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V. Kommunale Sozialpolitik - eine Nummer zu groß?

Zum dezentralisierungspolitischen ABC gehört die von Richard Musgrave eingeführte Unterscheidung der staatlichen Funktionen in Stabilitätsfunktion, Allokationsfunktion und Distributionsfunktion. Danach soll die (makroökonomische) Stabilitätsfunktion in jedem Fall in der Hand der Zentralregierung bleiben, die Allokationsfunktion soll möglichst weitgehend dezentralisiert werden, da öffentliche Investitionen umso effizienter ausfallen, je dichter an den Betroffenen sie entschieden werden, und bei der Distributionsfunktion soll besondere Vorsicht walten, weil die Dezentralisierung verteilungswirksamer Kompetenzen eher die Ungleichheit fördert. Vereinfacht gesagt: die Dezentralisierung der Sozialpolitiken führt zu höherer Ungleichheit [ Dies gilt allerdings nur in der reinen Theorie : wenn Leistungsangebot und Finanzierung dezentral erfolgen, können sich reiche Kommunen ein höheres Leistungsniveau leisten als arme Kommunen. In der Regel wird versucht, diesen Effekt durch zentralstaatliche Finanzierung (z.B. Erzie hungswesen in Chile) oder durch Finanzausgleichsmechanismen (Kolumbien, Brasilien) auszugleichen. Dies wiederum kann zu Ineffizienzen, Unter- und Überfinanzierung führen.] .

Aus theoretischer Sicht ist es daher überraschend, daß alle Dezentralisierungspolitiken in Lateinamerika ein besonderes Gewicht auf die Übertragung sozialpolitischer Kompetenzen, v.a. im Bildungs- und Gesundheitswesen, auf die Kommunen gelegt haben. Nicht überraschend ist dagegen die Tatsache, daß die Ergebnisse in den meisten Fällen bisher unbefriedigend sind. Dies liegt vor allem an der Schwierigkeit, die Finanzierungsmodalitäten in Umfang und Struktur so zu gestalten, daß die Träger - in diesem Fall die Kommunen - die Aufgaben angemessen verwalten können.

Die in dem workshop gestellte Frage—Wenn die Gemeinden Anbieter sozialer Dienstleistungen sind, führt dies zu einer besseren Versorgung der Bürger oder oder sind die Gemeinden damit überfordert? -- ist daher nur zu berechtigt.

Aus der Sicht der Zentralregierungen hat die Dezentralisierung sozialpolitischer Aufgaben verschiedene Vorteile:

• Bildung und Gesundheit sind sehr personal- und kostenintensive Sektoren; ihre Verlagerung auf die mittlere oder lokale Ebene kann den Staatshaushalt auch dann entlasten, wenn die Zuweisungen an Regionen und Gemeinden erhöht werden müssen;

• der Verwaltung durch die Zentralregierung entspricht eine zentrale gewerkschaftliche Organisation der Beschäftigten, die den Kostendruck erhöht; die Dezentralisierung schwächt die gewerkschaftliche Organisationsfähigkeit;

• der zentralisierte Mitteleinsatz führt zu Ineffizienzen, da der konkrete Bedarf vor Ort nicht bekannt ist und der regional unterschiedliche Bedarf nicht berücksichtigt werden kann; die Gefahr der Korruption ist hoch.

Gleichzeitig versuchen die Zentralregierungen in der Regel, über drei unterschiedliche Mechanismen eine gleichmäßige und effiziente Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen:

1. die direkte (Zuweisungen) oder indirekte (Finanzausgleich) Finanzierung der sozialpolitischen Leistungen;

2. die Kontrolle über Art und Umfang der Leistungen bis hin zu detaillierten Verwaltungsvorschriften;

3. eine möglichst weitgehende Privatisierung der Leistungen, da insbesondere die Kommunen grundsätzlich als ineffizient gelten.

Die Probleme dieser Politik liegen in ihrer Umsetzung:

• In einigen Ländern sind das öffentliche Bildungs- und das Gesundheitswesen nahezu zusammengebrochen; die Finanzzuweisungen reichen oft nicht aus, das bestehende Angebot zu finanzieren, erst recht nicht, die wachsende Nachfrage zu befriedigen;

• die Sektorministerien halten an ihren Privilegien fest und bauen nur unzureichend Personal ab; die Dezentralisierung erfolgt schleppend und unter hohen Reibungsverlusten;

• starke öffentliche Gewerkschaften (Lehrer, Krankenhauspersonal) widersetzen sich der Dezentralisierung und blockieren den Prozeß;

• nationale, regionale und lokale soziale Einrichtungen gleicher Art bestehen nebeneinander fort und erhöhen die Ineffizienzen in der Versorgung der Bevölkerung.

In zahlreichen Fällen bleibt die Finanzierung von Schulen und Krankenhäusern aus, ohne daß die Kompetenz in rechtlicher Hinsicht bereits auf die Regionen oder Kommunen übertragen ist. Diese sind häufig gezwungen, die laufende Versorgung finanziell zu sichern oder notwendige Investitionen zu finanzieren, ohne auf die Verwaltung Einfluß nehmen zu können.

Dies stellt die Kommunalverwaltungen vor komplexe Probleme und fordert erneut ihre Kreativität und Innovationsfähigkeit.

Grundsätzlich bietet die dezentralisierte Sozialversorgung den Vorteil, daß die konkreten Probleme der Bevölkerung vor Ort besser festgestellt werden können und die Verwaltungswege zur Bedarfsdeckung kürzer sind. Auch können die betroffene Bevölkerung oder die lokalen Unternehmen in die Lösung der Probleme einbezogen werden.

Innovative Stadt- und Gemeindeverwaltungen mobilisieren daher verschiedene Potentiale:

• Verhandlungen mit den Sektorministerien führen zu Vereinbarungen über eine Abgrenzung der Verwaltungs- und Finanzierungsverantwortlichkeiten;

• die betroffene Bevölkerung wird bei der Bereitstellung sozialer Infrastruktur nicht nur an der Bedarfsidentifikation und Planung beteiligt, sondern auch an der Bereitstellung und Finanzierung, beispielsweise durch Eigenleistungen;

• private Unternehmen können Patenschaften für Schulen, Gesundheitsposten oder öffentliche Parks übernehmen;

• bestimmte soziale Dienstleistungen können über Konzessionen auf den Privatsektor übertragen und damit dem Wettbewerb ausgesetzt werden;

• über geeignete Partizipationsmechanismen kann die soziale Kontrolle sozialpolitischer Einrichtungen verbessert und damit auch ihre Effizienz erhöht werden; allerdings ist nicht immer die Frage geklärt, welche Mechanismen denn „geeignet" sind;

• insgesamt geht die Tendenz zu einer stärkeren Eigenverantwortlichkeit der unidades de gestión (d.h. der einzelnen Schule, des einzelnen Krankenhauses, etc.), während sich Verwaltung und politische Führung auf die Normensetzung und -kontrolle beschränken.

Externalitäten

Ein großes - vielleicht das größte - Problem kommunaler Sozialleistungen sind die externen Effekte. Beispielsweise investierte die Stadtverwaltung von Volta Redonda, Brasilien, erheblich in die öffentlichen Krankenhäuser der Stadt. Die Verbesserung des Leistungsangebots führte in kurzer Zeit zu einer verstärkten Nachfrage von Patienten aus den Nachbargemeinden und dem Ergebnis, daß die zur Verfügung stehenden Ressourcen pro Patient wieder sanken und damit auch die Qualität des Angebots.

Wenn eine höhere Finanzierung aus dem Haushalt nicht möglich ist, bleiben nur drei Möglichkeiten, um die Qualität der Leistung aufrechtzuerhalten, ohne die Kompetenz auf eine höhere Ebene zurückzuverlagern:

1. Steuererhöhungen - diese würden langfristig zum Abwandern der Steuerzahler führen, ohne das Problem zu lösen (New York Syndrom);

2. Ein finanzieller Beitrag der Nachbargemeinden entsprechend ihrem Anteil an der Nutzung; dazu bestehen keine gesetzlichen Regelungen;

3. Die Sicherstellung einer gleichmäßigen Finanzierung für alle Gemeinden durch den Staat zur „Internalisierung der externen Effekte". [ Dies geschieht im Prinzip über das nationale Gesundheitssystem SUS, nach dem die öffentlichen Krankenhäuser nach Fallzahlen finanziert werden; allerdings haben diese zur Kontrolle der weitverbreiteten Korruption ein „Dach", das sich nach der Einwohnerzahl der Gemeinde richtet. Dies ist der Grund für das beschriebene Problem.]


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