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Fallbeispiel: Äthiopien
Michael Meier


Um den Dezentralisierungsprozeß in Äthiopien seit dem Sturz des DERG- Regimes seit 1991 verstehen zu können, ist es notwendig, etwas weiter in die Geschichte dieses Landes einzudringen. Diese Geschichte unterscheidet sich in einigen Punkten signifikant von der Geschichte anderer afrikanischer Länder.

Äthiopien war bis auf die kurze Phase zwischen 1935 und 1941 nie Kolonie und wurde nur peripher von den Umwälzungen, die sowohl in Afrika als auch in Europa von Mitte des letzten Jahrhunderts an stattfanden, betroffen. Unter den Kaisern Theodros (1855-1869) und Yohannes (1872- 1889) wurde die Bildung eines starken zentralstaatlichen Äthiopiens eingeleitet, die unter Kaiser Menelik II. (1889- 1913) vollendet wurde. Kaiser Menelik II. schuf ein stehendes Heer und formte eine Zentralregierung, die natürlich voll ihm unterstand.

Haile Selassie I. (1930- 1974) schuf eine moderne Verwaltung und ersetzte die alte Zuständigkeit der Gebietsfürsten für ihre Ländereien durch die Entsendung von Gouverneuren (sie trugen den Titel "Inderasie" - "wie ich"). Natürlich waren auch diese direkt vom Kaiser bestellt, stammten aber erstmalig nicht mehr aus der Region. Eine Sonderrolle spielte immer die Region Tigray, die von eigenen Fürsten regiert wurde.

Während der italienischen Okkupation wurden sechs Verwaltungsregionen geschaffen. Haile Selassie I. machte daraus nach der italienischen Besetzung 14 Regionen. Nach dem Sturz des Kaisers bildete das DERG-Regime 30 Regionen, wobei hier die Einteilung der Gebiete entlang ethnischer Linien eine noch stärkere Rolle als in der Vergangenheit spielte.

Die seit 1991 regierende Einheitspartei EPRDF hat nach der Verabschiedung eines Regionalisierungsgesetzes und einer sehr intensiven Verfassungsdiskussion das Land dann wieder in zehn Regionen

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aufgeteilt. Auf die dort siedelnden Nationalitäten wurde durch eine weitere Aufteilung in Landkreise Rücksicht genommen. Sie haben innerhalb der Regionen spezielle Rechte. Den Bundesstaaten wurde sogar das Sezessionsrecht eingeräumt — eine bis heute nicht unumstrittene Regelung. Auch Nationalitäten innerhalb von Regionen können nach einem bestimmten Verfahren einen eigenen Bundesstaat bilden.

Parallel zu den ersten Wahlen zu lokalen und regionalen Verwaltungen im Juli 1992 wurden haushaltsrechtliche und administrative Befugnisse auf die unteren Ebenen übertragen. Ebenso wurden belastete Personen im Polizei- und Justizbereich ausgetauscht. Hinzu kam der Versuch, regionale Gerichte neu aufzubauen.

Das Büro des Premierministers hat eine Koordinierungsstelle für alle administrativen Anliegen der Regionen. Der Bundesrat (House of Federations) als zweite Kammer des Parlaments ist die Vertretung der Länder. 108 Abgeordnete der Ländern treffen sich dreimal im Jahr. Der Bundesrat hat die Funktion der Verfassungsinterpretation (als beratendes Organ agiert hier die Verfassungskommission), der Lösung von Konflikten zwischen Regionen und Nationalitäten und berät (kein Beschlußrecht) ebenfalls über die Aufteilung von Steuermitteln zwischen Bund und Ländern bzw. zwischen den Ländern.

Die äthiopische Regierung steckt noch mitten im Transfer von Zuständigkeiten an die einzelnen Gebietskörperschaften. Die Zentralregierung tut sich dabei schwer, aber auch die Regionen sind es nicht gewohnt, die neuen Möglichkeiten zu nutzen und sich nicht mehr in der Hauptstadt rückversichern zu müssen. Grundsätzlich kann festgestellt werden, daß bestimmte Regionen wie Tigray, Anhara und Oromia diesen Prozeß aktiver gestalten als periphere Regionen an der somalischen oder sudanesischen Grenze (Region Somalia, Gambella, Benishangul-Gumuz). Das führt zu einer immer größere Differenzierung zwischen den Regionen. Man versucht, ihr durch verschiedene spezielle Förderprogramme entgegenzuwirken.

Im Staatshaushalt wird hinsichtlich der Finanzierung der Regionen zwischen dem recurrent (laufende Ausgaben) und dem capital budget (Neuinvestitionen) unterschieden. Während in der Vergangenheit der Aufteilungsschlüssel für beide Budgets lediglich der Bevölkerungsanteil war, kamen Mitte 1997 neue Komponenten hinzu:

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Die Bevölkerungszahl fließt zu 60% ein, das erhobene Steueraufkommen in der Region zu 25% und der Entwicklungsstand der jeweiligen Region zu 15%. Diese Neuerung soll vor allem den unterentwickelten Randregionen nützen, wird aber durchaus kontrovers diskutiert. Es liegen keine nachprüfbaren Definitionen vom Entwicklungsstand in diesem Kontext vor, ebenso fehlt es hier und da an vertrauenswürdigen Informationen zur Bevölkerungszahl.

Neben der Koordinierungsstelle im Büro des Premierministers gibt es keine weiteren bundesstaatlichen Einrichtungen für Regionalangelegenheiten. Die nächste administrative Stufe sind die Regionalregierungen. Jede Region hat ein eigenes Parlament, das die Regionalregierung wählt. Gerade die peripheren Regionen werden immer wieder durch Skandale und Korruptionsfälle erschüttert. So wurde 1997 die gesamte Regierung der Region Somalia abgesetzt. Gleiches geschah bereits in mehreren anderen Regionen. Dies trägt nicht zur Festigung der Verwaltung bei, zumal viele der Mitarbeiter ohne jede Vorbildung auf ihre Posten gekommen sind. Innerhalb der Regionen gibt es eine Unterteilung in Zonen und Woredas (Landkreise). Die Räte der Woredas und der Kebele (Stadtbezirke) werden für fünf Jahre (ehrenamtlich) gewählt und benennen die Führung der Verwaltung (hauptamtlich).

In diesem Umfeld ergeben sich für die Stiftungsarbeit im Dezentralisierungsbereich in Äthiopien die folgenden Arbeitslinien, wobei an dieser Stelle grundsätzlich angemerkt werden sollte, daß verfassungs- und rechtsstaatliche Aspekte des Dezentralisierungsprozesses einen besonderen Schwerpunkt des FES-Engagements darstellen:

  • Ausbildungsmaßnahmen auf kommunaler Ebene zu verfassungs- und rechtsstaatlichen Fragen
  • Dezentralisierungsmaßnahmen im Bereich des Gerichtswesens
  • Dezentralisierung im Bereich der Parlaments- und Verfassungskommission

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Die Ebene der Kommunalpolitik

Im Rahmen eines Planungsseminars der FES mit politischen Entscheidungsträgern und Rechtsspezialisten in Tigray (Nordregion) im Juli 1995 wurde ein großer Weiterbildungsbedarf für gewählte Volksvertreter auf der untersten Gemeinde- und Landkreisebene festgestellt.

Um wichtigen Entscheidungsträgern der Region die Möglichkeit zu geben, Erfahrungen zur Kommunalpolitik auch außerhalb Äthiopiens zu sammeln, wurden drei Vertreter (Vizepräsident, Präsidentin des Regionalparlaments, Berater des Präsidenten) im Februar 1996 nach Deutschland eingeladen. Als ein Ergebnis dieser Reise konnte festgehalten werden, daß vor allem die unterste Ebene (Landkreise, Stadtteile) in sie betreffende Entscheidungen einbezogen werden müsse und daß dafür eine bessere Ausbildung nötig sei.

Daher entwickelte die FES gemeinsam mit einem sehr engagierten Rechtsanwalt als Leiter des Seminarstabs und dem Justice Bureau of Tigray ein Trainingsprogramm und die entsprechenden Materialien dazu. Ausbildungsschwerpunkte waren:

  • Verfassung von Äthiopien und Tigray
  • Rolle eines Volksvertreters
  • Anwendung von Strafgesetzen
  • Verwaltung eines Kebele
  • öffentliche Verwaltung
  • Beschwerdewege für Einwohner
  • Rolle und Grenzen der Laiengerichte

Ziel der Seminarreihe war es, die Teilnehmer nicht nur mit den o.g. Punkten vertraut zu machen, sondern sie auch sie in die Lage zu versetzen, professioneller als bisher ihre täglichen Pflichten zu erledigen — mit der Betonung auf der Respektierung der Menschenrechte und der Grundregeln einer Demokratie.

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Zur Vorbereitung auf die Seminare wurden durch den Seminarleiter und das Justice Bureau of Tigray Ausbildungsunterlagen in der Lokalsprache vorbereitet. Diese Publikationen behandelten

  • die äthiopische Verfassung,
  • die tigrinische Verfassung,
  • die Rolle von Laiengerichten (social courts),
  • die Verwaltung eines Landkreises.
  • das äthiopische Strafrecht.

Am Beginn der Seminarreihe stand die Ausbildung der Trainer durch hochrangige Experten aus der Hauptstadt bzw. aus der Region.

Der Ausbildung der Trainer folgte dann die Ausbildungsreihe für die Zielgruppe. Um lange Anreisen zu vermeiden und Transportkosten der Teilnehmer zu sparen, wurden die Seminare in den jeweiligen Landkreisen durchgeführt.

Die erste Seminarreihe zur Weiterbildung von gewählten Vertretern auf Gemeinde- und Landkreisebene wurde 1996 in verschiedenen Zonen der Region Tigray durchgeführt. Es konnten bisher ca. 3500 Gemeinderatsvertreter weitergebildet werden.

Im Januar 1997 fand eine Evaluierung mit Vertretern aus verschiedenen Landkreisen sowie der Regionalregierung statt, die einige Änderungen an den Inhalten der Seminare vorschlugen. Gleichzeitig hatte das Regionalparlament viele Empfehlungen der Seminarteilnehmer aufgegriffen und Beschlüsse zur Funktion von social courts sowie anderer Verwaltungsabläufe gefaßt, die den Teilnehmern der neuen Seminarrunden mitgeteilt werden sollten. Deshalb wurden diese Materialien mit in die Seminare einbezogen.

Zum ersten Mal sind so Volksvertreter auf dieser Ebene in den Genuß einer Weiterbildung gekommen. Die Ergebnisse wurden von den Verantwortlichen des Justizbüros von Tigray zusammengetragen. Sie wurden im Parlament von Tigray debattiert und führten zur Präzisierung bzw. Änderung von Gesetzen und Bestimmungen. Alle Partner waren sehr offen für Vorschläge und begrüßten die Initiative der FES. Die Region hat auf der Grundlage unserer Erfahrungen

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in weiteren vier Landkreisen die gleiche Ausbildung mit eigenen Mitteln organisiert. Andere Geber wie die Europäische Union, die Kanadische Botschaft und die Irische Botschaft wollen ähnliche Programme unterstützen.

Derartige Aktivitäten an der Basis könnten in der Zukunft durch weitere spezielle Themenangebote angereichert werden. Bisher standen vor allem rechtliche Fragen (Rolle von Laiengerichten, Bundes- und Regionalverfassung) im Vordergrund. Fragen der Organisation eines Haushalts, der Selbstverwaltung der einzelnen Körperschaften usw. sollten noch stärker diskutiert werden. Dazu ist es sicher notwendig, auch Vertreter der höheren Verwaltungsebenen einzubeziehen.

In der Zukunft sollen Diskussionsforen zwischen den Gemeindevertretern und Parlamentariern bzw. Gemeindevertretern und Verwaltungsspezialisten organisiert werden. In Gesprächen mit politischen Entscheidungsträgern der Region ist durchaus der Wille zu erkennen, die Verwaltungsreform weiterzuführen, die den Landkreisen, Städten und Gemeinden mehr Gestaltungsspielraum gibt.

Schließlich soll ein Dialog zwischen verschiedenen Regionen Äthiopiens gefördert werden. Zweckmäßigerweise sollten Regionen mit ähnlichen soziokulturellen und ökonomischen Voraussetzungen ausgewählt werden, die dann voneinander lernen können.

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Die Ebene des Gerichtswesens

Die FES hat sich bereits recht frühzeitig — und zwar im Verlauf der Verfassungsdiskussion von 1991 bis 1994— mit dem Thema Dezentralisierung/ Regionalisierung beschäftigt. Es wurden verschiedene Diskussionsforen organisiert, die diese für Äthiopien neue Entwicklung zum Thema hatten.

Um nun einen eigenen Beitrag zur Stärkung dieses Prozesses zu leisten, wurde mit Hilfe einer EU-Finanzierung ein Weiterbildungsprogramm für die zumeist neuernannten Richter in den Regionalgerichten organisiert. Für alle Regionalgerichte wurden Weiterbildungssminare organisiert. Komplette Sets aller Gesetze wurden an die Regionen weitergegeben. Während der Seminare kamen als weitere Ausbildungsinhalte internationale Konventionen hinzu. Damit

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konnten die Kapazität der Gerichte wesentlich gestärkt und ein nicht unwesentlicher Beitrag zur Rechtssicherheit geleistet werden.

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Die Ebene des Parlaments und der Verfassungskommission

Seit 1996 arbeitet die FES mit dem ein Jahr zuvor zusammengetretenen Bundesparlament und der noch jüngeren Verfassungskommission zusammen. Das Parlament mit seinen zwei Kammern spielt eine wesentliche Rolle bei der Ausgestaltung des Dezentralisierungsprozesses in Äthiopien. Hier werden die Gesetze verabschiedet und über die Budgetzuweisungen entschieden.

Das House of Peoples Representatives als erste Kammer befaßt sich mit dem gesamten Gesetzgebungsprozeß und kann den Premierminister und andere Fachminister sowie andere Personen der Exekutive zu bestimmten Themen befragen. Die Einheitspartei EPRDF verfügt mit etwa 90% der Sitze über die Mehrheit in dieser Kammer. Es gibt 548 Abgeordnete, neun ständige Ausschüsse mit jeweils 13 Mitgliedern (legal, budget, economic affairs, defence, foreign affairs, social affairs,.parliamentary administration affairs, communication and cultural affairs, womens affairs).

Das House of Federations hat grundlegende Kompetenzen im Bereich der Verfassungsgestaltung. Es berät über Anträge von Regionen hinsichtlich ihrer Selbstbestimmung bis hin zur Abspaltung, ist für alle Fragen, die die Regionen und deren Völker betreffen, zuständig und berät auch über die Verteilung von Steuermitteln zwischen Bund und Ländern bzw. deren Aufteilung zwischen den Ländern. 108 Parlamentarier treffen sich mittlerweile dreimal im Jahr jeweils für eine Woche. Diese Parlamentarier sind von ihren Regionen bestimmt und haben meist eine weitere Funktion in ihrer Region. Es gibt drei Ausschüsse mit jeweils 11 Mitgliedern, wobei bei wichtigen Diskussionen immer noch ein zusätzlicher Vertreter jeder Region teilnimmt (Finanzen, juristischer Ausschuß/Interpretation der Verfassung, Konfliktausschuß). Der Einfluß dieser zweiten Kammer ist schon aufgrund der nur dreimal jährlich stattfindenden Treffen (bisher nur zweimal) begrenzt.

Um die Parlamentarier für diese Aufgaben zu rüsten, hat die FES begonnen, Weiterbildungsseminare für Parlamentarier und Mitglie-

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der des Stabes des Parlaments anzubieten. Hinzu kamen mehrere Studienreisen in andere Länder sowie Aufenthalte von Kurzzeitexperten aus Deutschland. Komplettiert wurden diese Aktivitäten durch die Erstellung von Handbüchern zu wirtschaftlichen und politischen Fragen und durch kleinere Materialhilfen.

Für die Zukunft ist an einen intensiveren Erfahrungsaustausch zwischen äthiopischen und deutschen Parlamentariern/ Parlamentsmitarbeitern gedacht. Das äthiopische Parlament ist eine noch sehr junge Einrichtung und muß seine Rolle in einer parlamentarischen Demokratie erst noch finden. So wird die Vermittlung des notwendigen Knowhow ein wichtiger Bestandteil dieses Programms werden und bleiben.

Die Verfassungskommission, die aus elf Mitgliedern besteht, untersteht dem Bundesrat und hat in ihren Stellungnahmen zu Verfassungsfragen keine Entscheidungsbefugnisse, berät aber den Bundesrat bei seinen Entscheidungen. Da sie eine völlig neue Institution ist, die sich auf keinerlei frühere Erfahrungen stützen kann, hat die FES zwei Studienreisen nach Südafrika und nach Deutschland zu den jeweiligen Verfassungsgerichten organisiert. Themen waren nicht nur die Arbeitsweise eines Verfassungsgerichts, sondern auch die Einbindung von Regionen (Bundesländern) in eine Bundesrepublik sowie deren Rechte und Pflichten — eine für Äthiopien ebenfalls völlig neue Erfahrung.

Abschließend soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß aufgrund des Krieges zwischen Äthiopien und Eritrea ab 1999 keine Projektmaßnahmen mehr in der Provinz Tigray durchgeführt werden können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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