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[Seite der Druckausg.: 8 (Fortsetzung)]



II. Umbruch, Einigung und Öffnung


Spätestens seit Beginn der 80er Jahre traten die wirtschaftlichen Schwächen der kommunistischen Planwirtschaft immer deutlicher hervor. Trotz enormer Investitionen und rücksichtlosem Umgang mit den natürlichen Ressourcen ließ das Wachstum nach und insbesondere die Versorgung mit Konsumgütern verschlechterte sich weiter. Gleichzeitig wurde klar, dass die notwendigen Reformen, die auch innerhalb der kommunistischen

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Apparate diskutiert wurden, nicht ohne massive politische Veränderungen möglich waren. Die Sowjetunion spielte dabei zunächst eine Vorreiterrolle. Unter dem neuen Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, leitete sie eine Politik der Transparenz und des Umbaus (Glasnost und Perestroika) ein. Auf rein wirtschaftlichem Gebiet hatte vor allem Ungarn frühzeitig mit Reformen in Richtung Dezentralisierung und außenwirtschaftliche Öffnung begonnen. Rumänien verband seinen außenpolitischen Sonderweg mit einer brutalen Spar- und Entschuldungspolitik, die jedes denkbare Anpassungsprogramm des IWF in den Schatten stellte.

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1. Der Umbruch in Ostmitteleuropa

Für die Länder Ostmitteleuropas war jedoch die außenpolitische Kursänderung der Sowjetunion, die dortigen kommunistischen Regime nicht mehr militärisch zu stützen, sondern eventuell auch einen Macht- und damit Systemwechsel zu tolerieren, entscheidend.

  • Die polnischen Wahlen vom Sommer 1989, die noch nicht völlig frei waren, offenbarten die Haltlosigkeit der Parteidiktaturen. Solidarnosc gewann fast alle der frei zu wählenden Sitze und konnte darauf die erste nicht-kommunistische Regierung bilden.

  • In Ungarn ließ die sozialistische Regierung 1989 oppositionelle Parteien zu und begann in Verhandlungen am Runden Tisch, um die friedliche Demokratisierung vorzubereiten. Ein definitiver Machtwechsel erfolgte erst nach den ersten freien Wahlen im März 1990.

  • In der Tschechoslowakei spitzte sich die Situation relativ spät zu, doch im November 1989 kam es auch hier zu einer „Samtenen Revolution„ in der die beiden Bürgerbewegungen „Bürgerforum„ in Tschechien und „Öffentlichkeit gegen Gewalt„ in der Slowakei de facto die Führung übernahmen, die in den Wahlen im Juni 1990 weitgehend bestätigt wurde.

  • In Rumänien wurde das Ceausescu-Regime zum Jahreswechsel 1989/90 gewaltsam gestürzt, doch die Macht fiel an reform-orientierte Teile der Kommunisten um Iliescu, dessen Front der Nationalen Rettung die ersten Wahlen 1990 gegen eine noch kaum organisierte Opposition überwältigend gewann.

  • In Bulgarien kam es nach massiven Demonstrationen und der Zulassung von Parteien und Vorbereitungen im Rahmen eines Runden Tisches zu Wahlen im Juni 1990, die die postkommunistische Partei gewann. (Agh 1998)

  • In den baltischen Ländern erstarkten nach den partiell freien Wahlen in der Sowjetunion 1989 die nationalen Kräfte, teils als Unabhängigkeitsbewegungen, teils als national gesinnte Kommunistische Parteien. Im März und April 1990 erklärten Litauen (11.3.), Estland (30.3.) und Lettland (4.4.) ihre Unabhängigkeit. Die Sowjetunion reagierte noch bis 1991 mit Repressionsmaßnahmen, die der Westen scharf kritisierte. Nach dem gescheiterten Putsch in der Sowjetunion vollzogen die westlichen Staaten die förmliche Anerkennung und nahmen diplomatische Beziehungen auf. Deutschland eröffnete seine drei Botschaften am 2.9.91.

  • In Jugoslawien scheiterte der letzte Parteikongress der Kommunisten im Januar 1990 mit dem Auszug der Slowenen, als ihre Reformvorschläge abgelehnt wurden. Die slowenische Teilpartei, die Liga der slowenischen Kommunisten, ließ die Bildung anderer Parteien zu und erlaubte freie Wahlen im März/April 1990, bei denen die nationalen Kräfte gewannen. Die reformierten und umbenannten ehemaligen Kommunisten gewannen aber noch 17% und stellten den Präsidenten (Milan Kucan). Das Parlament erklärte im Juli die Unabhängigkeit Sloweniens. Die offizielle Unabhängigkeitserklärung folgte zusammen mit Kroatien am 26. Juni 1991. Ihr folgte unmittelbar der kurze Krieg mit der jugoslawischen Zentralregie-

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    rung, den Slowenien für sich entscheiden konnte, der aber in Kroatien weiterging. Die Bundesregierung beschloss die diplomatische Anerkennung Sloweniens und Kroatiens noch im Dezember 1991 in einem Alleingang vor seinen westlichen Partnern, nachdem beide Staaten demokratische Verfassungen verabschiedet hatten, in denen auch die Minderheitenrechte abgesichert waren. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen folgte im Januar 1992 zusammen mit der offiziellen Anerkennung durch die übrige EU. Manche Kritiker, auch in der deutschen Opposition, sahen den vorherigen deutschen Alleingang als erstes Zeichen einer neuen nationalen Unbefangenheit, ja Rücksichtslosigkeit des vereinigten Deutschland.

Die Umgestaltung der Staatenwelt im östlichen Mitteleuropa war damit aber noch nicht abgeschlossen. Innerhalb der Tschechoslowakei nahmen die Spannungen zu – zumindest zwischen den slowakischen und tschechischen Eliten. Formelle Korrekturen wie die Änderung des Staatsnamen in Tschechoslowakische Föderative Republik (CSFR) am 20.4.1990 änderten daran wenig. Die beiden antikommunistischen Oppositionsbewegungen waren zerfallen und in den zweiten Wahlen Mitte 1992 siegte in der Slowakei die nationalpopulistische Bewegung für eine demokratische Slowakei (HZDS) von Vladimir Meciar und in der Tschechischen Teilrepublik die Demokratische Bürgerpartei (ODS) von Vaclav Klaus. Die beiden Führer hatten sich bezeichnender Weise gar nicht mehr um föderale Ämter beworben, sondern übernahmen die Ministerpräsidentschaft in ihren Republiken. Meciar, der mit dem Versprechen der Unabhängigkeit angetreten war, aber wohl eine konföderative Lösung vorgezogen oder doch akzeptiert hätte, konnte sich mit Klaus, der unnachgiebig auf Föderation oder Trennung bestand, nur auf die „Samtene Scheidung„ einigen. Der Makel der nationalistischen Spaltungspolitik blieb aber vor allem an der slowakischen Regierung haften. Trotz zahlreicher Bedenken und Kritik von innen und außen wurden die beiden Staaten zum 1.1. 1993 formell unabhängig. Deutschlands am 4.10.1990 eröffnetes Generalkonsulat in Bratislava wurde zur Botschaft.

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2. Das wiedervereinigte Deutschland und seine Nachbarn

Die für Deutschland unmittelbar wichtigste Auswirkung des Umbruchs war der Fall der Mauer. Er verdankte sich nicht zuletzt der Entscheidung der ungarischen Regierung, ihre Grenze nach Österreich am 10./11.9.1989 für DDR-Bürger zu öffnen. Auch über die Tschechoslowakei gelang es DDR-Bürgern, die sich in die Deutsche Botschaft in Prag geflüchtet hatten, nach schwierigen Verhandlungen in die BRD auszureisen. Gleichzeitig nahm die öffentliche Kritik im Innern der DDR immer weiter zu. Nach dem Fall der Mauer am 13.11.89 setzte eine Massenflucht nach Westen ein, die ein wesentliches Motiv für die Planung zunächst einer Wirtschafts- und Währungsunion und dann der Vereinigung war. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Einigung und des anschließenden „Aufbaus Ost„ (Migration, gewaltige Transferleistungen) dürften die deutsche Wahrnehmung der Risiken der Transformationsprozesse in Ostmitteleuropa entscheidend geprägt haben (Tichy 1993: 108).

Die außenpolitische Absicherung der Vereinigung bedurfte einer gewaltigen diplomatischen Anstrengung, bei der die Beziehungen zu den Ländern Ostmitteleuropas (außerhalb der Sowjetunion) zwar nur eine Nebenrolle, aber eine relativ wichtige spielten. Am wichtigsten war die Klärung der Ostgrenze mit Polen, die sowohl im 2+4-Vertrag vom September 1990 als auch im deutsch-polnischen Grenzvertrag vom November 1990 erfolgte. Der Vorlauf war nicht ganz unproblematisch, da trotz der Verträge mit der DDR (1950) und mit der BRD (1970/72) eine endgültige friedensvertragliche Regelung noch

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offen war. Noch 1990 wies der damalige Finanzminister Theo Waigel (CSU) darauf hin, dass das Deutsche Reich völkerrechtlich noch in den Grenzen von 1937 fortbestünde (Gumnersdsiri 1992: 55). Letztlich setzte sich aber das doppelte Interesse an der polnischen Zustimmung zur Wiedervereinigung und an einem guten Verhältnis zum postkommunistischen Polen durch. Dieses Verhältnis wurde dann durch den Vertrag über „gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit„, die Gründung des deutsch-polnischen Jugendwerks und die Gründung einer deutsch-polnischen Regierungskommission für regionale und grenznahe Zusammenarbeit im Juni 1991 weiter gefestigt. Das schließt gelegentlichen Druck der Vertriebenenverbände – auch im Kontext des EU-Beitritts Polens - nicht aus.

Aber auch mit den übrigen postkommunistischen Staaten gab es Klärungsbedarf, vor allem mit der Tschechoslowakei, dem einzigen anderen unmittelbaren Nachbarn. So mussten alle völkerrechtlichen Verträge der DDR gemäß Art. 12 des Einigungsvertrages überprüft und ggf. gelöscht werden. Naturgemäß hatten gerade die kommunistischen Länder zahlreiche Abkommen mit der DDR. So erloschen nach entsprechenden mehrjährigen Konsultationen mit Polen 114 Bulgarien 65, mit Rumänien 50, mit der Tschechoslowakei 89 und mit Ungarn 86 Verträge (AA 1993: 446-449). In der Außenhandelspolitik erbat sich Deutschland von der EU Ausnahmeregeln für Importe aus Mittel- und Osteuropa in die ehemalige DDR (Anderson 1997: 92-94). Entsprechend veränderten sich die Außenbeziehungen. Deutschland eröffnete zwischen dem 3.10.1990 und Ende 1993 34 neue Auslandsvertretungen, davon 28 in Mittel- und Osteuropa, einschl. Kaukasus und Zentralasien (AA 1993: 445). Schließlich wurde auch die Verlegung der Hauptstadt und des Parlaments- und Regierungssitzes von Bonn nach Berlin als eine Hinwendung Deutschlands nach Ostmitteleuropa gesehen.

Kompliziert gestalteten sich die Beziehungen zur Tschechoslowakei, dem einzigen Nachbarn beider deutscher Staaten. Alsbald zeigte sich, dass mit dem Ende des ideologisch geprägten Ost-West-Konflikts traditionell nationale Interessen (z.B. Minderheiten, Sprache) im Sinne einer „Realpolitisierung„ (Pradetto/Alamier 1997:54) wieder stärker in den Vordergrund traten. Im Falle des deutsch-tschechoslowakischen Verhältnisses belastete vor allem die sudetendeutsche Frage die Entwicklung der freundschaftlichen Beziehungen. Dabei hatte die Tschechoslowakei auf die Klärung offener Fragen vor der Vereinigung im Zuge des 2+4-Prozesses verzichtet. Der gerade neu gewählte tschechoslowakische Präsident Vaclav Havel hatte gleich mutige Zeichen gesetzt (Hauner 1993: 252-254), die ihm in seinem eigenen Land nicht Zustimmung einbrachten (Jerabek/Zich 1997: 186). Er hatte als Ziele seines ersten Auslandsbesuches am 2.1.90 München, den Ort des infamen Abkommens von 1937, und (Ost-) Berlin gewählt. Havel stellte sich offen zu der schwierigen Vergangenheit und bezeichnete die Vertreibung als ungerecht. Allerdings lehnte auch er eine Entschädigung ab. Auf deutscher Seite war man umgekehrt nicht bereit, auf mögliche Rechtspositionen zu verzichten - seitens der betroffenen Sudetendeutschen ohnehin kaum und seitens der Bundesregierung nicht, schon um zu vermeiden, seinerseits Ansprüche gegenüber den Betroffenen honorieren zu müssen, auf die man – gewissermaßen in deren Namen – als Staat verzichtet hätte. Vor allem die konservative Regierung des Freistaats Bayern, wo ca. eine Million sudetendeutsche Vertriebene lebten, vertrat eine harte Position. Von tschechischer Seite wurden seinerseits Ansprüche von Opfern des Nationalsozialismus laut. Neue tschechische Entschädigungsgesetze der Jahre 1990 und 1991 schlossen die Wiedergutmachung vor dem 25.2.1948 begangenen Unrechts aus, was sowohl die Opfer des Nationalsozialismus (vor allem Juden) als auch der Vertreibung betraf (Bren 1994).

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Der am 27.2.92 in Kraft getretene deutsch-tschechoslowakische Vertrag über „gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit„ bestätigte einerseits das Abkommen von 1973, insbesondere bezüglich der Nichtigkeit des Münchener Abkommens von 1937, schloss beiderseits Gebietsansprüche aus, definierte die Rechte der jeweiligen Minderheiten, klammerte aber eventuelle Vermögensansprüche der Vertriebenen im begleitenden Briefwechsel aus. Die Beziehungen zwischen den beiden konservativen Regierungen in Bonn und Prag blieben eher kühl, nicht zuletzt wegen der offenen Entschädigungsfragen. Auch teilte Vaclav Klaus weder Helmut Kohls Begeisterung für die europäische Einigung noch die für die soziale Dimension der Marktwirtschaft. Erst nach weiteren Initiativen kam es Ende 1996/Anfang 1997 zur deutsch-tschechischen „Deklaration über gegenseitige Beziehungen und ihre zukünftige Entwicklung„ und zur Einrichtung eines Zukunftsfonds, aus dem insbesondere tschechische Opfer des Nationalsozialismus entschädigt wurden – wenn auch in mittelbarer Form. Im Frühjahr 1999 erklärte der tschechische Premier Zeman, dessen sozialdemokratische Partei (CSSD) die Regierung Klaus abgelöst hatte, die Benes-Dekrete für erloschen. Für die ebenfalls sozialdemokratisch geführte neue deutsche Regierung versicherte Bundeskanzler Schröder, die Regierung werde keine Vermögensforderungen gegen Tschechien unterstützen (Handl 2000: 239). Trotz der damit erreichten Entspannung bleibt die Vergangenheit ein latentes Problem in den deutsch-tschechischen Beziehungen, die ansonsten zunehmend unter dem Zeichen des künftigen EU-Beitritts stehen (vgl. unten III). Bilaterale Probleme drohen aber, die Beitrittsfrage zu instrumentalisieren, sei es, dass Vertriebene die Erfüllung ihrer Forderungen als Beitrittsvoraussetzung sehen, sei es, dass Sicherheitsbedenken bezüglich des gerade erst in Betrieb genommenen tschechischen Atomkraftwerks Temelin den Verhandlungsprozess beeinflussen können (allerdings noch stärker auf Druck Österreichs).

Gegenüber den übrigen Ländern Ostmitteleuropas bestand deutlich geringerer außenpolitischer Handlungsbedarf:

  • Mit Ungarn verband Deutschland ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit wegen der Grenzöffnung 1989, das sich auch in Finanzhilfen ausdrückte. Ein Nachbarschaftsvertrag wurde am 6. Februar 1992 abgeschlossen. Die deutsche Minderheit in Ungarn stellte kein Problem dar, weder für die ungarische Innenpolitik, noch für die bilateralen Beziehungen. Deutschland eröffnete ein Konsulat in ihrem Hauptsiedlungsgebiet, in Fünfkirchen (Pesc).

  • Gegenüber der Slowakei gestalteten sich die Beziehungen schwieriger, da die Regierung Meciar, die bis 1998 bis auf ein kurzes Interregnum durchgängig an der Macht war, eine umstrittene Politik gegenüber der ungarischen Minderheit und der Opposition in der Slowakei betrieb. Auch wenn die einzelnen Maßnahmen der slowakischen Regierung kaum offen internationalen Normen widersprachen, veranlassten Stil und Rhetorik Meciars die westliche Politik, die Beziehungen auf einem formellen Niveau einzufrieren und mehr oder weniger offen die Opposition zu unterstützen, die dann im Herbst 1998 Meciar stürzen konnte. Im Anschluss an den Machtwechsel in Bratislava intensivierten sich die Beziehungen spürbar.

  • In Rumänien lebte eine bedeutende deutsche Minderheit, die aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen seit längerem das Land verlassen wollte. Im Zeitraum zwischen 1950 und 1990 konnten insgesamt 353.470 ausreisen. Fast ein Drittel dieser Aussiedlung fand 1990 statt, als innerhalb dieses Jahres 111.150 Deutsche emigrierten. (AA 1991: 438; King 1993: 309). Am 21. April 1992 wurde ein bilateraler Vertrag abgeschlossen.

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  • Mit Bulgarien stellten sich kaum spezifische bilaterale Probleme. Ein Kooperations- und Partnerschaftsvertrag wurde am 9. 10.1991 abgeschlossen.

  • Gegenüber dem Baltikum befand sich die deutsche Politik in einem Dilemma. Aus vielerlei Gründen (sowjetische Katalysatorfunktion für den gesamten Umbruch in Mittel- und Osteuropa, sowjetische Rolle bei der deutschen Einigung, andauernde Truppenpräsenz) versuchte Deutschland eine Konfrontation mit der Sowjetunion zu vermeiden. Die baltischen Staaten wurden einerseits als Teil der UdSSR angesehen, hatten aber selbst schon die Unabhängigkeit erklärt. So erfolgte die diplomatische Anerkennung erst wenige Monate vor der Auflösung der Sowjetunion Ende 1992.

  • Die Zurückhaltung gegenüber Belgrad und dem sicht nicht freiwillig selbst auflösenden Jugoslawien war deutlich geringer. Slowenien und Kroatien wurden schon nach sechs Monaten anerkannt. Bilaterale Probleme hatte Deutschland– im Gegensatz etwa zu Italien - mit Slowenien kaum. Lediglich die Teilverantwortung Sloweniens für jugoslawische internationale Verpflichtungen (einschließlich) Schulden war zu klären.

Das Dilemma zwischen guten Beziehungen zur Sowjetunion (und später Russland) und der Unterstützung von Interessen der ostmitteleuropäischen Staaten, die mit den Interessen der UdSSR bzw. Russlands kollidierten, erforderte von der deutschen Außenpolitik häufig einen Balanceakt. Was sich während des Kalten Krieges als Abwägung zwischen den Bemühungen um Entspannung und Erleichterungen (vor allem im deutsch-deutschen Verhältnis) einerseits und der (eher moralischen als materiellen) Unterstützung antikommunistischer/antisowjetischer Kräfte darstellte, wurde nun zu einem außenpolitischen Zielkonflikt. Die deutsche Seite war und ist an guten Beziehungen sowohl zu Russland als auch zu den Ländern Ostmitteleuropas interessiert. Wenn die Interessen dieser beiden Partner konfligieren, kommt sie naturgemäß in ein Dilemma.

Unmittelbar nach dem Umbruch schien zunächst eine Interessenharmonie zu bestehen, da es ja gerade der Wandel in der sowjetischen Politik war, der den Umbruch in Ostmitteleuropa und die deutsche Einigung ermöglichte. Die neuen Regierungen in Ostmitteleuropa waren aber aus ihrer antikommunistischen Oppositionstradition sowie aus noch älteren nationalen Unabhängigkeitsinteressen eher antisowjetisch eingestellt. Das nützte Deutschland insofern, als es sie in die Arme des Westens trieb, brachte aber auch das Risiko von neuen Spannungen mit Russland mit sich – am stärksten in der Frage des NATO-Beitritts (vgl. unten). Solange in der Sowjetunion auch noch das Risiko einer Rückkehr zu einem orthodoxen kommunistischen Regime mit entsprechend aggressiverer außenpolitischer Orientierung bestand, gab es auch ein starkes westliches und deutsches Interesse, die Loslösung der ostmitteleuropäischen Länder aus dem sowjetischen Machtbereich abzusichern, sowohl außenpolitisch als auch durch Konsolidierung des Transformationsprozesses. Die Auflösung der Sowjetunion, die langsame, aber doch stetige Demokratisierung Russlands, sowie seine anhaltende Schwäche und die daraus resultierende außenpolitische Kompromissbereitschaft reduzierten die ostmitteleuropäischen Ängste und entschärften dieses Dilemma der deutschen Politik (Reiman 1999).

Umgekehrt befürchteten die ostmitteleuropäischen Länder, dass sie die sowjetische Vormacht gegen eine deutsche Hegemonie eintauschen würden (Willenz 1993: 62). Deutschland wurde durchaus mit Sorge betrachtet, zumal in seiner durch die Vereinigung gewachsenen Größe und Stärke, wobei letztere eher überschätzt wurde (Markovits / Reich 1998: 183-200). Die Integration in ein gemeinsames Europa bot sich für beide Seiten als beste Lösung für die Entschärfung dieser Ängste an.

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3. Die wirtschaftliche Öffnung und Transformationshilfe

Die soziale und ökonomische Stabilisierung Ostmitteleuropas war und ist aus mehreren Gründen eines der wichtigsten Ziele deutscher Politik, da eine dauerhafte Krisensituation in vielfacher Hinsicht negative Auswirkungen auf Deutschland hätte. Anhaltende Armut und Arbeitslosigkeit könnten die Unterstützung für den Reformprozess untergraben. Unmittelbar nach dem Umbruch wäre mit den Reformen auch die neue Unabhängigkeit von der Sowjetunion gefährdet gewesen. Am nachhaltigen Reformprozess in Richtung auf Demokratie und Marktwirtschaft ist Deutschland sowohl aus politischen (Frieden, Stabilität) wie wirtschaftlichen Gründen (Märkte, Investitionsmöglichkeiten) interessiert. Aber es geht nicht nur um die grundsätzliche ordnungspolitische Orientierung. Soziale Krisen drohen nicht zuletzt den Auswanderungsdruck zu verstärken. Schließlich ist es auch im deutschen wirtschaftlichen Interesse, wenn sich in Ostmitteleuropa kaufkräftige Märkte, insbesondere für Investitions- und hochwertigere Konsumgüter entwickeln.

Diese deutschen Ziele waren weitgehend mit denen der Nachbarn in Ostmitteleuropa komplementär. Die Reformer erwarteten vom Übergang zur Marktwirtschaft und von der außenwirtschaftlichen Öffnung eine rasche Verbesserung der Lage in ihren von der Planwirtschaft zerrütteten Ökonomien. Alle Länder Ostmitteleuropas liberalisierten daher alsbald ihre Außenwirtschaftsbeziehungen, indem sie die Staatshandelsmonopole auflösten, Handelsschranken abbauten und Auslandsinvestitionen zuließen und erleichterten (Dauderstädt 2000: 287-290). Umgekehrt senkte die für den Außenhandel zuständige Europäischen Gemeinschaft und damit auch Deutschland die bis 1989 hohen Handelsschranken gegen Importe aus Ostmitteleuropa (Katzenstein 1997b: 27-29), allerdings mit zahlreichen detailprotektionistischen Ausnahmen.

Aufgrund seiner geographischen Nähe und wirtschaftlichen Größe war Deutschland alsbald der stärkste Nutznießer der wirtschaftlichen Öffnung. Der Anteil der assoziierten Beitrittskandidaten am deutschen Außenhandel wuchs extrem rasch von ca. 4,9% 1993 auf 8,3% 2000 (Inotai 2001: 16-17). Deutschland baute umgekehrt seine Position als Wirtschaftspartner Ostmitteleuropas aus. Es ist in fast allen Ländern der mit Abstand wichtigste Handelspartner und größte Investor. Es nimmt auch die meisten Gastarbeiter auf. Auf wirtschaftlichem Gebiet realisierten sich somit die Erwartungen einer deutschen Dominanz (Katzenstein 1997b: 22f.; Jerabek/Zich 1997: 190). Dabei wies die Abhängigkeit Ostmitteleuropas von der deutschen Wirtschaft Licht- und Schattenseiten auf. Der Wiedervereinigungsboom 1989-92 erlaubte den Nachbarn hohe Exporte, die teilweise den Zusammenbruch des regionalen Handels innerhalb des ehemaligen Ostblocks kompensierten. Die geldpolitische Vollbremsung der Bundesbank und die anschließende Rezession verwandelte 1993 die Exportüberschüsse Ostmitteleuropas alsbald in Defizite, die sich als relativer Dauerzustand etablieren sollten. Andererseits tragen deutsche Investitionen vor allem in Tschechien und Ungarn spürbar zum Erfolg, vor allem bei den Exporten, bei.

Die Abhängigkeit ist asymmetrisch, aber nicht einseitig. In Deutschland befürchten Beschäftigte in von Verlagerung und Importkonkurrenz betroffenen Sektoren sowie in Branchen mit hohem Beschäftigungsanteil von Migranten und Pendlern (Bauindustrie, Landwirtschaft, Gastronomie – vor allem im grenznahen Raum) den Verlust von Arbeitsplätzen und Einkommenseinbußen. Viele Unternehmen betonen dagegen die Chancen, die sich aus der Einbeziehung von nahen Niedriglohnstandorten in die Arbeitsteilung ergeben, nicht zuletzt für die Sicherung verbliebener hochqualifizierter Jobs in Deutschland.

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Sofort nach dem Umbruch begann auch die deutsche Zusammenarbeit mit Mittel- und Osteuropa, vor allem mit Polen und der Sowjetunion. Aber auch das übrige Ostmitteleuropa erhielt deutsche Hilfe zum Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft (Davis/Dombrowski 1997). Die Hilfe erfolgte teils bilateral, teils multilateral über internationale Organisationen (Dauderstädt 1996:41):

  • Multilaterale Zusammenarbeit: So legte die EU 1989 das Hilfsprogramm PHARE (Poland Hungary Assistance for the Reconstruction/Restructuring of the Economy) auf, das rasch auch auf die übrigen Länder Ostmitteleuropas ausgedehnt wurde und bis heute Zuschüsse in Höhe von insgesamt mehreren Milliarden DM vergab (Dauderstädt 2000: 301). Die EG gewährte auch Zahlungsbilanzhilfen an die Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und die baltischen Staaten sowie Kredite der Europäischen Investitionsbank. Von all dem trägt Deutschland als wichtigster Beitragszahler der EG etwa 28%. Die Bundesrepublik beteiligte sich auch am Kapital der neu gegründeten Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE/EBRD) in London mit 1,7 Milliarden DM. Letztlich ist Deutschland indirekt auch an den Krediten der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds für ostmitteleuropäische Länder beteiligt.

  • Bilaterale Kredite: Sieht man vom Schuldenerlass für Polen ab, so lag der Löwenanteil der deutschen Hilfe jedoch im Bereich des Handels in Form von Krediten (Hermes-Ausfuhrgewährleistungen und Stundungen des Transferrubelsaldos der ehemaligen DDR) in Höhe von 25 Mrd. DM zwischen 1989 und 1993 (AA 1993: 456-457). Die Hilfe diente also im wesentlichen der Exportförderung und damit der Beschäftigungspolitik in Deutschland. Sie erhöhte die Verschuldung der Empfängerländer, erlaubt ihnen jedoch zusätzliche Importe über ihre Exportkapazität hinaus. Inwieweit damit dem Transformationsprozess gedient war, hängt im wesentlichen von der inländischen Verwendung der so gewonnenen Ressourcen ab.

  • Beratungshilfe: Die bilaterale Hilfe in Form von Zuschüssen und unentgeltlichen Leistungen hielt sich dagegen in eher bescheidenem Rahmen (1989-1993: 1,4 Milliarden DM). Sie wurde zunächst weitgehend außerhalb der traditionellen deutschen Organisationen der Zusammenarbeit, also des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung abgewickelt, das zunächst lediglich die Hilfe für Rumänien und Jugoslawien verwalten konnte, die schon vor dem Umbruch als Entwicklungsländer anerkannt waren. Statt dessen beteiligten sich eine ganze Reihe von Fachministerien unter Koordinierung des Auswärtigen Amtes und des Wirtschaftsministeriums, in dem ein Koordinator, der „Beauftragte der Bundesregierung für die Beratung in Osteuropa„ angesiedelt war. Von dieser Beratungshilfe in Höhe von – in der Mitte der 90er Jahre - ca. 300 Millionen DM pro Jahr flossen etwa 27% in die hier betrachteten Länder Ostmitteleuropas (Bundesministerium für Wirtschaft 1998). Kritiker sahen in der Beratung eine Geldverschwendung, von der nur die deutschen Berater profitierten (DER SPIEGEL 1994:18-21).
    Die Beratung umfasste primär wirtschaftliche Aktivitäten wie Privatisierung, rechtlicher und institutioneller Rahmen der Marktwirtschaft und Sektorpolitiken (z.B. Landwirtschaft). Mit der Vollendung der Transformation und ihrer Ablösung durch die Vorbereitung auf den EU-Beitritt wurden diese Programme in den fortgeschrittenen Beitrittsländern Ostmitteleuropas langsam zurückgefahren. Daneben trat eine (gesellschafts-)politische Zusammenarbeit, die auf die Konsolidierung der Demokratie und den Aufbau der Zivilgesellschaft abzielte und nicht zuletzt von den politischen Stiftungen mit Mitteln des Bundeshaushalts durchgeführt wurde. Die gesamte deutsche Beratungshilfe diente nicht nur der Unterstützung der Transformation als solche, sondern auch deren spezifische

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    Ausgestaltung nach deutschem „Muster„. Es war und ist im deutschen Interesse, dass die Fülle der ohnehin notwendigen Neuregelungen in den Transformationsländern nicht nur irgendeinem EU-Standard entsprechen, sondern möglichst deutschen Konzepten einer sozialen Marktwirtschaft nahe kommen. Dies erleichtert die Wirtschaftsbeziehungen, vor allem für Investoren, und verhindert eine schärfere Standortkonkurrenz.

Handel und Hilfe Deutschlands illustrieren , wie oben deutlich wurde, exemplarisch die Europäisierung der deutschen Politik. Umgekehrt ist die Reaktion Europas, also der EG/EU, von Deutschlands Hoffnungen und Sorgen, Interessen und Schwächen geprägt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002

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