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[Seite der Druckausg.: 130]



Fallbeispiel: Brasilien
Joachim Knoop




Föderalismus und Infrastruktur

Wenn brasilianische Sozialwissenschaftler von Belgindia sprechen, beziehen sie sich auf einen Sachverhalt, der dieses südamerikanische Land von kontinentaler Größe mehr als alles andere charakterisiert: seine außerordentliche wirtschaftliche, soziale und politische Heterogenität. Wie kann ein Land, dessen Sozialprodukt zu 75% in wenigen Bundesstaaten des Südens und Südostens erwirtschaftet wird, während im Norden und Nordosten zum Teil noch blanker Hunger herrscht, regiert werden? Und vor allem: Wie kann eine harmonische und regional ausgeglichene wirtschaftliche Entwicklung eingeleitet werden?

Brasilien ist nicht nur ein großes und heterogenes Land, es ist nach Untersuchungen der Weltbank weltweit auch das Land mit dem höchsten Grad an politischer Dezentralisierung. Nirgendwo sonst sind die Gemeinden neben den Bundesstaaten gleichberechtigte Mitglieder der Föderation - zwar der Verfassung und den Gesetzen verantwortlich, aber nicht den Landesregierungen oder dem Bund.

Dieses hohe Maß an Dezentralisierung hat tiefe historische Wurzeln und wurde als Reaktion auf die Militärdiktatur der 60er und 70er Jahre in der Verfassung von 1988 noch einmal ausdrücklich bestätigt und verstärkt. Aber ist es auch gut für die nachhaltige Entwicklung des Landes, die Freiheit seiner Bürger und die Konsolidierung der Demokratie?

Diese Frage gehört zu den umstrittensten Themen der sozialwissenschaftlichen und politischen Debatte in Brasilien, und sie läßt sich nicht leicht beantworten. Trotzdem wird sich an ihr die Zukunft des Landes entscheiden; denn eines ist sicher: Der brasilianische Föderalismus funktioniert nicht.

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Brasilien ist das Land mit der höchsten Steuerquote in Lateinamerika (ca. 30% des BIP). Dessen ungeachtet ist die physische Infrastruktur unzureichend, die Ergebnisse des Erziehungs- und des öffentlichen Gesundheitswesens liegen auf dem Niveau ärmerer Länder Schwarzafrikas, und trotz der erfolgreichen makroökonomischen Stabilisierung stagniert das wirtschaftliche Wachstum. Dies liegt — nicht allein aber eben auch — an der spezifischen Verquickung von politischem System, Fiskalströmen und Aufgabenverteilung im föderativen System des Landes, das zu einer systematischen Fehlallokation von Ressourcen führt.

Die politische Dimension des Problems liegt darin begründet, daß das brasilianische Wahlrecht und Parteiensystem die Durchsetzung regionaler und lokaler Ansprüche honoriert, nicht aber Anstrengungen zu einer ausgewogenen nationalen Entwicklung. Die Parteien sind regional strukturiert und die Parlamentarier ihrer lokalen Basis gegenüber verpflichtet. Sie sind, wie man in Brasilien sagt, "nationale Gemeinderäte", deren Wiederwahl von ihrer Fähigkeit abhängt, über besondere Haushaltsansätze (emendas orçamentárias) die Finanzierung konkreter örtlicher Projekte sicherzustellen. Die — stärker an übergreifenden Fragen orientierte — Regierung muß daher häufig einzelne Gesetze mit einzelnen Abgeordneten verhandeln, was nicht nur den zähen Reformprozeß des Landes erklärt, sondern vor allem auch dazu führt, daß der Staatshaushalt kein Instrument der nationalen Entwicklungsplanung und -finanzierung ist. Damit entfällt in Brasilien eines der wichtigsten Elemente zur Sicherstellung einer regional ausgewogenen Entwicklung.

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Der Finanzausgleich als föderales Grundelement

Unterstrichen wird dies durch die Tatsache, daß die Steuerquellenverteilung unter den Gebietskörperschaften und ein ausgefeiltes System des Finanzausgleichs den Anteil des Bundes am gesamten Steueraufkommen ständig verringert haben. Betrug das eigene Steueraufkommen des Bundes (vor Finanzausgleich) 1980 noch 75% des Gesamtaufkommens und sein verfügbares Aufkommen 69% (nach Finanzausgleich), so liegen diese Werte heute bei 66% bzw. 58% (1994). Konsequenz dieser Entwicklung ist, daß der Bund nur noch

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einen geringen Anteil der Investitionen finanziert (unter 20%) und seine Mittel im übrigen — neben den laufenden Personalausgaben — für die Finanzierung der Sozialversorgung und des Schuldendienstes verwendet.

Auch die Bundesländer gewannen durch die Neuregelungen des Finanzausgleichs: Ihr eigenes und verfügbares Steueraufkommen lag 1980 bei 22% des Gesamtaufkommens, 1994 war es auf 29% bzw. 27% gestiegen. Gewinner waren aber vor allem die Gemeinden, die ihr eigenes Aufkommen durch die Zuweisung neuer Steuerquellen von 3% auf 5% und ihr verfügbares Aufkommen von 9% auf 15% steigern konnten.

Der vertikale Finanzausgleich unter den Gebietskörperschaften vollzieht sich zum einen über die beiden Ausgleichsfonds des Bundes (für Länder und Gemeinden), zum anderen über einen 25%igen Anteil der Gemeinden an der Landesmehrwertsteuer. Da arme Gemeinden per se ein nur geringes eigenes Steueraufkommen haben, hängen sie im wesentlichen von diesen Ausgleichszahlungen ab. Dies gilt jedoch auch umgekehrt: Es lohnt sich, eine arme Gemeinde noch einmal zu spalten, da sich damit die Ausgleichszahlungen insgesamt erhöhen. So entstanden seit 1980 über 1000 neue Gemeinden, die meisten ohne ausreichende finanzielle Basis, um ihre Aufgaben zu erfüllen.

Eine Besonderheit des brasilianischen Föderalismus besteht darin, daß die Mehrwertsteuer ICMS eine Landessteuer ist. In der Praxis heißt dies, daß der Warenverkehr unter den Bundesstaaten steuertechnisch als Ein- und Ausfuhren behandelt wird, wobei je nach Herkunftsregion das Ursprungs- oder Bestimmungslandprinzip zur Anwendung kommt, dergestalt, daß die ärmeren Länder einen höheren Anteil erhalten als die reicheren. Eine "Ständige Kommission der Finanzminister der Länder" (CONFAZ) regelt dabei die komplizierten Verfahren und soll ein Mindestmaß an Harmonisierung sicherstellen. Da die CONFAZ nur einstimmige Beschlüsse fassen kann, funktioniert dieses Instrument in der Praxis jedoch nur unzureichend.

Als aufkommensstärkste und dynamischste Steuer bildet die ICMS die Finanzierungsgrundlage der Bundesländer. Dies hat einige Landesregierungen nicht daran gehindert, interessierten Investoren (vorzugsweise den Großunternehmen der Autoindustrie) Steuer-

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befreiungen bis weit ins nächste Jahrtausend zu gewähren und damit ihre eigene finanzielle Basis zu gefährden. Der Steuerkrieg unter den brasilianischen Bundesländern, die sich mehrheitlich am Rande der Zahlungsunfähigkeit befinden, ist heute zu einem der brennendsten fiskalpolitischen Probleme geworden und ein Beispiel für die Strukturdefizite eines unkoordinierten Föderalismus.

Die Reihe der Beispiele perverser Effekte, wie diese unerwünschten, oft kontraproduktiven Nebenwirkungen eines unzureichend strukturierten Föderalismus (bzw. einer falsch verstandenen Dezentralisierung) in der Fachliteratur häufig genannt werden, ließe sich nahezu beliebig verlängern.

  • Bundesländer und Gemeinden, die sich auf Kosten zukünftiger Regierungen verschulden;
  • Bundesländer und Gemeinden, deren Personalausgaben in extremen Fällen über 100 Prozent ihrer laufenden Einnahmen liegen;
  • die Selbstbedienungsmentalität vieler Bürgermeister und Gemeinderäte;
  • die Folgenlosigkeit selbst öffentlich aufgedeckter Korruptionsfälle,
  • die Kompetenzüberschneidungen unterschiedlicher, aber gleichartiger Institutionen (Beispiel: vier verschiedene Polizeien).

Dies alles weist auf Konstruktionsfehler hin, die allein über die vorhandenen Kontrollmechanismen (freie Wahlen und freie Medien) nicht korrigierbar sind.

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Der Spielraum für Reformen

Die Verfassung und die politische Realität des Landes lassen der Regierung in Brasilia wenig Spielraum zu nachhaltigen Korrekturen im nationalen Interesse. Sie greift, wohl notgedrungen, dann eher zu asystematischen Maßnahmen, die die Lösung des Problems, nämlich eine Reform des Föderalismus und eine auf die Möglichkeiten der Gebietskörperschaften abgestimmte Dezentralisierung, nur vertagen:

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  • Unter IWF-ähnlichen Auflagen durch die Zentralbank wurde eine weitere Verschuldung der Bundesländer unterbunden.
  • Länder und Gemeinden erhalten ab 1998 nur dann Sonderzuweisungen des Bundes, wenn die Personalausgaben 60% ihres Haushalts nicht übersteigen.
  • Zur Förderung des Exports wurden Exportgüter ohne vollen Ausgleich von der (Landes)-Mehrwertsteuer befreit.
  • Sozialprogramme der Bundesregierung, die von Ländern und Gemeinden implementiert werden, sind an enge Bedingungen geknüpft.

Spricht diese Diagnose gegen die Dezentralisierung in Brasilien oder gegen Dezentralisierung allgemein? Die Antwort lautet nein. Sie spricht dafür, daß Dezentralisierung nicht Trennung von Verantwortlichkeiten und Fraktionierung von Funktionen beinhaltet, sondern ein ausgewogenes und intensiv abgestimmtes Verhältnis zwischen Bund, Ländern und Gemeinden voraussetzt.

Brasilien bietet nämlich auch zahlreiche Beispiele für das Potential, das Dezentralisierung dann freisetzt, wenn mit der lokalen und regionalen Eigenverantwortlichkeit verantwortungsvoll umgegangen wird. Und diese Beispiele sind Legion, so als wäre das Land ein einziges Labor für experimentierfreudige Public Policies.

  • Da nimmt eine Landesregierung die Ausschreibungspflicht für öffentliche Aufträge ernst, und die Kosten für einen Autobahnkilometer halbieren sich (Ceara).
  • Da konzentriert sich eine Gemeinde auf urbane Lebensqualität und revolutiert den öffentlichen Personennahverkehr (Curitiba).
  • Da fördert eine Flächengemeinde in einem der ärmsten Bundesstaaten Brasiliens die Parzellierung kommunaler Grundstücke, vermittelt Kredite und siedelt arme Stadtbewohner (wieder) als Bauern an — und vollzieht die erste kommunale Agrarreform Brasiliens (Rio Branco, Acre).
  • Da läßt die Stadtverwaltung einer Großstadt die Bürger in einem streng formalisierten Verfahren direkt über die kommunalen Investitionen mitentscheiden und schafft damit den "Exportartikel" partizipative Haushaltsplanung (Porto Alegre).

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  • Da nimmt eine Landesregierung den Verfassungsauftrag der Übertragung der Grundschulbildung an die Gemeinden ernst und stärkt gleichzeitig die Eigenverantwortlichkeit von Schulen und Elternschaft (Minas Gerais).
  • Da schließen sich die Städte einer Krisenregion in einem Konsortium zusammen und ersetzen den "Steuerkrieg" durch gemeinsame Wirtschaftsförderung (Großraum São Paulo).
  • Und ganz nebenbei entstehen im Nordosten des Landes auf der Basis von Billiglohn-Produktion und Tourismus kleine "Tigerstaaten" mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten (auf niedrigem Niveau), auch wenn dieses Modell an Attraktivität eingebüßt hat.

Die Krise des Föderalismus in Brasilien, die zu einem gravierenden Entwicklungshemmnis geworden ist, läßt sich nicht durch Re-Zentralisierung lösen. Das Problem ist, daß kaum Anstrengungen unternommen werden, sie überhaupt zu lösen. So bleibt nur die Erwartung, daß die Wettbewerbsintensität unter den politischen Parteien, aber vor allem unter Gemeinden, Städten und Regionen, weiter zunimmt. Je größer die Vielfalt erfolgreicher Experimente, desto größer auch die Möglichkeit der Bevölkerung, darüber abzustimmen — und sei es vorerst nur mit den Füßen.

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Kommunalpolitische Kooperation der FES in Brasilien

Die kommunalpolitische Kooperation der FES in Brasilien erstreckt sich im wesentlichen auf zwei Bereiche: (a) die Stärkung der (politischen ) Planungskompetenz der Gemeindeverwaltungen und (b) die kommunale Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung. Darüber hinaus fördert die Stiftung seit einigen Jahren die Herausgabe kurzer, grafisch aufbereiteter Handreichungen zur kommunalpolitischen Praxis — der DICAS des unabhängigen Instituts POLIS —, in denen besonders interessante und erfolgreiche Praxiserfahrungen brasilianischer Gemeinden dargestellt werden.

Das FES-Büro in São Paulo (ILDES) und das in ihm angesiedelte Fachberatungsprojekt ORPLA haben in den vergangenen Jahren ein differenziertes Angebot zur Planungs- und Organisationsberatung entwickelt, das insbesondere von jenen Kommunalverwaltungen in

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Anspruch genommen wird, in denen die Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores versucht, demokratisch legitimierte und partizipative Reformen umzusetzen. In einer Reihe von Städten, darunter Porto Alegre, Santo André, Rio Branco, Belo Horizonte, Belem, begleitete die FES zum Teil über längere Zeiträume hinweg die strategische Planung der Bürgermeister und Verwaltungsspitzen. Dabei geht es fast immer darum, ein realistisches Bild einer möglichen Zukunft zu entwerfen (Wer sind wir und wo wollen wir hin?), um auf dieser Basis zu diskutieren, mit welchen Politikentwürfen und konkreten Maßnahmen dieses Ziel erreicht werden kann.

Parallel dazu finden ständig Ausbildungsprogramme für die Gestaltung von Planungs- und Diskussionsprozessen statt, an denen Mitarbeiter aus kommunalen Verwaltungen teilnehmen und damit sicherstellen, daß die Planung und Evaluierung der Gemeindeentwicklungspolitik eine ständige Praxis wird. Herausragende Beispiele für diese Kontinuität sind die Städte Porto Alegre (bekannt für sein inzwischen von vielen Gemeinden kopiertes Modell der partizipativen Haushaltsplanung) und Santo André, eine Großstadt am Rande São Paulos.

Daß dieser Ansatz nicht nur in den urbanen Zentren des wirtschaftlich entwickelten Südens tragfähig ist, zeigte die Kooperation mit der Stadtverwaltung von Rio Branco, der Hauptstadt des Amazonasstaates Acre. Dort begleitete die FES die gesamte Amtsperiode des jungen PT-Bürgermeisters und nun zum Gouverneur aufgestiegenen Jorge Viana einschließlich der Erarbeitung des „Regierungsprogramms" und bildete verschiedene Verwaltungsfachleute in partizipativen Planungsmethoden aus.

In vielen Fällen ist eine direkte Zusammenarbeit mit den Gemeinden aufgrund der beschränkten Mittel des FES-Büros nicht möglich. Nur die Zusammenarbeit mit anderen Gemeindeförderungsinstitutionen kann ein Minimum an Breitenwirkung sicherstellen. Im Fall des FES-Büros in Rio de Janeiro sind dies das Instituto Brasileiro de Administração Municipal (IBAM) und verschiedene Fördereinrichtungen für Kleinst- und Kleinunternehmen.

Ursprünglich ein Projekt der Verbandsförderung von Klein- und Mittelunternehmen, hat sich das Büro in Rio de Janeiro in den letzten Jahren auf Fragen der kommunalen Wirtschafts- und Beschäfti-

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gungsförderung konzentriert und wesentlich dazu beigetragen, daß das IBAM heute über eine eigene spezialisierte Unterabteilung verfügt. Als die Stadtregierung von Rio de Janeiro sich gezwungen sah, auf die zunehmende Informalisierung des Arbeitsmarktes zu reagieren, wurde das Büro aufgrund seiner Erfahrungen mit der Konzeption und Umsetzung eines Planes zur Beschäftigungsförderung beauftragt, dessen Finanzierung vollständig aus dem städtischen Haushalt erfolgt.

In der kommunalpolitischen Kooperation zeigt sich besonders, daß das Angebot der FES immer weniger im Hinblick auf Finanzierungsbeiträge und immer stärker im Hinblick auf konkrete Beratungsleistungen nachgefragt wird. Fachliche Erfahrungen, ein weites Netz von Kontakten im Land und internationale Verbindungen sind heute das wichtigste Kapital der Stiftung in einem Land, in dem es häufig weniger an Geld als an praktischen Lösungsansätzen mangelt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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