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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 16 (Fortsetzung)]
Angesichts der Schnelligkeit, mit der der zunächst zögerliche Prozess der Perestroika in der Sowjetunion in den flächendeckenden Kollaps der kommunistischen Regime umschlug, gab es kaum Konzepte für eine Neuordnung Europas. Die einzige europaweite Organisation war die KSZE. Seit dem Pariser KSZE-Gipfel von 1990 entwickelte sie sich mehr und mehr von einer Konferenzserie zu einer permanenten Organisation mit eigenem Sekretariat. Sie wurde 1994 mit Wirkung ab 1.1.1995 in Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) umbenannt. Die OSZE mit ihren 55 Mitgliedern zwischen Kanada und Kasachstan war aber kein geeigneter Rahmen für die Integration insbesondere Ostmitteleuropas.
1. Desintegration und Reintegration Ostmitteleuropas
Dabei war für die Länder der Region zunächst nur klar, dass sie die alten Ostblockorganisationen verlassen und auflösen wollten. In rascher Folge beschlossen sie am 28.6.1991 in Budapest die Auflösung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und am 1.7.1991 in Prag das Ende des Warschauer Pakts. Spätestens damit entstand ein Vakuum an regional governance im Raum zwischen der Sowjetunion (oder ab 21.12.91 der GUS) und der EG, das nur von der KSZE/OSZE gefüllt wurde. Die meisten Länder Ostmitteleuropas wollten diesen Zustand baldmöglichst durch Beitritt zur EU und zur NATO beenden, die für sie in sicherheitspolitischer bzw. wirtschaftlicher Hinsicht den Westen und die Rückkehr nach Europa verkörperten. Zunächst traten die Länder Ostmitteleuropas, soweit sie es nicht - wie etwa Rumänien und Ungarn - schon früher getan hatten, der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der neu gegründeten EBRD, dem GATT und später der Welthandelsorganisation (WTO) bei. Die schnelleren Reformer Polen, Ungarn und Tschechien wurden 1995/96 Mitglieder der OECD, die Slowakei folgte 2000. Mit dem Übergang zur Demokratie wurden auch alle Länder in den Europarat aufgenommen. Ostmitteleuropa bezahlte einen hohen Preis für die abrupte Desintegration. Der regionale Handel, insbesondere mit der Sowjetunion, brach zusammen, was maßgeblich zur schweren Rezession der ersten Transformationsphase beitrug. Aber alternative regionale Arrangements (z.B. eine Zahlungsunion), wie sie von vielen Experten vorgeschlagen wurden, stießen auf wenig Gegenliebe. Am ehesten schien noch das im Februar 1991 gegründete Visegrad-Dreieck (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei) eine gewisse Kohärenz aufzuweisen, die alsbald durch die Spaltung der CSFR einer deutlichen Belastungsprobe unterworfen wurde (Bunce 1997). Aus der Visegrad-Kooperation ergab sich dann 1992 die Zentraleuropäische Freihandelszone (CEFTA), der sich später weitere Länder Südoststeuropas (Slowenien, Bulgarien, Rumänien) anschlossen. Aber diese regionale Ko- [Seite der Druckausg.: 17] operation stand immer im Zeichen jener Strategie, auf die sich fast alle Länder frühzeitig fixiert hatten: die Integration in die EG/EU (Bunce 1997: 251-265). Der Wunsch nach Vollmitgliedschaft in der EU basierte dabei auf weitgehender Unkenntnis der EU und der zu erwartenden Wirkungen auf die Beitrittsländer. Weder die Einengung der gerade gewonnenen Souveränität noch der strategischen Optionen zur wirtschaftlichen Modernisierung durch eine EU-Mitgliedschaft wurden systematisch diskutiert. Doch bot die EU-Integration auch eine Alternative zur einseitigen Bindung an das nächste und wichtigste EU-Mitglied, Deutschland. Aber der Mangel an regionaler Kooperation verstärkte die gewaltige Asymmetrie zwischen den Beitrittskandidaten und dem Giganten EU, der nach der EFTA-Erweiterung von 1994/95 noch mächtiger geworden war. Die deutsche Außenpolitik hatte ihrerseits ebenfalls keine klaren Konzepte anzubieten. Sie wollte jedoch einen gefährlichen Bilateralismus vermeiden (Katzenstein 1997a: 3). Ein gerade wiedervereinigter deutscher Hegemon, der Ostmitteleuropa zu seinem Hinterhof (Eisfeld 1993; Kiss 1994: 24-25) machen würde, hätte nicht nur Ressentiments der östlichen, sondern auch der westlichen Nachbarn geweckt. Es galt, eine neue Mittellage politisch zu vermeiden, die geographisch unvermeidlich war, und den Erfolg der Westintegration im Osten zu wiederholen, ohne dabei ihrerseits den Erfolg dieser Westintegration zu gefährden, indem man die EU überlasten und Konflikte mit wichtigen EU-Partnern auslösen würde. Die traumatischen Erfahrungen der deutschen Einigung legten auch eine Aufteilung der zu erwartenden Lasten bei der Stabilisierung der Nachbarregion nahe. Daher unterstützte die Bundesrepublik alle multilateralen, insbesondere europäischen Anstrengungen zur Einbindung und Stabilisierung Ostmitteleuropas.
2. Die Nato-Osterweiterung
Die Aufnahme in die NATO war und ist für die Länder Ostmitteleuropas ein wesentlicher Schritt, dem ungeliebten Zwischeneuropa zwischen Westeuropa und der Sowjetunion bzw. der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zu entkommen. Für die siegreichen Oppositionseliten war das atlantische Bündnis der ultimative Schutz vor einer tatsächlichen oder vermeintlichen russischen Bedrohung und wichtiges Symbol der Zugehörigkeit zum Westen. Russland dagegen hielt dieses Schutzbedürfnis für überholt und betrachtete seinerseits die NATO-Osterweiterung als Bedrohung. Die deutsche Außenpolitik sah sich daher in einem Dilemma zwischen der Wahrung der guten Beziehungen zu Ostmitteleuropa und zu Russland. Die letztliche Entscheidung lag jedoch bei den USA, die auch in den Augen der NATO-Kandidaten als einzige wirklich einen Schutz vor einer möglichen russischen Bedrohung boten. Aber auch für die USA war diese Entscheidung nicht einfach, da sie ebenfalls eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland vermeiden wollten. Die NATO versuchte daher zunächst eine Reihe von Zwischenlösungen in Gestalt des NATO-Kooperationsrates (1991), der Partnerschaft für den Frieden (1994) und dem Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (1997). Auf dem NATO-Gipfel in Madrid beschloss die Allianz nach mehrjähriger Prüfung aller ostmitteleuropäischen Kandidaten die Aufnahme von Polen, Ungarn und Tschechien für das Jahr 1999, dem 50. Jahrestag der NATO. Gleichzeitig versuchte die NATO, Russland durch die NATO-Rußland-Gründungsakte zu versöhnen. Die gerade neu aufgenommenen Mitglieder hatten sich dann 1999 an der ersten NATO-Militäraktion gegen Jugoslawien zu beteiligen. Daneben bildete die Westeuropäische Union (WEU) ein weiteres Element der neuen sicherheitspolitischen Architektur Europas. Die ostmitteleuropäischen Länder gehören ihr seit 1994 (Kirchberg) als assoziierte Partner ein Status, der zu diesem Zweck neu ge- [Seite der Druckausg.: 18] schaffen wurde - an. Die drei NATO-Mitglieder wurden 1999 assoziierte Mitglieder. Da die WEU spätestens seit dem Vertrag von Amsterdam immer enger mit der EU und deren sicherheits- und verteidigungspolitischer Komponente verschmilzt, ergeben sich eine Reihe von Koordinationsaufgaben, da auch die Nicht-EU-Mitglieder in die Krisenbewältigung einbezogen werden sollen (EU-Beschluss auf dem Gipfel von Helsinki). Gerade in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat Deutschland ein fundamentales Interesse an einer multilateralen Architektur in Europa. Seine Sicherheit wird gestärkt, wenn es von Verbündeten umgeben ist. Ebenso sinkt das Risiko, von den Nachbarn als dominante Zentralmacht wahrgenommen zu werden.
3. Die Beziehungen zwischen der EG/EU und Ostmitteleuropa
Mit starker deutscher Unterstützung, ja auf deutsche Initiative hin entwickelte die EG (ab 1993 die EU) frühzeitig ihr Beziehungsnetz zu den Nachbarländern Ostmitteleuropas (Katzenstein 1997b: 26-29). In manchen Bereichen, etwa der Außenhandelspolitik, lag die Kompetenz ohnehin bei ihr. Unklar war aber zunächst, welche Form die Beziehungen zwischen der EG und dem neuen Ostmitteleuropa annehmen sollte. Vor einer schnellen Erweiterung schreckten fast alle Mitgliedstaaten wenn auch aus unterschiedlichen Gründen zurück. Deutschland wollte ebenfalls die so erfolgreiche Westintegration durch eine voreilige und unverdauliche Osterweiterung gefährden. Nicht zuletzt war die EG selbst in einer Phase schwerwiegender Veränderungen, nämlich der Norderweiterung und der Wirtschafts- und Währungsunion, die als Schritt zur Einbindung des größeren Deutschland indirekt ebenfalls ein Ergebnis des Umbruchs in Mittel- und Osteuropa war (Deubner/Kramer 1994). Und es gab kein Modell der Außenbeziehungen, das dieser spezifischen Herausforderung der Integration einer großen Gruppe geographisch naher Länder, die einen komplexen Transformationsprozess vor sich haben und potentiell Mitglieder der EU sind, angemessen gewesen wäre. So griff man zunächst auf altbewährte Muster zurück: die Assoziationsabkommen, mit denen die EU schon ihre Beziehungen zu Südeuropa, zu vielen Mittelmeersüdanrainern sowie Entwicklungsländern gestaltet hatte. Ende 1991 unterzeichnen Ungarn, Polen, und die CSFR Assoziationsabkommen mit der EG. Diese Verträge lösten die nicht lange davor, teils noch im Zuge der Perestroika abgeschlossenen Handels- und Kooperationsabkommen ab (mit Ungarn 1988, Tschechoslowakei 1989/90 Bulgarien und Rumänien 1990). Weitere Assoziationsabkommen folgten 1993 (als Ersatz für das mit der CSFR) mit Tschechien und der Slowakei, sowie mit Bulgarien und Rumänien. Die baltischen Länder schlossen zunächst Handels- und Kooperationsabkommen ab, wurden aber 1995 ebenfalls assoziiert. Das Grundmuster folgte früheren Assoziationsabkommen: Den Kern bildete die Handelsliberalisierung, die asymmetrisch erfolgen sollte, nämlich langsamer bei den ostmitteleuropäischen Ländern, schneller bei der EU, allerdings mit wichtigen Ausnahmen bei sensiblen Gütern wie Agrarprodukte, Stahl, Textil, etc.. Die EU sagte Hilfe bei der Transformation zu (PHARE-Programm). Der Politikdialog zwischen der EU und den assoziierten Mitgliedern sollten in strukturierter Form, im Rahmen einer Reihe von neuen Organen (z.B. Assoziationsrat) und regelmäßigen Treffen gepflegt werden. Der entscheidende Unterschied zu anderen Assoziationsabkommen lag allerdings in der Beitrittsperspektive, die auf Druck der ostmitteleuropäischen Seite in die Präambel aufgenommen wurde und den neuen Abkommen den Namen Europaabkommen verlieh. Sie blieb aber zeitlich unbestimmt und erinnerte zunächst an eine ähnlich vage Zusage im Assoziationsabkommen mit der Türkei. [Seite der Druckausg.: 19] Die meisten Assoziierten ließen aber keinen Zweifel daran, dass für sie der EU-Beitritt ein dringlicheres Ziel war. Die EU-Mitglieder, die an gutem Einvernehmen interessiert waren, allen voran die deutsche Regierung, beeilten sich mit entsprechenden Zusagen und Versprechungen. Allerdings formulierte der Rat in Kopenhagen (1993) dazu eine Reihe von Bedingungen. Ein Beitrittskandidat müsse ein demokratischer Rechtsstaat und eine dem Wettbewerb im Binnenmarkt gewachsene Marktwirtschaft sein, also im Grunde die Transformation erfolgreich abgeschlossen haben. Der Beitritt dürfe auch die Integrationsfähigkeit der EU nicht überfordern. Der EU-Gipfel von Essen (1994) beschloss, dass eine Assoziierung zum Beitritt bei Erfüllung der Kopenhagener Kriterien berechtige. Diese Dynamik blieb weitgehend erhalten. Zwischen 1994 und 1996 stellten alle assoziierten Länder Beitrittsanträge, die tschechische Regierung Klaus mit bezeichnender Europaskepsis Anfang 1996 als letztes der hier betrachteten Länder. Die Kandidaten bemühten sich, die gestellten Bedingungen zu erfüllen, indem sie ihre Gesetze entsprechend anpassten. Bis 1996 war dieser Prozess in Ostmitteleuropa auch von einer breiten Zustimmung der Bevölkerung getragen, die aber dann nachließ und in einigen Ländern zumindest zeitweise dazu führte, dass bei Umfragen keine Mehrheit für einen EU-Beitritt mehr vorhanden war. Offiziell und nach außen hielt man aber an der Entschlossenheit fest. Ähnlich verhielt sich die EU. Obwohl die Erweiterung in der Bevölkerung auf wenig Gegenliebe stieß und die Interessen einiger Mitgliedstaaten offensichtlich negativ tangierte, blieb die EU offiziell auf einem raschen Erweiterungskurs. Die deutsche Regierung unter Bundeskanzler Kohl mit ihrer starken europapolitischen Vision forderte diese Politik maßgeblich ein, sperrte sich aber gleichzeitig gegen notwendige Reformen, z.B. der Gemeinsamen Agrarpolitik (Bulmer/Jeffery/Paterson 2000: 107). 1995 bot ein Weißbuch den Kandidaten eine Orientierung zum Binnenmarkt, ab 1997 gab die Kommission ihre Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen ab, denen jährlich Fortschrittsberichte folgten. Auf dem Gipfel in Luxemburg (1997) beschloss die EU die Aufnahme der Verhandlungen mit einer ersten Gruppe von fünf Kandidaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien und Estland). Der Regierungswechsel in Bonn/Berlin 1998 änderte an der deutschen Politik trotz des angekündigten neuen Realismus, der vor allem bei einigen Kandidaten für Unruhe gesorgt hatte, wenig. Auf dem Gipfel von Berlin (März 1999) wurde die Agenda 2000 verabschiedet, die den finanziellen Rahmen für die Erweiterung abstecken sollte, aber schwierige Fragen wie die Reform der Agrar- und Strukturpolitik letztlich offen ließ (Janning/Giering 1997). Nicht zuletzt unter dem Eindruck des Kosovokonflikts beschloss der Gipfel von Helsinki (Dezember 1999) die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen auch mit den übrigen mittel- und osteuropäischen Kandidaten Lettland, Litauen, Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Mit dem Fortschritt der Beitrittsverhandlungen ließen sich die realen Interessenkonflikte immer weniger verdrängen. Die Beitrittskandidaten legten zahlreiche Wünsche für Ausnahme- und Übergangsregelungen vor. Auf Seiten der EU bestand vor allem Deutschland auf einer Übergangsfrist bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit, um einer befürchteten Zuwanderungswelle vorzubeugen. In der Agrar- und Strukturpolitik stehen noch Lösungen aus, die eine einheitliche Politik in einer erweiterten EU ermöglichen, die weder die Neumitglieder diskriminiert noch von den betroffenen Altmitgliedern (vor allem Frankreich bei der Agrarpolitik und Spanien bei der Regionalpolitik) abgelehnt wird. Dabei [Seite der Druckausg.: 20] steht der größte Beitragszahler Deutschland Kompromissen ablehnend gegenüber, die das Dilemma durch Überschreitung der bisherigen EU-Budgetgrenzen lösen wollen. Die vor allem institutionelle - Vorbereitung der EU selbst erwies sich beim Gipfel in Nizza (Dezember 2000) als ein extrem schwieriges Feld, das nur mangelhafte Kompromisse erlaubte. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002 |