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TEILDOKUMENT:


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Fallbeispiel: Indien
Von Luise B. Rürup


Mit einer Verfassungsergänzung (73rd and 74th Amendment) im Jahre 1992 wurden die Funktionen der indischen Gemeinderäte (die ländlichen Panchayats und städtischen Nagar Palikas) erstmals verfassungsrechtlich definiert. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten zwar einzelne indische Bundesstaaten, wie beispielsweise West Bengalen, Karnataka und Andhra Pradesh, Gesetze für die Regulierung der Aufgaben der Gemeinderäte erlassen, doch es gab keine einheitliche nationalstaatliche Rahmengesetzgebung. Die Verfassungsergänzung von 1992, die die Aufgaben der ländlichen (mit dem 73rd Amendment) und städtischen (mit dem 74th Amendment) Gemeinden separat definiert, sind als Meilensteine für die kommunale Selbstverwaltung, insbesondere in bezug auf die Beteiligung benachteiligter Bevölkerungsgruppen, in Indien gefeiert worden. Fünf Jahre nach der Verabschiedung der Verfassungsergänzung ist die Euphorie vieler in Enttäuschung umgeschlagen. Die durch das verfassungsrechtliche Rahmengesetz geschürten Hoffnungen auf einen authentischen Dezentralisierungsprozeß sind bisher kaum Wirklichkeit geworden.

Heute leben rund 840 Millionen Menschen in Indien. Innerhalb der nächsten 40 Jahre wird Indien mit einer jährlichen Bevölkerungswachstumsrate von 2.1 % (1994) China überholen und zum bevölkerungsreichsten Land der Welt werden.

Die kommunalpolitischen Institutionen arbeiten in Indien unter „erschwerten Bedingungen": Auch nach fünfzig Jahren Unabhängigkeit ist Indien noch vornehmlich eine ländliche Gesellschaft. Nach wie vor leben ca. 75% der Bevölkerung in ländlichen Gebieten. Über 40% der ländlichen Bevölkerung leben in Siedlungen mit weniger als 500 Einwohnern, ein weiteres Viertel lebt in Siedlungen mit 500-1000 Einwohnern. So ist die indische Gesellschaft in großen Teilen eine sehr ländliche, in vielen Teilen feudale Gesellschaft. Die Mehrheit

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der indischen Bevölkerung (291 Millionen Erwachsene) kann weder schreiben noch lesen. Die durchschnittliche Alphabetisierungsrate liegt unter 50%, für Frauen ist sie noch deutlich tiefer (34%). In einigen ländlichen Distrikten, beispielweise in Rajasthan, liegt die Alphabetisierungsrate für Frauen bei unter 10%. Da über 60% der indischen Bevölkerung weniger als US $ 1,- pro Tag verdienen (UNDP), muß die indische Gesellschaft auch als eine in weiten Teilen noch immer extrem arme Gesellschaft bezeichnet werden. 15 % der Bevölkerung gehören zu den sogenannten scheduled casts, den niedrigen Kasten bzw. Kastenlosen (dalits), und ca. 7% gehören zu den indigenen Bevölkerungsgruppen (scheduled tribes oder adivasis), die entsprechend des Verfassungsauftrages durch „positive Diskriminierung" gefördert werden. Nach wie vor sind diese Gruppen am stärksten von Armut und Marginalisierung betroffen. Die infrastrukturelle Ausstattung (Strom, Wasser, Straßen, öffentlicher Transport, funktionierende Schulen, Basisgesundheitsversorgung, etc.) in der Mehrzahl der ländlichen Gemeinden läßt sich als absolut unzureichend beschreiben.

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Kommunale Selbstverwaltung - eine indische Erfindung?

Der Panchayat ('Rat der Fünf') wird häufig als eine — Jahrtausende alte — traditionelle Institution der dörflichen Selbstverwaltung in Indien beschrieben. Tatsächlich wird der 'Rat der Fünf' zum ersten Mal vor ca. 3000 Jahren in der Rig-Veda, dem ersten schriftlichen Dokument des Hinduismus, erwähnt. Mit der modernen Vorstellung von dörflicher Selbstverwaltung hat die traditionelle Einrichtung der Panchayats in Indien jedoch kaum etwas gemein. Die Mitglieder der Panchayats wurden nicht gewählt, sie übten ihr Amt nicht zeitlich begrenzt aus, die Kasten- und Religionszugehörigkeit waren entscheidende Auswahlfaktoren für die Mitgliedschaft, und Frauen und Kastenlose waren in Panchayats nicht vertreten. Als Verwaltungsinstitutionen traten Panchayats in Erscheinung, als um das Jahr 500 v. C. das erste Mal Steuern erhoben wurden. Die Panchayats wurden jedoch über Jahrhunderte von den landbesitzenden Kasten dominiert und waren in erster Linie mit sozialen und religiösen Aufgaben befasst.

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Für die Philosphie der nationalen Unabhängigkeitsbewegung spielten Panchayats eine wichtige Rolle. Das Konzept der dörflichen Selbstverwaltung stellte ein Kernelement der Philosophie Mahatma Gandhis dar. Dörfliche/kommunale Selbstverwaltung (gram raj) war für Gandhi die Voraussetzung der Unabhängigkeit (swaraj): "My idea of the village swaraj is that it is a complete republic, independent of its neighbours for its own vital wants and yet interdependent for many others in which dependance is a necessity."

Nach der Unabhängigkeit Indiens haben die Panchayats im Rahmen der zentralen Planwirtschaft und einer eingeschränkten föderalistischen Struktur (des sogenannten "Föderalismus von oben"), in dem die bundesstaatlichen Kompetenzen stark von der Unionsregierung eingeschränkt sind, lange Jahre keine entscheidende Rolle gespielt. Den Empfehlungen eines 1957 eingesetzten Kommitees (Balwant Rai Mehta Committee) entsprechend, wurden in einigen indischen Bundesstaaten Ende der 50er Jahre Gesetze zur Regulierung der Aufgaben der Panchayats in der ländlichen Entwicklung erlassen. In den 60er und 70er Jahren stagnierte jedoch der Prozeß der Dezentralisierung und der rechtlichen Definition der Rolle und Funktion von kommunalen Institutionen auf zentralstaatlicher Ebene.

Erst in den 80er Jahren erwachte das Interesse an Dezentralisierung und rechtlicher Festlegung der Rolle der - in den Dörfern in traditioneller Form weiterhin existierenden - Panchayats erneut. Unter Rajiv Gandhi wurde im Mai 1989 ein Gesetz ins Parlament eingebracht, das den verfassungsrechtlichen Status der Panchayats regulieren sollte. Nachdem das Gesetz zwar das Unterhaus (Lok Sabha) passiert hatte, scheiterte es - im Oktober 1989 - im Oberhaus (Rajya Sabha). Die Kritik der Abgeordneten bezog sich in erster Linie auf die weitgehende Delegation von Funktionen vom Zentralstaat an die Gemeinden, ohne die bundestaatliche Ebene genügend zu berücksichtigen. Im Jahr 1992 wurde eine revidierte Fassung des Gesetzes sowohl von der Lok Sabha als auch der Rajya Sabha als Verfassungsergänzungen verabschiedet.

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Die Stärkung der kommunalen Institutionen Indiens durch die Verfassungergänzung von 1992

Am 24. April 1993 traten die beiden Verfassungsergänzungen für die ländlichen und städtischen Gemeinden in Kraft. Die Rollen und Funktionen von 225.000 dörflichen Gemeinden mit jeweils ca. 1.500 bis 8.000 Einwohnern, von 5.000 Kreisparlamenten (block level panchayats) mit ca. jeweils 80.000 bis200.000 Einwohnern und von 500 Bezirksparlamenten (district level panchayats) mit jeweils ca. 1 bis 2 Millionen Einwohnern wurden damit verfassungsrechtlich reguliert.

Als eine nationalstaatliche Rahmengesetzgebung mußte die Verfassungsergänzung innerhalb eines Jahres bis zum 24. April 1994 von den indischen Bundesstaaten ratifiziert und in bundesstaatliche Gesetzgebung umgesetzt werden. Die bundesstaatlichen Parlamente wurden dazu angehalten „by law, to endow the panchayats with such powers and authority as may be necessary to enable them to function as institutions of self-government". Die indischen Bundesstaaten hatten nach der Ratifizierung der Verfassungsergänzung die Freiheit, die Gesetzgebung zur kommunalen Selbstverwaltung in den ländlichen Gemeinden (Panchayati Raj Act) den jeweiligen Spezifika und Interessen ihres Bundesstaates anzupassen.

Folgende Vorgaben werden vom verfassungsrechtlichen Rahmengesetz gemacht:

  • Innerhalb eines Jahres nach Verabschiedung der Gemeindegesetzgebung müssen Neuwahlen ausgeschrieben werden. Das dreigliedrige kommunale System sieht Direktwahlen zu den kommunalen Parlamenten vor, die von bundesstaatlichen Wahlkommissionen überwacht werden sollen. Die Gemeinderatsvorsitzenden werden indirekt von den Gemeinderäten gewählt. Die kommunalen Parlamente werden für fünf Jahre gewählt. Wahlberechtigt sind alle Erwachsenen ab 21 Jahren.
  • Eine der innovativsten Vorgaben der Verfassungsergänzung ist sicherlich die Reservierung von 33% der Sitze in den kommunalen Parlamenten für Frauen. Um Frauen in die kommunalpolitischen Parlamente zu bringen, werden Wahlkreise für die auschließliche Kandidatur von Frauen untereinander reserviert. Die Auswahl der zu reservierenden Wahlkreise erfolgt für jede Wahl neu und

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    wird von der Wahlkommission durchgeführt. Entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung werden darüber hinaus Sitze für Kastenlose und indigene Bevölkerung reserviert (15-18%). Die Reservierung für Frauen gilt auch für benachteiligte Bevölkerungsgruppen, d.h. ein Drittel müssen auch hier Frauen sein.

  • Die Panchayats sind damit beauftragt, Pläne für die ländliche Entwicklung ("plans for the economic development and social justice") für die drei Ebenen der kommunalen Selbstverwaltung zu erstellen.
  • Laut Rahmengesetzgebung (11th schedule) können die folgenden 29 Zuständigkeitsbereiche an die Gemeinden delegiert werden: „1. Agriculture, including agricultural extension, 2. Land improvement, implementation of land reforms, land consolidation and soil conservation, 3. Minor irrigation, water management and watershed development, 4. Animal husbandry, dairying and poultry, 5. Fisheries, 6. Social Forestry and farm forestry, 7. Minor forest produce, 8. Small scale industries, including food processing industries, 9. Khadi, village and cottage industries,10. Rural housing, 11. Drinking water, 12. Fuel and Fodder, 13. Roads, culverts, bridges, ferries, waterways and other means of communication, 14. Rural electrification, including distribution of electricity, 15. Non conventional energy resources,16. Poverty alleviation programmes, 17. Education, including primary and secondary schools, 18. Technical and vocational training, 19. Adult and non-formal education, 20. Libraries, 21. Cultural activities, 22. Markets and fairs, 23. Health and sanitation, including hospitals, primary health care centres and dispensaries, 24. Family welfare,25. Women and child development, 26. Social welfare including welfare of the handicapped and mentally retarded, 27. Welfare of the weaker sections, and in particular the scheduled castes and tribes, 28. Public distribution system, 29. Maintenance of community assets."
  • Unabhängige Finanzkommissionen sollen auf bundesstaatlicher Ebene eingesetzt werden, um ein System für die Aufteilung von Steuereinnahmen und Zuwendungen zwischen Bundesstaaten und kommunalen Institutionen auszuarbeiten. Grundsätzlich sollten Panchayats in die Lage versetzt werden, eigene finanzielle Mittel (Steuern, Gebühren, Zölle, Abgaben etc.) zu mobilisieren.

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Umsetzung der verfassungsrechtlichen Gesetzgebung und Praxis der Kommunalpolitik - hat der Dezentralisierungsprozeß stattgefunden?

Bis auf wenige Ausnahmen — zu denen Bihar, einer der größten indischen Bundesstaaten, gehört — haben im Zeitraum 1995/96 in allen indischen Bundestaaten Wahlen zu den Kommunalparlamenten stattgefunden. Für ganz Indien wurden ca. 3. Millionen Gemeinde-, Kreis-, und Bezirksratsabgeordnete gewählt. Durch die verfassungsmäßige Verbriefung der kommunalpolitischen Institutionen ist das Interesse der Medien, Forschungsinstitute und Institutionen der zivilen Gesellschaften an Kommunalpolitik deutlich gewachsen und somit auch das Interesse der Öffentlichkeit an der ordnungsgemäßen Durchführung der Wahlen.

Mit Hilfe der gesetzlichen 33%-Reservierung für Frauen sind ca. 1 Million Frauen erstmals in die kommunalen Parlamente gewählt worden. Die anfangs vielfach geäußerten Befürchtungen, es könnten sich nicht ausreichend Frauen als Kandidatinnen finden lassen, haben sich als hinfällig erwiesen. Obwohl die Mehrzahl der indischen Frauen bisher auf die häusliche Domäne beschränkt wurden, scheint ihr Interesse an mehr Verantwortung und Einflußnahme — auch außerhalb des Hauses — sehr ausgeprägt zu sein. Auch die vielfach geäußerte Befürchtung, die gewählten Vertreterinnen seien nur „Dummy- Kandidatinnen", die von männlichen Familienmitgliedern aufgestellt und später von ihnen „vertreten" werden, hat sich etwas relativiert. Die Fähigkeiten und Erfolge der neugewählten Kommunalpolitikerinnen hängen stark von den jeweiligen regionalspezifischen Gegebenheiten und Faktoren wie dem Vorhandensein von Ausbildungs- und Beratungsangeboten ab.

Der Anteil von Sitzen, die von Kastenlosen und indigenen Bevölkerungsgruppen eingenommen werden, sollte nun dem Anteil an der Gesamtbevölkerung innerhalb eines Wahlkreises entsprechen. Damit hat sich die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Gemeindeparlamente deutlich verändert. In einer Gesellschaft, die Menschen aufgrund ihrer Kastenzugehörigkeit extrem diskriminiert, ist dies sicherlich ein großer Fortschritt. Dennoch behindert die ausgeprägte

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soziale und ökonomische Ungleichheit eine gleichberechtigte Beteiligung an den kommunalen Parlamenten wesentlich.

Für eine echte Dezentralisierung läßt die Rahmengesetzgebung jedoch noch einige entscheidende Aspekte offen. Zwar wird das kommunale System in der Regel als dreistufig bezeichnet, es gibt jedoch eine vierte Ebene: die Dorfversammlung (gram sabha). Ihr kommt als basisdemokratischer Institution, der gegenüber der Gemeinderat rechenschaftspflichtig ist, eine wichtige Rolle als Kontroll- und Abstimmungsinstanz zu. In der Rahmengesetzgebung wird die gram sabha zwar erwähnt, jedoch werden Größe, Aufgaben und Funktionen der Dorfversammlung nicht definiert, sondern der Regelung der Bundesstaaten überlassen. Nur in Kerala und Madhya Pradesh ist die Rolle der Dorfversammlung eindeutig geklärt, indem ihnen per Gesetz Weisungsbefugnis an die Panchayats zugestanden wird.

Der Ausbildungs- und Beratungsbedarf von erstmals gewählten Gemeinderatsmitgliedern ist in Indien immens. Bisher gibt es weder ausreichende Bildungsangebote noch eine umfassende Ausbildungspolitik, insbesondere für die spezifischen Bedürfnisse benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Die Pilot-Ausbildungsprojekte von NGOs können zwar methodisch-didaktische und organisatorische Erfahrungen sammeln, sie können den enormen Bedarf jedoch nicht decken.

Die Beziehungen zwischen den Regierungsebenen (bundesstaatlichen Parlamenten und dem dreistrufigen Kommunalparlamenten) sind nicht ausreichend klar strukturiert. Die politischen Parteien spielen eine wichtige Rolle als 'Transmissionsriemen' zwischen den verschiedenen Ebenen der Legislative. Die Rolle der Parteien in der Kommunalpolitik ist nicht einheitlich reguliert. Nicht überall treten die Kandidaten als Vertreter von politischen Parteien zu den Kommunalwahlen an. Es gibt eine Reihe von Stimmen, die sich explizit gegen eine „Partei-Politisierung" der indischen Kommunalpolitik wenden.

Die horizontale Vernetzung der Gemeinden ist bisher wenig ausgebaut. Es gibt zwar einen All India Panchayat Parishad, einen Zusammenschluß der Gemeinderegierungen. Dieser ist jedoch faktisch nicht funktionsfähig. Einen kommunalen Spitzenverband — etwa nach dem bundesrepublikanischen Muster — gibt es in Indien nicht.

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Die Delegation von Aufgaben an die kommunalen Institutionen (devolution of power) hat in den meisten Fällen bisher nur zögerlich stattgefunden. Das Subsidiaritätsprinzip ist schon in der Rahmengesetzgebung nicht stringent angewandt worden. In der Praxis zeigt sich, daß die Abgeordneten in den bundesstaatlichen Legislativen ebenso wie die Verwaltungsbeamten wenig Neigung verspüren, Kompetenzen und Mittel an die unteren Ebenen zu delegieren. Die Verwaltungsinstitution, die in ländlichen Gebieten eine zentrale Position einnimmt, die District Rural Development Agency — mit dem ihr vorstehenden District Collector—, ist ebenfalls in der Regel kaum an einer Kompetenzen- und Ressourcendelegation an die Gemeindeparlamente interessiert.

In den meisten Bundesstaaten ist bisher nur eine Reihe von staatlichen Sozial- und Beschäftigungsprogrammen an die kommunalen Institutionen delegiert worden — und das häufig auch nur auf dem Papier . Ungebundene Mittel zur eigenen Gestaltung stehen indesh der Gemeindepolitik kaum zur Verfügung. So erhalten in der Praxis die Panchayats finanzielle Mittel nur für die Ausführung staatlicher Programme. Diese bieten kaum eigene Gestaltungsmöglichkeiten. Generell ist die finanzielle Ausstattung der Panchayats absolut unzureichend. Die Finanzkommissionen, die laut Gesetz von den Bundesstaaten zur Regelung der finanziellen Ausstattungen der Gemeinden eingerichtet werden mußten, haben bisher nur in Ausnahmefällen ihre Berichte resp. Konzepte vorgelegt.

Die Rechenschaftspflichtigkeit von Regierungsinstitutionen gegenüber den Bürgern und Bürgerinnen ist in Indien bisher nicht sehr ausgeprägt, Unterschlagungen und Korruption sind weit verbreitet. Die Organisation Mazdoor Kisan Shakti Sanghathan (MKSS) in Rajasthan hat eine Kampagne für das Recht auf Information gestartet, in der durch öffentliche Hearings in den Dörfern Verwaltungsbeamte wie auch Gemeinderäte zur Offenlegung der Bücher, Akten und Unterlagen. angehalten werden. Von den jährlich etwa 8 Milliarden Rupies (400 Millionen DM), die von der Unionsregierung für ländliche Entwicklungsprogramme bereitgestellt werden, kommt nur ein Bruchteil bei der Zielgruppe, der armen ländlichen Bevölkerung, an.

Auch in Indien wird der Dezentralisierungsprozeß durch die Liberalisierungspolitik, die 1991 auf Druck des Internationalen Wäh-

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rungsfonds eingeleitet wurde, vorangetrieben. Mit Rückzug des (zentralen) Staates gewinnt die bundesstaatliche Ebene an Bedeutung — beispielsweise bei ausländischen Investitionen und Krediten von bi- und multilateralen Organisationen. Die regionalen Disparitäten innerhalb Indiens scheinen sich vor diesem Hintergrund weiter zu vertiefen. Dezentralisierung kann in diesem Kontext bedeuten, daß Aufgaben ohne die Ausstattung mit den dazugehörigen Ressourcen und Kompentenzen an untere Ebenen delegiert werden. Es besteht die Gefahr, daß sich der Staat auf der Ebene der Unions- und Bundesstaatenregierungen seiner Aufgaben entledigt, ohne daß ausreichend dafür gesorgt wird, daß diese von subsidiären Ebenen übernommen werden —aus Mangel an Ressourcen, Kompetenzen und Kontrollmechanismen.

Die Dezentralisierung und kommunale Selbstverwaltung ist in Indien mit der Verfassungsergänzung von 1992, der Ratifizierung des Gesetzes durch die Bundesstaaten und den sukzessiv abgehaltenen Wahlen einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Im 73rd und 74th Amendment sind die kommunalpolitischen Institutionen nun rechtlich verankert. Damit ist ein Anfang für einen echten Dezentralisierungsprozeß gemacht. Die praktische Umsetzung von Gesetzen und die Überwachung der Umsetzung dieser Gesetze sind nun die entscheidenden Faktoren für eine tiefergreifende Dezentralisierung. Der politische Wille dazu scheint auf der bundesstaatlichen Ebene bisher nicht besonders stark zu sein. Zur Mobilisierung dieses politischen Willens wird die systematische Lobbyarbeit von Kommunen und Institutionen der zivilen Gesellschaft wie NGOs und Medien erforderlich sein. Der garantierte Zugang zu politischen Entscheidungspositionen auf kommunaler Ebene für Frauen und benachteiligte Bevölkerungsgruppen mit Hilfe der 33%-Reservierung ist ohne Zweifel ein Hoffnungsstrahl im Hinblick auf die weitere Demokratisierung der politischen Vertretungsstrukturen in Indien. Für den weiteren Dezentralisierungsprozeß jedoch ist die institutionelle Integration der kommunalen Parlamente in ein echtes föderalistisches System sicherlich entscheidend. Solange die Panchayats als „Entwicklungs-Agenturen" — ähnlich wie NGOs — und nicht als integrale Institutionen eines föderativen Staates angesehen werden, bleibt die kommunale Selbstverwaltung in Indien noch eine Zukunftsvision.

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Erfahrungen einer Kommunalpolitikerin in Indien

Lakshmi Devi (45) wurde 1994 in den Panchayat gewählt. Sie verfügt über bessere Ausgangsvoraussetzungen als viele andere Frauen in Indien, da sie lesen und schreiben kann. Nach ihrer Wahl in einem der für Frauen reservierten Wahlkreise hat sie jedoch zunächst ihren Mann mit der Wahrnehmung ihres Mandats betraut, da sie bisher keine öffentlichen Aufgaben übernommen und zudem große Scheu vor der „Außenwelt" hatte. Im Laufe der Zeit wuchs ihr Interesse an der Arbeit des Gemeinderats allmählich. Die Informations- und Ausbildungsprogramme einer lokalen NGO bestärkten sie darin, die Arbeit im Gemeinderat nicht länger ihrem Ehemann zu überlassen, sondern sie selbst zu übernehmen. Sie begann, sich in der Bezirksverwaltung über die Programme zu informieren, die von den Gemeinderäten ausgeführt werden sollen. In den vergangenen Monaten ist es ihr gelungen, eine Reihe von staatlichen Entwicklungsprogrammen — insbesondere für Frauen – in ihrer Gemeinde durchzuführen. Beispielsweise wird die staatliche Alphabetisierungskampagne (Total Literacy Campaign) nun auch in ihrer Gemeinde durchgeführt. Ihr Ansehen in der Gemeinde und im Gemeinderat ist deutlich gestiegen, und sie wird als effiziente und vertrauenswürdige Führungsperson anerkannt. Sie sagt: „Früher habe ich mich nicht aus dem Haus gewagt, heute fahre ich mit dem Bus in die Bezirksstadt. Früher habe ich mich nicht getraut, mit den Leuten in der Verwaltung und den Politikern zu sprechen, heute frage ich nach den Programmen, die für uns aufgelegt worden sind. Jetzt lerne ich, wie man mit diesen Leuten spricht und wie man sich durchsetzt."



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Feminisierung der Kommunalpolitik?
Erste Erfahrungen von Frauen in Kommunalparlamenten Indiens


Da die Mehrzahl der Kommunalwahlen in den Jahren 1995/96 stattgefunden hat, liegen bisher noch keine umfassenden Studien zur kommunalpolitischen Beteiligung von Frauen vor. Eine Ausnahme stellen die Bundesstaaten Karnataka und West Bengalen dar, die

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schon vor der Verfassungsergänzung Sitze für Frauen (25%) reserviert hatten. Dort hat sich der Anteil von Frauen in den kommunalpolitischen Räten sukzessive erhöht und geht mittlerweile über die quotierten Sitze hinaus. Bei den letzten kommunalpolitischen Wahlen sind in Karnataka 41%, in West Bengalen 38,8% Frauen gewählt worden.

Erste Fallstudien in einigen Gemeinden zeigen, daß die Reservierung Frauen nicht nur als Kandidatinnen, sondern auch als Wählerinnen und Wahlkampfhelferinnen stärker am politischen Prozeß hat teilnehmen lassen. Frauen, die in ihren Aktivitäten bisher auf den häuslichen Bereich beschränkt sind, entdecken die öffentliche Domäne. Viele Selbsthilferorganisationen, die sich in erster Linie um die wirtschaftliche und soziale Besserstellung von Frauen kümmern, erkennen nun die Beteiligung an der Kommunalpolitik als ein wichtiges Aktionsfeld.

Soziokulturelle Faktoren innerhalb Indiens wirken sich stark auf die Art und Weise der Beteiligung der Frauen und die Umsetzung der Quote aus. In südindischen Staaten wie Kerala und Karnataka, in denen die Alphabetisierungsrate von Frauen höher und der Handlungsspielraum größer ist, ist auch die politische Beteiligung leichter zu bewerkstelligen und wird zugleich stärker akzeptiert. In Staaten wie Rajasthan und Haryana, in denen Frauen das Haus in der Regel nur verschleiert verlassen und die Alphabetisierungsraten sehr niedrig sind, wird die gleichberechtigte Teilnahme von Frauen am politischen Prozeß noch mehr Unterstützung benötigen. Erste Fallstudien zu den Erfahrungen von Kommunalpolitikerinnen in Haryana zeigen, daß Frauen in den neuen Positionen auch beginnen, überkommene Autoritätstrukturen und ineffiziente Praktiken in den Gemeinderäten zu hinterfragen.

Die erstmals gewählten Kommunalpolitikerinnen in den ländlichen Gemeinden haben einen hohen Bedarf an Ausbildung und Unterstützung. Da viele Frauen nicht alphabetisiert sind, bisher kaum gemeindepolitisch aktiv waren und in der Regel keine Erfahrung mit politischen Entscheidungspositionen haben, sind begleitende Ausbildungs- und Beratungsprogramme erforderlich. Indische NGOs haben in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle in der Ausbildung, Beratung und Unterstützung von Frauen übernommen.

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Maßnahmen der FES im Bereich der Förderung der kommunalpolitischen Institutionen und der Beteiligung von Frauen an der kommunalen Selbstverwaltung

In Zusammenarbeit mit der Partnerorganisation Haryana Social Work and Research Centre führt die FES ein Ausbildungsprogramm für erstmals gewählte Frauen durch. In einem Training for Trainer werden lokale Ausbilderinnen/Beraterinnen ausgebildet, die dann mittelfristig selbst Ausbildung, Beratung und Unterstützung anbieten können.

Im Rahmen von nationalen Workshops wird der Erfahrungsaustausch von Gemeinderatsmitgliedern, Vertreter/-innen von Nicht-Regierungsorganisationen sowie staatlichen Institutionen über Ausbildungsinhalte, -methoden und -materialien sowie die Diskussion über den Dezentralisierungsprozeß und die Arbeit der Kommunen ermöglicht. Eine empirische Studie zu den ersten Erfahrungen der Politikerinnen in den Gemeinderäten in Haryana hat für die Ausbildung relevante Ergebnisse über die Arbeit der Kommunalpolitikerinnen (Prioritäten, Schwierigkeiten, etc.) und zu den Auswirkungen von kommunalpolitischen Ausbildungsprogrammen vorgelegt.

Gemeinsam mit verschiedenen Partnerorganisationen wurde Ausbildungsmaterial für Frauen in der Gemeindepolitik entwickelt. Ein Set von fünf Trainingsmanualen wurde mit der Partnerorganisation ISST in Hindi erarbeitet. Die Organisation DRISHTI, die sich auf audiovisuelles Trainingsmaterial spezialisiert hat, wurde bei der Produktion von audiovisuellem Ausbildungsmaterial für die kommunalpolitische Arbeit unterstützt.

Die Arbeit im Bereich der Förderung der politischen Partizipation von Frauen beschränkt sich nicht nur auf den kommunalpolitischen Bereich. Im Rahmen einer umfassenden Studie wurden die Situation von Frauen in den politischen Parteien und die frauenpolitischen Programme der Parteien untersucht. Diese Studie wurde unter dem Titel 'Crossing the Sacred Line - Women's Quest for Political Power' veröffentlicht. Politische Gleichstellungsstrategien auf kommunaler und Länderebene sowie wirtschaftliche Förderprogramme für Frauen standen im Vordergrund eines Informationsprogramms, das für die Vorsitzende der National Commission for Women sowie Mitglieder der State Commissions for Women in Deutschland absolviert wurde.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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