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EU-Osterweiterung : eine komparative Bewertung der Fortschrittsberichte von zehn Kandidaten / Franz-Lothar Altmann. - [Electronic ed.]. - [Bonn], 2001. - 9 S. = 37b KB, Text . - (Politikinformation Osteuropa ; 87)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




Diesen Bericht bereitete der Autor für eine Vortragsveranstaltung des FES-Büros Prag im Herbst 2000 vor.

[Seite der Druckausg.: 1 = Inhaltsverz.]

[Seite der Druckausg.: 2]

1. Einleitung

Seit dem letzten Fortschrittsbericht vom Herbst 1999 haben sich einige Veränderungen im Verhältnis zwischen der EU-15 und den eine Mitgliedschaft beantragenden Ländern ergeben. Vorrangig ist hier vor allem der Beschluß des Gipfels von Helsinki zu nennen, der für sechs weitere Staaten zu der bisherigen Gruppe der ersten sechs (Estland, Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien und Zypern) die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beschlossen hatte. Somit laufen jetzt mit zwölf Ländern, das heißt mit den zehn mittelosteuropäischen Ländern, die die Mitgliedschaft beantragt haben, den sogenannten Luxemburger Fünf aus der ersten Gruppe sowie mit den Helsinki-Fünf Ländern der bisher zweiten Gruppe (Litauen, Lettland, Slowakei, Rumänien und Bulgarien) und zudem mit Zypern und Malta konkrete Beitrittsverhandlungen. Die Türkei, entsprechend den Helsinki-Beschlüssen dreizehnter Beitrittskandidat, erfüllt noch nicht die Voraussetzungen für einen Verhandlungsbeginn, die Staaten des sogenannten westlichen Balkan gelten lediglich als sogenannte „potentielle„ Bewerber. Für die zwölf Länder, mit denen nunmehr Beitrittsverhandlungen seit dem 31. März 1998 (Luxemburger Fünf plus Zypern) beziehungsweise dem 15. Februar 2000 (Helsinki-Fünf plus Malta) aufgenommen wurden, gilt nunmehr das sogenannte Regatta-Modell, nach dem jedes Land nach seinem Verdienst, das heißt nach seinem Fortschritt in den Verhandlungen mit dem jeweiligen Abschluß eines Mitgliedschaftsvertrages rechnen kann.

Der Fortschrittsbericht 2000 stellt nunmehr entsprechend den Kopenhagener Kriterien für alle dreizehn Länder, also auch für die Türkei, die Fortschritte jedes Bewerberlandes auf dem Weg zum Beitritt fest. Hierbei wird wieder nach der grundsätzlichen Dreiteilung in politische Kriterien, wirtschaftliche Kriterien und andere Verpflichtungen der Mitgliedschaft (insbesondere Übernahme des sogenannten Acquis Communautaire) unterschieden.

2. Politische Kriterien

In den Berichten für 1999 war die EU-Kommission bereits zu dem Schluß gekommen, dass alle Bewerberländer, die derzeit in Verhandlungen stehen (d.h. ausgenommen die Türkei), die politischen Kriterien erfüllen, wenn auch noch einige Fortschritte beim Schutz der Menschenrechte und der Minderheiten erzielt werden müßten. Hier wird im Bericht 2000 betont, dass in allen Ländern beträchtliche Anstrengungen unternommen wurden, besonders seien hinsichtlich der Minderheiten seit den letzten Jahresberichten positive Entwicklungen zu verzeichnen. Namentlich genannt wurden hier Estland und Lettland, die bei der Integration ausländischer Staatsbürger weitere Fortschritte erzielt hätten, ebenso bei der Umsetzung der OSZE-Empfehlungen in bezug auf die Staatsbürgerschaft und die Einbürgerung. In beiden Ländern sei das Sprachengesetz inzwischen internationalen Standards angeglichen worden. Ebenfalls positiv erwähnt wurde der Grundlagenvertrag zwischen Ungarn und der Slowakei, der die Rechte der ungarischen Minderheit in der Slowakei regelt. Allerdings wird im Bericht 2000 auch beklagt, dass die Roma nach wie vor umfangreichen Diskriminierungen und vielfältigen Schwierigkeiten in allen Bereichen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens ausgesetzt seien, obwohl in den meisten Ländern, die von diesem Problem betroffen sind, inzwischen Maßnahmen und Programme verabschiedet wurden, für die PHARE-Mittel und in einigen Fällen auch Mittel aus dem nationalen Haushalt bereitgestellt wurden. Der Ratsvorsitzende der EU hatte zudem im Juni 2000 in enger Zusammenarbeit mit der Kommission eine Konferenz in

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Lissabon einberufen, an der die Nichtregierungsorganisationen der Roma teilgenommen hatten.

Im allgemeinen Teil zum Schutz der Menschenrechte wurde nochmals auf das bereits im 1999er Bericht beklagte Problem der Waisenhäuser in Rumänien hingewiesen, wo Rumänien zwar mit Unterstützung von PHARE Maßnahmen ergriffen habe, sich die Lebensbedingungen von über 100.000 Kindern jedoch nicht verbessert hätten. Auch das Problem der rumänischen Straßenkinder wird nochmals speziell herausgehoben.

Als wachsendes Problem wird der Frauen- und Kinderhandel in bestimmten Bewerberländern, die zu Herkunfts-, Transit- und Bestimmungsländern geworden sind, angeführt. Auch der Mißbrauch internationaler Adoptionssysteme gebe Anlaß zur Besorgnis. Ebenfalls angemahnt wird im Bericht 2000, dass trotz Fortschritten beim gesetzlichen Schutz der Gleichbehandlung von Mann und Frau in den meisten Bewerberländern noch weitere Anstrengungen erforderlich seien, um die wirtschaftliche und soziale Gleichberechtigung der Frau durchzusetzen.

Zusätzlich zu diesen besonderen Ermahnungen werden im Bericht 2000 nochmals der schnellere Ausbau des Justizwesens und das nach wie vor ungelöste große Problem der Korruption angeführt, gleichzeitig wird aber für alle Verhandlungsländer festgestellt, dass sich die Lage hinsichtlich der Stärkung der demokratischen Einrichtungen, des Rechtsstaats und des Schutzes der Menschenrechte seit dem letzten Jahr verbessert habe und damit die politischen Kriterien von Kopenhagen grundsätzlich von allen zwölf Ländern erfüllt seien.

Eine Ausnahme stellt im politischen Teil des Berichts lediglich die Türkei dar, für die nach wie vor gelte, dass die politischen Kriterien von Kopenhagen nicht erfüllt seien. Es habe zwar seit dem letzten Jahr bedeutende Veränderungen ergeben. So habe die Türkei zwei wichtige Menschenrechtsübereinkommen unterzeichnet und eine öffentliche Debatte über die Bedingungen für den Beitritt der Türkei zur EU aufgenommen. Gleichzeitig zeigt sich die Kommission jedoch immer noch besorgt über die unzureichende Achtung der Menschenrechte und der Rechte der Minderheiten sowie über die verfassungsmäßig verankerte Rolle, die die Armee durch den nationalen Sicherheitsrat im politischen Leben spielt.

3. Wirtschaftliche Kriterien


3.1 Gesamtwirtschaftliche Entwicklung

Das Hauptgewicht der Beurteilung im Fortschrittsbericht 2000 liegt jedoch wieder im Bereich der wirtschaftlichen Kriterien, hier zeigen sich auch deutlichere Länderunterschiede in der Bewertung und Einstufung, die dann auf die Gesamtbewertung durchschlagen. Zunächst wird festgestellt, dass sich die Stärkung des Wachstums in der Weltwirtschaft, insbesondere in der Europäischen Union, besonders günstig für die Bewerberländer ausgewirkt habe. Man schätzt, dass das reale BIP-Wachstum in den zehn mittel- und osteuropäischen Ländern voraussichtlich bei knapp 4% liegen und für alle dreizehn Bewerberländer zusammengenommen knapp unter 5% betragen werde! Damit habe sich die allgemeine wirtschaftliche Leistung mit wenigen Ausnahmen (Rumänien) in allen Bewerberländern im Berichtszeitraum verbessert. Da aber gleichzeitig die EU-Länder ebenfalls eine Wachstumsbeschleunigung aufzeigten, konnten nicht alle Bewerberländer eine reale wirtschaftliche Konvergenz zum EU-

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Durchschnitt erreichen, und auch zwischen den Bewerberländern haben sich die Unterschiede wieder relativ vergrößert. Hinzu kommt, dass auch die Ungleichheiten in den Bewerberländern eher zunehmen, so dass man intensiveres Wachstum in den Hauptstadtregionen und den Grenzregionen zur EU und geringeres in den östlichen, weiter von der EU entfernt liegenden Regionen vorfindet.

Bei wieder einsetzendem bzw. verstärktem Wachstum im Jahr 2000 blieben nach Einschätzung der EU-Kommission die makroökonomischen Bedingungen in den meisten Ländern gesund, doch zeigen sich uneinheitliche Ergebnisse in den Bereichen Inflation, Leistungsbilanzdefizite und öffentliche Haushalte. Mit Ausnahme Rumäniens und der Türkei, wo die Inflationsraten 1999 bei 45,8% bzw. 64,9% lagen, blieb die Inflation im Durchschnitt unter 10% und damit unter Kontrolle. Relativ große Leistungsbilanzdefizite sind immer noch in den baltischen Ländern sowie Polen zu beobachten, die gesamtstaatlichen Haushaltssalden wurden im Berichtszeitraum zwar stabilisiert, es gebe aber in fast allen Bewerberländern noch Skepsis bezüglich der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen.

Nachdem die Privatisierung großer Unternehmen als wichtige Voraussetzung für eine kompetitive Marktwirtschaft angesehen wird, hat die Kommission in den Länderberichten hier besondere Aufmerksamkeit walten lassen. Sie stellt im Bericht 2000 fest, dass deutliche Fortschritte in Ungarn, der Tschechischen Republik, Estland und Bulgarien zu verzeichnen seien, in Polen jedoch vor allem die Umstrukturierung im Stahlsektor und in der Landwirtschaft noch am Anfang stehe und in Lettland die Fortschritte weniger überzeugend gewesen seien. Bei der Privatisierung der Banken wurden der Tschechischen Republik, Bulgarien, Lettland, Malta und der Slowakei große Fortschritte zugesprochen. Betont wurde allerdings nochmals, dass in einigen Ländern die Privatisierung das Entstehen einer neuen Wirtschaftselite begünstigt habe, die oft aus der alten Nomenklatura hervorgegangen sei. Dies führte zu der Forderung, den Privatisierungsprozeß noch transparenter zu gestalten!

Besorgt wird die Zunahme der Arbeitslosigkeit in den meisten Bewerberländern gesehen, obwohl dies in den meisten Fällen als Folge der wirtschaftlichen Umstrukturierung und des gleichzeitigen Wachstumseinbruchs aufgrund externer Krisen erwartet wurde. Relativ hoch stellt diese sich immer noch in Bulgarien, Lettland, Litauen, Polen und der Slowakei, zurückgegangen sei sie in Ungarn (auf 7%) und Slowenien (auf 7,6%), die niedrigsten Raten zeigten Zypern (3,6%) und Malta (5,3%). Erhöhte Flexibilität und Mobilität sei auf den Arbeitsmärkten erforderlich, um die Wachstumschancen zu verbessern.

Als erfreulich wurde der erneute Zuwachs der ausländischen Direktinvestitionen in die mittel- und osteuropäischen Bewerberländer bezeichnet. Hier waren die Vorreiter und damit erste Nutznießer die Slowakei, die Tschechische Republik und Bulgarien. Im Ergebnis steht damit jetzt Ungarn mit einem kumulierten pro-Kopf-Bestand an ausländischen Direktinvestitionen von 1.654 Euro zwar immer noch an erster Stelle, die Tschechische Republik habe jedoch mit 1.357 Euro deutlich aufgeholt. An dritter Stelle findet man Estland mit 1.052 Euro, außer Konkurrenz müssen jedoch die beiden Nicht-MOE-Länder Zypern (2.860 Euro) und Malta (3.465 Euro) gesehen werden.

Seitens der Europäischen Union wird verständlicherweise auch die Entwicklung des Handels der Bewerberländer mit der EU mit besonderer Aufmerksamkeit beachtet. Ohnehin ist die EU der mit Abstand wichtigste Handelspartner der dreizehn Bewerberländer, der Gesamtwert des Handels hat sich zwischen 1993 und 1999 auf 210 Milliarden Euro fast verdreifacht! Mit ei-

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nem nunmehrigen Anteil von 13,7% (1999) am gesamten Außenhandel sind diese Länder als Gruppe nunmehr der zweitwichtigste Handelspartner der EU nach den USA. Der hierbei seitens der EU gegenüber den Bewerberländern erzielte Handelsbilanzüberschuß hatte 1999 deutlich abgenommen, lag jedoch immer noch bei 25,8 Milliarden Euro. Davon stammten allerdings 45% aus dem Handel mit Polen und 20% aus der Türkei.

Bewertet man die Intensität der Handelsverflechtung der einzelnen Bewerberländer anhand der Prozentanteile ihres jeweiligen Exportes und Importes, so findet man Ungarn an erster Stelle, da dieses Land 76,2% seiner Ausfuhren in der EU absetzt und 64,4% seiner Importe aus der EU stammen. An zweiter Stelle ist Estland zu finden (Exporte 72,7%, Importe 65%), an dritter Stelle Polen (Exporte 70,5%, Importe 64,9%) und an vierter Stelle die Tschechische Republik mit 69,2% EU-Exporten und 64,0% EU-Importen.


3.2. Marktwirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit

Bei der Bewertung des wirtschaftlichen Kriteriums von Kopenhagen werden zwei Teilkriterien, das Bestehen einer funktionsfähigen Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten, herangezogen. Das erste Teilkriterium (funktionsfähige Marktwirtschaft) setzt voraus, dass Preise und Außenhandel liberalisiert sind und ein durchsetzbares Rechtssystem vorhanden ist. Hinzu kommen makroökonomische Stabilität, ein gut entwickelter Finanzsektor und das Fehler größerer Hemmnisse für den Markteintritt und –austritt.

Das zweite Kriterium (Wettbewerbsfähigkeit) ist erfüllt, wenn entsprechend dem ersten Teilkriterium eine funktionsfähige Marktwirtschaft besteht und zudem ausreichendes Human- und Sachkapital sowie eine angemessene Infrastruktur vorhanden sind. Es müssen angemessene Investitionen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Unternehmen stattfinden, der Zugang zur Außenfinanzierung muß vorhanden sein und die Unternehmen müssen erfolgreich sein in bezug auf Umstrukturierung und Innovation. Da das Endziel die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist, wo ein überaus wettbewerbsintensiver Markt vorzufinden ist, geht man davon aus, dass ein Zeichen für den Stand der Wettbewerbsfähigkeit die bereits vor dem endgültigen Beitritt erreichte Intensität der Integration, d.h. der Außenhandelsverflechtung mit der EU darstellt.


3.3. Zur Frage der vermeintlichen Rangordnung

In der Gesamtbeurteilung dieser beiden Teilkriterien des Wirtschaftskriteriums ergab sich nun im Fortschrittsbericht 2000 folgende Rangordnung: An erster Stelle wurden gleichauf Zypern und Malta gesetzt, die funktionierende Marktwirtschaften seien und in der Lage sein dürften, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der Union standzuhalten. An zweiter Stelle wurden Estland, Ungarn und Polen gesetzt, denen auch bescheinigt wurde, dass sie funktionierende Marktwirtschaften seien und das zweite Kriterium (Wettbewerbsfähigkeit) in naher Zukunft erfüllen dürften, sofern sie die derzeitigen Reformen weiter vorantreiben. Erst an dritter Stelle finden sich gemeinsam die Tschechische Republik und Slowenien, bei denen nicht festgestellt wurde, dass sie funktionierende Marktwirtschaften seien, sondern als solche angesehen werden können, wobei auch ihnen in bezug auf Wettbewerbsfähigkeit bescheinigt wurde, dass sie dieses Kriterium in naher Zukunft erfüllen dürften. Als vierte Gruppe finden

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sich Lettland, Litauen und die Slowakei, bei denen das Wettbewerbskriterium erst mittelfristig als erfüllbar angesehen wird. Bulgarien ist an fünfte Stelle gesetzt mit der Bemerkung, dass es keines der beiden Teilkriterien erfülle, jedoch deutliche Fortschritte im Hinblick auf dieses Ziel gemacht habe. Hiervon abgesetzt findet sich Rumänien, das im Hinblick auf die Erfüllung beider Kriterien nach wie vor nicht ausreichende Fortschritte verzeichnen könne. An siebter Stelle schließlich liegt die Türkei, die noch weitere Fortschritte in bezug auf das Funktionieren der Märkte erzielen müsse und ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern müsse.

Diese im Fortschrittsbericht 2000 vorgenommene Klassifizierung in sieben Gruppen ist nicht bei allen Erweiterungskandidaten auf Zustimmung gestoßen. Besonders scharf waren die Reaktionen in Tschechien, wo der EU-Kommission unstatthafte Stimmungsmache im laufenden Wahlkampf vorgeworfen wird. Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass man hierbei in der Tschechischen Republik sich lediglich auf die Formulierung in der Zusammenfassung der Zusammenfassungen der einzelnen Länderbericht stützt und nicht die eigentlichen Inhalte der Länderberichte gegenüberstellt. Liest man nämlich die Zusammenfassungen in den Länderberichten genauer und vergleicht diese, so ist ein Unterschied zwischen Tschechien einerseits und Estland, Polen und Ungarn nicht mehr feststellbar. Ob sich zudem zwischen der Formulierung „sind funktionierende Marktwirtschaften„ und „können als funktionierende Marktwirtschaften angesehen werden„ ein wirklich gravierender Unterschied darstellt, sollte ebenfalls bezweifelt werden. Nachdem im übrigen in der allgemeinen politischen und auch öffentlichen Diskussion in den EU-Ländern im Grunde genommen Slowenien als das Beitrittsland Nummer eins angesehen wird, sollte Tschechien die Zuordnung in dasselbe Boot wie Slowenien kein Problem bereiten. Interessanterweise wurde in Slowenien der Fortschrittsbericht durchaus positiv aufgenommen, was auf mehr Selbstvertrauen und auch vielleicht souveränere Einschätzung der relativen Unterschiede im Fortschrittsbericht hindeutet.

Das Beispiel Polen zeigt im übrigen auch, wie schnell sich innerhalb eines Jahres von Fortschrittsbericht zu Fortschrittsbericht die momentane Einstufung verändern kann, nachdem im letztjährigen Bericht das Land für seine Reformrückstände noch hart kritisiert worden war. Verständlicherweise hatte dementsprechend Polen auch erfreut auf seine jetzt vorgenommene Positionierung in der Spitzengruppe der zentraleuropäischen Beitrittskandidaten reagiert, Slowenien und Ungarn hatten den Fortschrittsbericht positiv aufgenommen, die Slowakei mit Gelassenheit, ja Befriedigung diesen zur Kenntnis genommen. Selbst der „Klassenletzte„ Rumänien reagierte zustimmend, wenn auch deutlich weniger euphorisch. Das einzige Land, das neben Tschechien ausgesprochen negativ, ja empört reagierte, war Bulgarien, das immer weniger geneigt zu sein scheint, sich in bezug auf die Beitrittsfähigkeit im gleichen Atemzug mit Rumänien als Zwilling nennen zu lassen. Regierungschef Kostov sprach von einer unverdienten und unfairen Zensur, da die Banken und 70% der Wirtschaftsaktivitäten bereits in private Hände gelegt seien und der Anteil der Subventionen weit unter den EU-Vergleichsgrößen liege sowie die Währung seit einigen Jahren so stabil wie die DM notiere.

Die in Tschechien geäußerte Kritik an der als ungerecht empfundenen Einstufung im Fortschrittsbericht 2000 sowie auch eigene Zweifel an der so dargestellten Rangfolge haben den Autor bewegt, im Vergleich hierzu noch einige weitere mögliche Kriterien für eine Einordnung der Beitrittsländer anzuführen. Bei diesen möglichen Kriterien handelt es sich zum ersten um die Frage, wie viele der insgesamt 31 Verhandlungskapitel mit dem jeweiligen Beitrittsland bereits geschlossen werden konnten, wobei bereits festgestellt werden muß, dass noch kein Land die schwierigen Kapitel Landwirtschaft, Personenfreizügigkeit, Regionalpolitik oder Umwelt abschließen konnte! Zum zweiten wird als Vergleichskriterium das Bruttoin-

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landsprodukt pro Kopf, gemessen am EU-Durchschnitt betrachtet, als drittes Unterscheidungskriterium wird der sogenannte Strukturkonvergenz-Indikator der Forschungsabteilung der Deutschen Bank vorgestellt, der insgesamt 16 Variable vom pro Kopf-BIP über Konjunktur- bis zu Strukturdaten beinhaltet. Als vierte Unterscheidungsmöglichkeit wird schließlich die Einschätzung durch die Bevölkerung der EU-15-Länder zitiert als Ergebnis der Frage, wieviel Prozent für den Eintritt des jeweiligen Bewerberlandes bei einer Befragung im April/Mai 2000 votierten.

Tab. 1: Anzahl der abgeschlossenen Kapitel, Stand Okt. 2000 (Gesamtzahl der abzuschließenden Kapitel: 31)

Zypern

16

Estland

14

Tschech. Rep.

13

Ungarn

13

Slowenien

12

Polen

11

Malta

10

Slowakei

9

Lettland

7

Litauen

7

Bulgarien

6

Rumänien

6



Tab. 2: Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, EU-Durchschnitt = 100, Stand 1998 (Eurostat)

Zypern

79

Slowenien

69

Tschech. Rep.

60

Ungarn

49

Slowakei

46

Polen

39

Estland

36

Litauen

31

Lettland

27

Rumänien

27

Bulgarien

23

Malta

?



Tab. 3: Strukturkonvergenz-Indikator der Deutschen Bank Research, Stand 2000 (= wirtschaftliche Annäherung an die EU) (DB Research: Monitor EU-Erweiterung, Nr. 1, Spt. 2000)

Slowenien

71,5

Tschech. Rep.

64,9

Ungarn

64,9

Estland

62,7

Polen

60,7

Slowakei

55,9

Lettland

53,9

Bulgarien

53,7

Litauen

45,2

Rumänien

44,0



Tab. 4: Umfrage unter EU-Bürgern: Wieviel Prozent der Befragten sind für den Beitritt des jeweiligen Antragslandes, Stand April/Mai 2000 (Eurobarometer)

Malta

50

Ungarn

46

Zypern

44

Polen

44

Tschech. Rep.

41

Slowakei

37

Bulgarien

36

Estland

36

Lettland

36

Litauen

35

Rumänien

34



Alle vier Tabellen verdeutlichen, wie gut die Tschechische Republik im Vergleich zu den übrigen Mitbewerbern dasteht. Vor allem in den ersten drei Tabellen findet sich Tschechien immer vor Ungarn und Polen, nur einmal ist Estland knapp vor Tschechien, und zwar bei der Anzahl der abgeschlossenen Verhandlungskapitel! Mit anderen Worten, es sollte seitens der tschechischen Politiker keine übertriebene und überzogene Reaktion sondern vielmehr eine souveräne Haltung angebracht sein.

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4. Wegskizze

Ein wichtiger Teil des Fortschrittsberichts 2000 wurde den Beitrittsverhandlungen und der weiteren sogenannten Wegskizze gewidmet. Wie bereits erwähnt, wurden am 31. März 1998 die Verhandlungen mit den Luxemburger Fünf (Ungarn, Polen, Estland, Tschechische Republik und Slowenien) und Zypern, und am 15. Februar 2000 mit den Helsinki-Fünf (Rumänien, Slowakei, Lettland, Litauen und Bulgarien) sowie Malta aufgenommen. Die ersten Verhandlungsrunden fanden am 10. November 1998 (erste Gruppe) sowie am 14. Juni 2000 (zweite Gruppe) statt. Für die Verhandlungen in den bilateralen Beitrittskonferenzen wurde der Besitzstand in 31 Kapitel aufgegliedert. Hierbei wurden in den Verhandlungen mit den ersten sechs Ländern 29 Kapitel geöffnet und davon 11-16 vorläufig abgeschlossen. Bis zum Jahresende 2000 können für die Länder der zweiten Gruppe bis zu 17 Kapitel geöffnet und zwischen 7-11 Kapitel vorläufig abgeschlossen werden.

Neu im diesjährigen Fortschrittsbericht ist nun, dass die Kommission eine Strategie vorgeschlagen hat, um eine intensivere Phase der Verhandlungen einzuleiten und insbesondere auf ihren Abschluß hin zu wirken. Die wesentlichen Inhalte dieser Strategie sind nunmehr, dass die Bewerber aufgefordert werden, die Substanzfragen aufzugreifen, bei denen seitens der Bewerber Übergangsmaßnahmen gefordert wurden. Bei der Prüfung dieser Forderungen wird zwischen annehmbaren, verhandlungsfähigen und unannehmbaren unterschieden, wobei bisher seitens der Bewerberländer mehr als 340 Forderungen für Übergangsmaßnahmen im Bereich der Landwirtschaft und über 170 Forderungen für die anderen Bereiche gestellt wurden.

Für die Erörterung dieser Fragen hat nunmehr die Kommission eine detaillierte „Wegskizze„ mit klaren zeitlichen Vorgaben für die Jahre 2001 und 2002 erarbeitet, bei der Prioritäten für die Verhandlungen in den nächsten drei Halbjahren festgelegt wurden. Dem Vorschlag zufolge sollten im ersten Halbjahr 2001 neun Kapitel aus den Bereichen Binnenmarkt (freier Warenverkehr, Dienstleistungsverkehr, Kapitalverkehr, Sozialpolitik, Umwelt u.a.) aufgegriffen werden. Im zweiten Halbjahr 2001 wolle man auf die vorläufige Schließung von weiteren neun Kapiteln insbesondere im Bereich Landwirtschaft, Energie, Justiz und Inneres, Steuern u.s.w. hinarbeiten, so dass für das erste Halbjahr 2002 die letzten sogenannten harten Brocken anstünden, das sind wohl übrig gebliebene Fragen aus der Landwirtschaft, die Regionalpolitik, Finanz- und Haushaltsbestimmungen, Institutionen und sonstiges.

Bis spätestens Juni 2002 könnte somit die Union mit den am weitesten fortgeschrittenen Bewerberländern in Verhandlungen über alle geforderten Übergangsmaßnahmen und andere offene Fragen eingetreten sein und im besten Falle auch Schließungen aller Kapitel durchgeführt haben. Dies würde auch dem Beschluß des Europäischen Rats von Helsinki im Dezember 1999 entsprechen, dass die Union, sofern die erforderlichen eigenen institutionellen Reformen abgeschlossen sind, in der Lage sein sollte, ab Ende 2002 neue Mitgliedsstaaten aufzunehmen, sofern diese nachgewiesen haben, dass Sie die Pflichten einer Mitgliedschaft auf sich nehmen können und den Verhandlungsprozeß zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht haben. Auch das Europäische Parlament hat in seiner Entschließung vom Oktober 2000 die Mitgliedsstaaten und die Bewerberländer aufgerufen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um noch vor den Europa-Wahlen 2004 dem Europa-Parlament die Zustimmung zu den ersten Beitrittsverträgen zu ermöglichen, damit diese Länder unter Umständen bereits an diesen Wahlen teilhaben könnten.

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5. Zum Fortschrittsbericht Tschechische Republik

Lassen Sie mich zum Schluß noch eine kurze Zusammenfassung dessen versuchen, was im Länderbericht Tschechische Republik in den beiden Kriterienbereichen politische Voraussetzungen und Wirtschaft besonders erwähnenswert erscheint.


5.1 Politische Kriterien

Grundsätzlich kann aus dem 132 Seiten starken Länderbericht Tschechische Republik zunächst konstatiert werden, dass die Tschechische Republik weiterhin die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt. Positiv erwähnt werden die wirksamere Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament sowie die Fortschritte bei der Festlegung des Rechtsrahmens für die Regionalverwaltung. Andererseits wird konstatiert, dass bei der Reform der öffentlichen Verwaltung keine nennenswerten Fortschritte erzielt wurden sowie dass wichtige Teile der Reform des Justizwesens noch nicht verabschiedet seien. Darüber hinaus wäre die Bekämpfung von Korruption und Wirtschaftskriminalität bisher unzureichend, Sorge bereiteten weiterhin die Überfüllung der Gefängnisse und der anhaltende Menschenschmuggel mit Frauen und Kindern. Anerkannt wurde hingegen, dass in bezug auf die Situation der Roma-Gemeinschaft erhebliche Anstrengungen unternommen seien, insbesondere im Bildungsbereich.


5.2 Wirtschaftliche Kriterien

Im Bereich des Wirtschaftskriteriums wird konstatiert, dass die Tschechische Republik als funktionierende Marktwirtschaft angesehen werden kann und in naher Zukunft dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften im Binnenmarkt der Union standhalten dürfte, sofern die Umsetzung der Strukturreform fortgesetzt und vollendet wird. Anerkannt wird die Verbesserung der makroökonomischen Stabilität und die Wiederaufnahme des wirtschaftlichen Wachstums. Ebenfalls werden die Fortschritte in der Privatisierung und Umstrukturierung der Banken anerkannt. Gleichfalls positiv wird die Beschleunigung der Rechtsangleichung, vor allem in Schlüsselbereichen des Binnenmarktes (freier Warenverkehr, freier Kapitalverkehr, Wettbewerbsrecht) anerkannt, lediglich die Frage der anonymen Bankkonten trübt hier das positive Bild. Gelobt werden auch die Fortschritte in den sektoralen Politiken, wobei die Umstrukturierung der Unternehmen und die beschleunigte Privatisierung erwähnt werden. Dass der Stahlsektor weiterhin die Ausnahme bildet, wird dabei ebenso erwähnt wie die Notwendigkeit weiterer Anstrengungen im Umweltbereich, die mangelnde Effizienz der Grenzpolizei und die Tatsache, dass bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität keine nennenswerten Fortschritte erzielt wurden. Zu den Kritikbereichen gehören auch die mangelnde Transparenz bei der Rechnungsführung der öffentlichen Haushalte sowie Verzögerungen bei der Verwaltungs- und Justizreform.

Alle diese Punkte waren auch in Tschechien bekannt, sie hatten aber dazu geführt, dass die Feststellung der EU-Kommission eben nicht vollständig befriedigend ausfiel sondern mit relativierenden Attributen versehen war. Es sollte jedoch nochmals betont werden, dass bei einem genauen Querlesen der einzelnen Länderberichte und dem Versuch eines Vergleichs eine Schlechterstellung der Tschechischen Republik nicht erkennbar ist, vielmehr die noch aufscheinenden Kritikpunkte eher als Anregung für die tschechischen Politiker aufgefaßt werden sollten.


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