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Der keltische Tiger: reiche Wirtschaft, arme Iren Die irische success story verdient nähere Beachtung. Ließen sich nämlich seine Erfolgsbedingungen verallgemeinern, so hätten die neuen, noch ärmeren Kandidaten aus Mittel- und Osteuropa ein Modell, an dem sie sich orientieren könnten. Irlands abhängiges Wachstum Irlands Wachstum lag zwar über Jahrzehnte über dem EU-Durchschnitt, doch nicht in auffälligem Umfang. Erst in den 90er Jahren nahm das Wachstum kräftig zu und lag um mehrere Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt. In diesem Zeitraum übertraf die Wachstumsdifferenz mit 4,6% deutlich die in der Literatur [Vgl. Robert J. Barro und Xavier Sala-I-Martin „Convergence across States and Regions" Brookings Papers on Economic Activity 1: 1991, S. 107-182.] häufig als Standardwert für Konvergenzprozesse erfassten 2%. Tabelle 3:Wachstumsraten Irlands und der EU im Vergleich
Quelle: EU Kommission Europäische Wirtschaft Bd.70, 2000 Was hat diesen plötzlichen Wachstumsschub bewirkt? Nur zwei der üblichen fünf Verdächtigen, von denen die ersten drei angebotsseitig wirken, die beiden letzten nachfrageseitig, erweisen sich im irischen Fall als tatsächlich wirkungsmächtig:
Fassen wir zusammen: Irland erhielt zwar wichtige Kapitalzuflüsse in Form von EU-Transfers und Direktinvestitionen, doch ausschlaggebend waren die Produktivitätszuwächse, die ihrerseits eine hohe Wettbewerbsfähigkeit der Exporte garantierten. Der Zustrom von weiteren Arbeitskräften (sogar wieder Immigration!) und höhere Ersparnis sind das Ergebnis und nicht die Voraussetzung des Booms. Die entscheidenden Produktivitätszuwächse resultieren sicher von den modernen Anlagen und Produktionsverfahren der ausländischen Tochterunternehmen und den guten sonstigen Voraussetzungen wie Infrastruktur und Bildung, aber gerade im wichtigen Sektor der multinationalen Unternehmen erzählen diese Erklärungsansätze nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte enthüllt sich bei genauerer Betrachtung der Produktivitätsentwicklung. Produktivität ist Wertschöpfung geteilt durch Faktoreinsatz. Was in Irland auffällt, ist der hohe Anteil der Wertschöpfung multinationaler Unternehmen an der gesamten volkswirtschaftlichen Wertschöpfung (=BIP). Er stieg von 15% im Jahr 1990 auf 23,8% 1995. Diese Wertschöpfung ist nicht unabhängig von ihrer Verteilung zu verstehen: Die Profite machen den Löwenanteil (etwa 60%) aus. Die Profitraten ausländischer, vor allem amerikanischer Tochterunternehmen sind ungewöhnlich hoch (Computer: 35%, Pharmazeutika: 50%; Getränke: 70%). Sie liegen höher als die Raten entsprechender amerikanischer Unternehmen anderswo oder irischer Unternehmen. Neben den niedrigen Löhnen, niedrigen Steuern und den staatlichen Investitionsbeihilfen ist transfer pricing eine Hauptursache dieses Phänomens. Dabei werden die hohen Profite nur teilweise in Irland erwirtschaftet, sondern die in Irland tätigen multinationalen Unternehmen lassen auch anderswo entstandene Gewinne in der irischen Steueroase anfallen. Bekannt wurde eine CocaCola-Essenzfabrik in Drogheda, deren Superarbeiter zwei Millionen Pfund Profit pro Kopf erwirtschafteten. [Vgl. Paul Sweeney, a.a.O., S.51] Etwa seit 1995 beschleunigt sich dieses System tendenziell selbst: Irland erhebt geringe Steuern auf Profite und Unternehmen insgesamt. Ausländische Unternehmen siedeln sich an und konzentrieren buchhalterisch ihre Wertschöpfung in Irland. Davon profitiert nicht zuletzt der irische Fiskus, der trotz niedriger Raten dank der wachsenden Basis steigende Einnahmen erzielt, die es ihm erlauben, die Steuersätze weiter zu senken, was wiederum Investoren anzieht (z.B. Finanzdienstleistungen in die Dubliner dock lands). Die Haushaltsüberschüsse werden aber auch für sonstige notwendige Verbesserungen der Investitionsbedingungen verwandt, z.B. Bildung, Infrastruktur. So entsteht ein irischer Tugendkreis allerdings auch auf Kosten anderer Länder mit höheren Steuersätzen. Schattenseiten einer unnachahmlichen Karriere Irlands spektakulärer Aufholprozess in den 90er Jahren hat dazu geführt, dass es heute zu den reichsten EU-Ländern zählt. Sein Prokopfeinkommen (2001: 117) hat den EU-Durchschnitt (100) bei weitem überschritten und liegt heute in der Spitzengruppe der EU. Nach EU-Angaben übertreffen nur noch Luxemburg (194), Dänemark (141) und Schweden (127) die grüne Insel, die Jahrzehnte zu den Armenhäusern Europas zählte und nun sogar Großbritannien und Deutschland überholt hat. [Alle Angaben Eurostat/EU-Kommission „Europäische Wirtschaft„ Nr.70, 2000, S. 186f.] Im Gegensatz zu den Mittelmeerländern entspricht (und entsprach auch schon in Zeiten sehr viel stärkerer Armut) die Kaufkraft in Irland ziemlich dem EU-Durchschnitt. Sein Modell eines abhängigen Wachstums hat jedoch weitere Merkwürdigkeiten produziert. Unterscheidet man vom irischen BIP das Bruttosozialprodukt (BSP), also das BIP abzüglich der in Irland erzielten Faktoreinkommen von Ausländern (vor allem Profite der ausländischen Investoren) und zuzüglich irischer Einkommen im Ausland, so liegt dieses um etwa ein Fünftel (!) unter dem BIP. Gemessen am BSP liegen die Wachstumsraten ebenfalls niedriger, aber immer noch hoch genug, um eine wenn auch langsamere Konvergenz mit der EU zu erreichen. Tabelle 4: Wachstum des BIP und BSP in Irland im Vergleich
Quelle: Eurostat; eigene Berechnungen Damit zählt Irland im BSP-Vergleich schon wieder zu den ärmeren Ländern in Europa, wie man in der folgenden Tabelle 5 sehen kann. Es hat zwar gemessen im BIP/Kopf - die meisten EU-Mitgliedstaaten überholt, ohne dass die irischen Staatsbürger mit ihrem BSP/Kopf den EU-Durchschnitt eingeholt haben. Denn Irland zahlt einen hohen Teil seines Volkseinkommens an Ausländer. Diesem Einkommenstransfer entspricht realwirtschaftlich ein Exportüberschuss. Tabelle 5: Vergleich des BSP der EU-Mitgliedstaaten 2000
Quelle: Eurostat; eigene Berechnungen All dies spiegelt sich auch in der Einkommensverteilung wider. Der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt ist in den letzten zwanzig Jahren von 77% auf 58% gesunken, obwohl in den 90er Jahren die Anzahl der Beschäftigten kräftig wuchs. Die Armutsentwicklung war zumindest bis 1994 eher bedenklich. Zwar sank der Prozentsatz derer, die weniger als 40% des Durchschnittseinkommens verdienen, leicht von 8% (1973) auf 7% (1994), aber der Anteil derer, die weniger als 60% verdienen, stieg von 25% auf 34%. In der Struktur der Armut stellten die Arbeitslosen mit 33% den größten Teil der armen Haushalte. Der gewaltige Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 1993, von damals 15,3% auf heute 4,3%, dürfte allerdings auch diese Armut verringert oder zumindest ihre Zusammensetzung verändert haben. Aber selbst 1997 lebten noch ein Fünftel der Bevölkerung mit einem Einkommen von weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens und die wichtigsten Armutsbekämpfungsorganisationen sahen noch erheblichen Handlungsbedarf. [Vgl. ders., a.a.O., S.170-180.] Auch im Vergleich zu anderen OECD-Ländern weist Irland eine besonders hohe Einkommensstreuung auf, die von 1987 bis 1994 noch zugenommen hat. [Vgl. Tim Callan und Brian Nolan „Income Inequality in Ireland in the 1980s and 1990s" in Frank Barry (ed.) „Understanding Ireland’s Economic Growth" Basingstoke/London 1999, S.176.] Schließlich haben auch die regionalen Disparitäten innerhalb Irlands zugenommen. [Vgl. Europäische Kommission „Einheit Europas, Solidarität der Völker, Vielfalt der Regionen. Zweiter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt – Statistischer Anhang„ Brüssel 2001, Tabelle A2, wonach die Standardabweichung des BIP/Kopf in KKS von 13,9 (1993) auf 17,3 (1998) anstieg.] © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000 |