben müssen - wie hier geschehen - in den eigenen Präventivansatz, beziehungsweise in die städtische Sozialarbeit, eingebunden werden.
  • Viertens: Für die nationale und internationale Vernetzung erweist sich die Struktur eines Exposure- und Dialogprogramms als besonders effektiv. Gerade von der praktischen Arbeit gehen wichtige Impulse für die Menschenrechtsarbeit aus: In Tschechien z.B. gibt es jetzt eine Organisation, das mit Rückkehrerinnen aus Westeuropa arbeitet, die dort in der Prostitution beschäftigt waren. Sie sind inzwischen bei Caritas Europa integriert.

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  • Fünftens: Mit dieser Arbeit kann außerdem eine wichtige Gegenmacht aufgebaut werden, die durch ihre Arbeit für Perspektiven von Frauen auch international anerkannt werden.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 2000

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