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II. Hintergründe

4. USA: Tocqueville 1831 und 1997

Tocqueville 1831 ...

Die Idee der Zivilgesellschaft geht auf Alexis de Tocqueville zurück, der als französischer Politiker die amerikanische Demokratie unter dem Gesichtspunkt der französischen Zustände beschrieb, dessen Gedanken aber in den USA eine weitaus stärkere Wirkung entfalteten als in Frankreich. Tocquevilles Fragestellung lautete: Wie kann in einer demokratischen und egalitären Gesellschaft, in der die Bürger ihre privaten Interessen verfolgen, verhindert werden, daß ein neuer Despotismus entsteht? In einer aristokratischen Gesellschaft sind alle Mitglieder durch eine Fülle von Verpflichtungen und Beziehungen traditioneller Natur miteinander verbunden; in einer Demokratie dagegen, in der die Tradition nicht mehr zur Anleitung des politischen Handelns taugt, sind die Bürger als Gleiche voneinander isoliert; ihnen öffnen sich neue Wege des individuellen Aufstiegs und der Anhäufung von Reichtum, die ihnen vorher verschlossen waren, und die sie nun vollkommen in Anspruch nehmen. Die egalitäre Demokratie ist für den Despotismus besonders anfällig, weil auch der Despot daran interessiert ist, die Bürger voneinander zu isolieren und sie auf ihre privaten (d.h. wirtschaftlichen) Interessen festzulegen. Die häufigen Wechselfälle der französischen Geschichte nach der Revolution von 1789, die Revolutionen, Gegenrevolutionen, Putsche und Restaurationen zeigen, wie riskant und unsicher die politische Entwicklung in einer von der Last der Tradition befreiten Gesellschaft der „Gleichheit" sein kann.

Anders als der französischen ist es der amerikanischen Demokratie jedoch gelungen, die Anfälligkeit zum Despotismus zu überwinden, indem sie zwischen der bürgerlichen Gesellschaft im engeren Sinne (dem Markt) und dem Staat eine politische Gesellschaft legte, die unter anderem die lokale Selbstverwaltung, freiwillige Assoziationen jeder Art und die öffentliche Meinung umfaßt. Indem die Bürger auf der lokalen Ebene politisch handeln, lernen sie, daß sie aufeinander angewiesen sind. Die Väter der amerikanischen Verfassung waren weise genug, „...to infuse life into each portion of the territory in order to multiply to an infinite extent opportunities of acting in concert for all the members of the community and to make them constantly feel their mutual dependence" [Alexis de Tocqueville, Democracy in America, zit. aus http//:xroads.virginia.edu. Diese Page enthält den ungekürzten Originaltext ] . Auf der lokalen Ebene regeln die Bürger ihre Angelegenheiten selbst und lernen dabei nicht nur in Praxis, wie die Demokratie funktioniert, sondern entwickeln auch ein positives emotionales Verhältnis zur öffentlichen Betätigung: Sie finden „Geschmack an der Freiheit". Zur Regelung ihrer Angelegenheiten gründen sie auch über den lokalen Bereich hinaus eine Vielzahl von Assoziationen. Der Reichtum an zivilen Assoziationen war für Tocqueville die Essenz der amerikanischen Demokratie, ein Reichtum, an dem es in den europäischen Staaten mangelt. "Wherever at the head of some new undertaking you see the government in France, or a man of rank in England, in the United States you will be sure to find an association." [ebd.] Die politische Gesellschaft zwischen Staat und privater Wirtschaftstätigkeit wirkt sowohl der despotischen Verselbständigung des Staates entgegen als auch einem neuem Typus von Despotismus, der, wie Tocqueville fürchtete, aus der Eigendynamik des Marktes hervorgehen könnte.

... und 1997: „Bowling Alone"

Das politische Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft ist seit Tocqueville eng mit der Stärke des zivilgesellschaftlichen Engagements seiner Bürger verknüpft. Amerika konnte sich ei-

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nen schwachen Zentralstaat leisten, weil es über eine starke Zivilgesellschaft verfügte. [S. hierzu bereits Samuel Huntington, Political Order in Changing Societies, Yale University Press 1968] Die Zivilgesellschaft entlastet den Staat und stärkt gleichzeitig den sozialen und politischen Zusammenhalt. Das in den USA entwickelte civil society argument (Michael Walzer) besagt, daß es zwischen der Intensität zivilgesellschaftlicher Kooperation und der Stärke der Demokratie einen direkten und positiven Zusammenhang gibt. Zivilgesellschaftliche Kooperation schafft darüber hinaus eine Atmosphäre wechselseitigen Vertrauens, das als „soziales Kapital" auch ökonomisch wirksam wird. Je enger die kooperativen gesellschaftlichen Netzwerke sind, desto wahrscheinlicher ist es, daß auch die Wirtschaft gedeiht. Robert Putnam wies in einem Vergleich zwischen Städten der Emilia Romagna nach, daß die Anteilnahme an den gesellschaftlichen Angelegenheiten, ablesbar unter anderem an der Mitgliedschaft in Sportvereinen, Chören, Kooperativen, und kulturellen Vereinigungen, der Zeitungslektüre und der Wahlbeteiligung, positiv mit dem wirtschaftlichen Wohlstand korreliert. [Robert Putnam u.a., Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton University Press 1994]

Im ihrem Geburtsland dagegen schien es um die Zivilgesellschaft gegen Ende des 20. Jahrhunderts eher schlecht bestellt zu sein. In einem berühmten Aufsatz unter dem Titel Bowling Alone beklagte Putnam den Rückgang zivilgesellschaftlichen Engagements (sein Beispiel: Während die Zahl der Bowling-Spieler in den USA stieg, ging die Mitgliedschaft in Bowling-Vereinen zurück) und die negativen Folgen für die Vitalität der amerikanischen Demokratie. [ders., Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York 2000 ] Putnam führte das drohende Austrocknen der amerikanischen Zivilgesellschaft auf eine vereinzelnde Medienkultur (couch potatoe society) zurück. Die breite Debatte Tocqueville 1997, die Putnam auslöste, brachte jedoch auch andere Probleme des civil society-Arguments ans Licht. [Die Debatte um Putnams Thesen ist dokumentiert bei: http//:xroads.virginia.edu. ]

Eine eher sekundäre Frage ist die Messung zivilgesellschaftlichen Engagements; die formelle Mitgliedschaft in Vereinen muß nicht der einzige und unter Umständen auch nicht der wichtigste Gradmesser sein; es ist denkbar, daß sich eine wachsende Zahl von Bowling-Spielern zusammentut, etwa in der Nachbarschaft, ohne die formelle Mitgliedschaft in einem Bowling-Verein zu beantragen. Umgekehrt ist auch der Formwandel zivilgesellschaftlicher Assoziationen zu berücksichtigen: Viele Bewegungen mit einst starker lokaler Basis entwickelten sich zu professionell gesteuerten Großorganisationen, die ihre Mitglieder systematisch erfassen und ihre Vereinsaktivitäten nicht mehr in lokalen Clubs organisieren, sondern bürokratisch abwickeln. Die Mitgliedschaft in der - sagen wir: ÖTV - ist daher nicht notwendig zivilgesellschaftliches Engagement im Sinne Tocquevilles.

Ein weitaus gewichtigeres Problem lag darin, daß Putnam die Zivilgesellschaft derart breit und ohne einschränkende Qualifikationen faßte, daß das civil society-Argument an Überzeugungskraft verlor: Es ist fraglich, ob die zivile Assoziationen wir die National Rifle Association, geschweige die Milizen, Sekten, der Klu-Klux-Clan oder die Mafia einen positiven Beitrag zur demokratischen Kultur leisten. Insbesondere wenn starke zivilgesellschaftliche Assoziationen an zentralen sozialen, politischen oder ethnischen Konfliktlinien angesiedelt sind, können sie, wie Kritiker Putnams einwandten, anstatt die Demokratie zu stärken zum Bürgerkrieg führen. [S. Michael W. Foley und Bob Edwards, The Paradox of Civil Society, in: Journal of Democracy 7, Nr. 3 1996] Der Libanon und Nordirland wurden bereits erwähnt. Putnam selbst hatte das Problem gesehen: „Dense but segregated horizontal networks sustain cooperation within each group, but networks of civic engagement that cut across social cleavages nourish wider cooperation. . . . If horizontal networks of civic engagement help participants solve dilemmas of collective action, then the more horizontally

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structured an organization, the more it should foster institutional success in the broader community. Membership in horizontally ordered groups (like sports clubs, cooperatives, mutual aid societies, cultural associations, and voluntary unions) should be positively associated with good government" [Robert D. Putnam, Making Democracy Work, S. 153] . Putnam hatte allerdings nicht bemerkt, daß fast jede der von ihm in Italien analysierten Assoziationen mit einer von zwei Kräften verbunden war: der Kommunistischen Partei Italiens oder der Katholischen Kirche; die untersuchten Sportvereine, Kooperativen, Gesellschaften der gegenseitigen Hilfe, kulturellen Vereinigungen und ehrenamtlichen Verbände standen also nicht quer zu politisch-sozialen Konfliktlinien, sondern waren an der zentralen Konfliktlinie der italienischen Gesellschaft nach 1945 angesiedelt. Das civil society-Argument kommt damit in Bedrängnis: Entweder muß es sich vom automatischen Zusammenhang zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement und demokratischer Vitalität verabschieden oder zivilgesellschaftliche Aktivitäten müssen qualifiziert werden, und zwar ohne eine um fundamentale soziale, ethnische und politische Konflikte bereinigte Gesellschaft zu unterstellen. Welche Stärke könnte auch eine Zivilgesellschaft entfalten, die nicht auch und gerade an den großen Konfliktlinien der Gesellschaft stark wäre? Zweifellos war die amerikanische Bürgerrechtsbewegung gegen die Rassentrennung ein Inbegriff zivilgesellschaftlichen Engagements, man wird jedoch den Begriff der Zivilgesellschaft im oben skizzierten Sinne qualifizieren müssen, wenn man nicht den lokalen Widerstand der Weißen gegen die Aufhebung der Rassentrennung ebenfalls als im Prinzip gleichberechtigte zivilgesellschaftliche Aktivität bewerten will.

Auch der positive Zusammenhang zwischen der Stärke der Zivilgesellschaft und wirtschaftlicher Prosperität ist alles andere als zwingend. Korea erzielte unter der Herrschaft einer Militärdiktatur, die zivilgesellschaftliche Aktivitäten kaum zuließ, erstaunliche wirtschaftliche Erfolge, während Bangladesh - eines der am reichlichsten mit NGOs gesegneten Entwicklungsländer - wirtschaftlich Schlußlicht blieb. Auf der anderen Seite kann die Intensität zivilgesellschaftlichter Aktivitäten selber wirtschaftlich bedingt sein. Theda Skophol vermutet, daß die Schwächung der Zivilgesellschaft in den USA auch auf die soziale Polarisierung seit der Reagan-Regierung zurückgeführt werden muß. Einem working poor, der sich mit drei schlecht bezahlten Jobs über Wasser halten muß, bleibt weder Zeit noch Energie, um der Nachbarschaft unbezahlte Dienste anzubieten. Mindestens ebenso wichtig ist die (zum Teil erzwungene) zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen, deren Zeit und Spielraum für zivilgesellschaftliches Engagement eingeengt wurde (in den Parent Teacher Associations etwa, einem der größten zivilgesellschaftlichen Betätigungsfelder in den USA, spielten die Hausfrauen eine zentrale Rolle). [Theda Skophol, Unravelling from Above, in: The American Prospect Nr. 25, 1966] Zumindest zu einem gewissen Anteil kann die Zivilgesellschaft als Handlungsfeld einer gut situierten und sozial abgesicherten Mittelklasse angesehen werden. Der beamtete Lehrer wird eher zu zivilgesellschaftlichem Engagement neigen als der scheinselbständige Lastwagenfahrer.

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5. Westeuropa: Bürgerbewegungen und sozialer Zerfall

Koporatismus

In den westeuropäischen Demokratien spielte das civil society-Argument lange Zeit keine prominente Rolle. Vor allem in Deutschland wäre es problematisch gewesen, das durchaus reichhaltige Vereinsleben als Schule der Demokratie zu loben. Im Gegenteil standen derartige Formen zivilgesellschaftlichen Engagements eher im Geruch konservativer Vereinsmeierei, also der aufgeblasenen Bedeutungslosigkeit, und ein nicht unwesentlicher Teil des deutschen Vereinswesen hatte vor-

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demokratische Wurzeln: Die ungezählten Schützen- und Kriegervereine, freiwilligen Feuerwehren und studentischen Verbindungen retteten ein Stück Wilhelminismus in die Nachkriegsdemokratie. Die Weimarer Republik hatte ein besonders reiches zivilgesellschaftliches Leben aufgewiesen – was nicht nur den Nationalsozialismus nicht verhinderte, sondern es den Nationalsozialisten erleichterte, die Bevölkerung nach der Machtübernahme in gleichgeschalteten Assoziationen zu vereinnahmen. Die Gesellschaft in Deutschland hatte dem Nationalsozialismus wenig entgegenzusetzen gehabt, sie hatte die politischen Systemwechsel zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Demokratie nahezu unbeschadet und unverändert überstanden; daher wurde der Bruch mit der Vergangenheit zu einer im engen Sinne politischen, d.h. staatlichen Angelegenheit. Die Transformation des Staates stand am Anfang der Demokratie in Deutschland, während sich die Gesellschaft, so ließe sich zumindest behaupten, erst in den sechziger Jahren wirklich transformierte.

Die politischen Systeme in ganz Westeuropa orientieren sich stärker als in den USA an der Konfliktlinie Arbeit-Kapital. Die „Zivilisierung" dieses kapitalistischen Basiskonflikts in der Form institutionell geregelter Kampf- und Schlichtungsverfahren zwischen den Sozialpartnern und einer gemäßigten politischen Konkurrenz großer Volksparteien mit historischer „Klassen"-Basis, kann als eine der Leistungen der westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften gelten. Die größten Organisationen der sozialen Interessenvertretung, die Gewerkschaften, spielten immer die doppelte Rolle strategisch handelnder Akteure, deren Identität an den gesellschaftlichen Funktionsbereich „Arbeit" geknüpft war, und zivilgesellschaftlicher Rebellen, die sowohl die Themen als auch die Teilnehmergruppen und Partizipationsrechte in der Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital immer wieder neu zu definieren suchten. Für die Gewerkschaften war es allerdings weitaus plausibler, die Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt ihres Grundkonflikts zu betrachten als sie als harmonischen Kooperationszusammenhang zu idealisieren. Die institutionalisierte Regelung des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital hatte allerdings auch zur Folge, daß weite Bereiche dieses Konflikts unter Ausschluß der Öffentlichkeit geregelt wurden, unter Umgehung des Parlaments wie der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit in informellen Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern bzw. zwischen diesen und dem Staat. Korporative Strukturen und die Postulate der Demokratie standen damit nicht nur in einem Ergänzungs-, sondern auch in einem Spannungsverhältnis zueinander. Es war zumindest denkbar (und in einigen westeuropäischen Staaten wie Spanien und Portugal für viele Jahre lang Realität), daß korporative Arrangements jenseits demokratischer Meinungs- und Willensbildungsprozesse getroffen wurden.

Neue soziale Bewegungen

Zwei Entwicklungen allerdings verhalfen dem civil society-Argument auch in Westeuropa zu einer gewissen Prominenz. Die erste dieser Entwicklungen war in den siebziger Jahren das Aufkommen „neuer sozialer Bewegungen" und Bürgerinitiativen. Das Attribut „neu" wurde diesen Bewegungen und Initiativen deshalb zugesprochen, weil sie Themen aufgriffen und in die Öffentlichkeit trugen, die quer zum Konflikt Arbeit versus Kapital bzw. zur politischen Konkurrenz der Konservativen/Liberalen versus Sozialdemokratie standen. Die neuen sozialen Bewegungen und Initiativen waren gemäß der obigen Definition der zweiten Akteursgruppe zuzurechnen: Sie handelten nicht nur strategisch, indem sie Themen in die Öffentlichkeit brachten und auf das politische System einwirkten, um dieses zu neuen Entscheidungen (etwa in der Umweltpolitik) zu zwingen, sondern waren gleichzeitig bemüht, die politischen Kommunikationsbedingungen selber reflexiv zu verändern, die Öffentlichkeit um Themen und Teilnehmer zu erweitern, neue Handlungsstrategien und Aktionsformen zu entwickeln, Gegenöffentlichkeiten aufzubauen und Werte neu zu interpretieren. Ähnlich wie den Gewerkschaften in ihrem Kampf für die Mitbestimmung ging es den neuen

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sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen darum, den Geltungsbereich der Demokratie zu erweitern und sie auf diese Weise zu radikalisieren. Es ist kein Zufall, daß im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen auch die alten republikanischen Bürgertugenden wie Zivilcourage und die Kritik an der Entmündigung durch Bürokratien und Experten neu belebt wurden.

Obwohl es zwischen den neuen sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften und auch zu den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien beachtliche gemeinsame Schnittmengen gab, definierten sich erste zunächst in bewußter Abgrenzung sowohl zum korporativ-geregelten Konfliktmanagement der etablierten Sozialpartner als auch zur Reformpolitik der Sozialdemokratie. Von der Studentenbewegung übernehmen sie die provozierenden Aktionsformen, wiesen aber deren avantgardistischen Radikalismus ab. „Wer zivilen Ungehorsam übt", so Rödel, Dubiel und Frankenberg, „ist weder Revolutionär noch Avantgardist oder Partisan, sondern cives – ein Aktivbürger, der in der Begründung und Begrenzung des normverletzenden Protests, im Verzicht auf Gewalt und in der Inkaufnahme angemessener Sanktionen, die politische Gleichheit aller anerkennt". [Ulrich Rödel, Günter Frankenberg und Helmut Dubiel, Die demokratische Frage, 1989, S. 26] Doch diese Interpretation erfaßt die Dynamik der neuen sozialen Bewegungen nur zum Teil. Denn erstens entstanden mit diesen Bewegungen auch neue Fundamentalismen, das heißt auf ein höheres Wissen gestützte Überzeugungen, die der politischen Kommunikation entzogen waren, und in deren Namen auch Gewalt gerechtfertigt schien. Der Rückgriff auf ein „ökologisches Notwehrrecht" etwa, demzufolge der Bau eines Kernkraftwerks oder einer Startbahn als Angriff auf die physische Integrität interpretiert wird, der gewaltsame Verteidigungsmaßnahmen legitimiert, ist, da es der Verständigung den Boden entzieht, fundamentalistisch motiviert. Die neuen sozialen Bewegungen waren nicht davor gefeit, anstelle der alten und „zivilisierten" Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital oder und rechts und links neue fundamentale Konfliktlinien zu ziehen (zwischen Schützern und Zerstörern der Umwelt, Kriegsgegnern und Militaristen, Befürwortern und Gegnern der Frauenbefreiung, sexuellen Minderheiten und unterdrückenden Mehrheiten, ethnischen Minoritäten wie den Basken, Katalanen und Bretonen und den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften). Die in den Initiativen und Bewegungen gerade erstandene Zivilgesellschaft stand damit in der Gefahr, sich sofort in mehrere einander entgegengesetzte Fundamentalismen zu segregieren. Zweitens war die Beziehung vieler Bürgerbewegungen und Bürgerinitiativen zur politischen Öffentlichkeit nicht immer so beschaffen, daß das oft mit hoher Militanz verfochtene eigene (lokale) Interesse als verallgemeinerbar präsentiert werden konnte. Viele Bürgerinitiativen handelten bewußt unpolitisch und konzentrierten sich auf bestimmte, zum Teil singuläre lokale Probleme. Bürgerprotest richtete sich nicht nur gegen Kernkraftwerke, sondern auch gegen Asylbewerberheime, Windgeneratoren und Eisenbahntrassen. Das Sankt-Florians-Prinzip war diesen Bewegungen ebenso immanent wie die begrenzte Regelverletzung. Drittens schließlich fanden viele Bewegungen und Initiativen Eingang in das offizielle politische und korporative System: Die Partei der Grünen, Umweltverbände wie der BUND und eine Vielzahl von NGOs betraten den Weg, den die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie genommen hatten, und gerieten in ein Spannungsverhältnis zwischen zivilgesellschaftlichem Anspruch auf der einen und der Integration in realpolitische oder korporative Arrangements auf der anderen Seite. Ergebnis war eine Pluralisierung der institutionellen Landschaft.

Die Bewegungen und Initiativen der siebziger Jahre haben auch in Westeuropa bewirkt, daß der Begriff der „Zivilgesellschaft" nicht immer mit Zivilstreife gleichgesetzt wird. Diese Bewegungen und Initiativen sind der „aktivistischen Zumutung", der sie durch ihre demokratischen Verfassungen ausgesetzt sind, nachgekommen und haben - in wie immer engen Grenzen - verhindert, daß

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sich die politischen Entscheidungssysteme und Funktionskreisläufe gegen die Gesellschaft abdichteten.

Drohende Anomie

Die zweite Entwicklung, die dem civil society-Argument auch in Westeuropa eine neue Dringlichkeit verlieh, lag in der Wahrnehmung eines Zerfallsprozesses: Zunehmende soziale Ausgrenzung, wachsende Kriminalitätsraten insbesondere bei Jugendlichen, rechtsradikale Gewalt, die Renaissance ethnischer Konflikte, das Versagen der Sozialisationsagenturen Schule und Familie, sinkende Wahlbeteiligung und verschiedene Verdrossenheiten summieren sich zu einem generellen Syndrom des Niedergangs, der von rechts auf den Verfall traditioneller Werte (zugunsten eines übermäßigen emanzipatorischen Individualismus) oder von links auf den von der „Ellenbogengesellschaft" erzwungenen Egoismus zurückgeführt wurde. Die besorgte Prognose eines drohenden sozialen Zerfallsprozesses führt automatisch zu der Frage, was eine Gesellschaft, in der Chancen und Einkommen ungleich verteilt sind, überhaupt zusammenzuhalten vermag. [Die wichtigsten Ansätze in Deutschland finden sich in den beiden Bänden von Wilhelm Heitmeier, Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt 1997, sowie ders., Was treibt die Gesellschaft auseinander? Frankfurt 1997. Bezeichnenderweise ist der zweite Band weitaus voluminöser als der erste.]

Paradoxerweise hatte eine nicht nur „objektive", sondern auch wahrgenommene Spaltung der Gesellschaft in Klassen das Problem der Exklusion und des Zusammenhalts besser lösen können als eine scheinbar nivellierte Mittelschichtengesellschaft: Das Milieu der Industriearbeiter als unterprivilegiertem Kollektiv hatte erhebliche Sozialisations- und Integrationsleistungen erbracht, indem es für das Schicksal schlecht bezahlter, lebenslanger harter Arbeit eine Kompensation bot: Das Angebot einer Gemeinschaft, die durch gemeinsame Traditionen und Überzeugungen zusammengehalten wurde, die gegen die soziale Benachteiligung ihrer Mitglieder den Stolz auf die eigene Leistung, die Kooperation im und gegen den Betrieb, die Solidarität und die Hoffnung auf eine große Zukunft ins Feld führen konnte. Das Arbeitermilieu mit seinen Sport- und Kulturvereinigungen, Einrichtungen der gegenseitigen Hilfe, Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften, Bildungsinstitutionen und politischen Parteien konstituierte so etwas wie eine eigenständige, aber gegen die „bürgerliche Gesellschaft" gerichtete Zivilgesellschaft. Das Milieu und die ihm verbundenen Organisationen verwandelten nicht nur die Exklusion der Industriearbeiter aus der bürgerlichen Gesellschaft in einen bewußten Akt der Entgegensetzung, sondern trugen auch zumindest indirekt dazu bei, daß sich Exklusion nicht oder nur begrenzt in Anomie umsetzte. Es ist daher auch kein Zufall, daß bestimmte Unternehmen die Strukturen des Arbeitermilieus nutzen konnten, um Betriebskulturen auszubilden, in denen der Stolz auf die eigene Arbeitsleistung mit dem Stolz auf die Leistung des „eigenen" Unternehmens verschmolz.

Das Industriearbeitermilieu gehört längst der Vergangenheit an, und auch die Betriebskulturen unterliegen infolge der Globalisierung und Flexibilisierung der Zersetzung. Milieu und Betrieb wurden zum Teil durch die materielle Besserstellung und sozialstaatliche Absicherung der Arbeitnehmer ersetzt: Die Teilhabe am steigenden Konsum und die Sicherung gegen soziale Risiken löste die ursprüngliche Exklusion der arbeitenden Unterschicht auf. Allerdings: Höhere materielle Gratifikationen und sozialstaaliche Leistungen mögen die Unzufriedenheit mit sozialer Ungleichheit dämpfen, die Frage ist aber, ob sie ähnliche sozialintegrative und sozialisierende Wirkungen entfalten wie einst das Arbeitermilieu oder die Betriebskultur - ganz abgesehen davon, daß die staatlichen Sozialleistungen heute nicht mehr expandieren und in vielen Fällen Exklusion auch nicht mehr verhindern. D.h. ohne den integrativen Schutz eines Milieus oder eines stabilen Beschäftigungsverhältnisses und ohne die materiellen Gratifikationen des goldenen Zeitalters wächst die

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Gefahr, daß sich die immer mehr vor allem junge Benachteiligte auf eigene Faust - mit dem Messer oder dem Baseballschläger - das Geld und die Anerkennung verschaffen, die ihnen die Gesellschaft versagt.

Auf den ersten Blick paradoxerweise wurde das düstere Bild des Zerfalls oft als drohende „Amerikanisierung" Europas beschworen: Während amerikanische Bürger mit Stolz auf die (wenn auch bedrohte) Vitalität ihrer Zivilgesellschaft als Grundlage der erfolgreichsten Demokratie der Welt blicken, wird das Amerikabild vieler Europäer durch das Fehlen zivilgesellschaftlicher Tugenden und Strukturen bestimmt, das unter anderem zu sozialer Polarisierung, hohen Kriminalitäts- und Einkerkerungsraten, zum Niedergang der Familie, zur Verödung der Kultur und Brutalisierung des Rechtswesens führt - zu einem Zustand, den Europa noch nicht erreicht hat und der um jeden Preis zu vermeiden ist. Und das Heilmittel gegen die drohende „Amerikanisierung" wird in der in den USA und für das politische Selbstverständnis zentralen Zivilgesellschaft, also in einer Form der Amerikanisierung gesehen. Nicht nur die NGOs und Selbsthilfegruppen, sondern das ganze Spektrum gesellschaftlicher Aktivitäten, von den Familien und Nachbarschaften bis hin zu Sportvereinen und Kirchengruppen wird unter dieser Perspektive nicht mehr als Faktum betrachtet, sondern als eine knappe Ressource, die für die erneute Stärkung des sozialen Zusammenhalts aktiviert und eingesetzt werden muß. Die Zivilgesellschaft ist nicht einfach da, sondern muß hergestellt und bewahrt werden, und zwar nicht, um die Demokratie zu radikalisieren, sondern um sie vor dem Niedergang in Anomie zu bewahren. Die politische und demokratische Dimension der Zivilgesellschaft verliert gegenüber ihrer Dimension als Sozialisationsinstanz - also im Sinne Tocquevilles als Instanz, die die Bürger lehrt, daß sie aufeinander angewiesen sind - an Gewicht. Zynisch gesprochen: Die Zivilgesellschaft wird zu einer Art Kitt, auf den dann zurückgegriffen wird, wenn der Sozialstaat und andere Integrationsmechanismen zu versagen drohen.

Hier liegt der sicherlich zentrale (aber nicht zu überwindende) Schwachpunkt des politischen Konzepts der Zivilgesellschaft: Als Konzept politischer Integration ist es zu anspruchsvoll, um sozial neutral sein zu können. Den Bürgern - auch den Benachteiligten - wird nämlich zugemutet, für ihre Interessen und Werte in der Öffentlichkeit einzutreten und Konflikte durchzustehen, während sich sozialer Zusammenhalt nur auf einer Metaebene herstellen kann, nämlich als Wertschätzung eines Gemeinwesens, das die offene und gewaltfreie Austragung von Konflikten nicht nur zuläßt, sondern mit dem Angebot der Grundrechte implizit fordert. Die demokratische Arbeiterbewegung könnte als ein Vorbild dieses gleichzeitig konfliktiven und (auf der Metaebene) integrativen politischen Handelns angesehen werden. Sie konnte diese doppelte Vorgehen aber nur durchhalten, weil sie auf Lebenszusammenhänge zurückgreifen konnte, die es ermöglichten, die kleinen alltäglichen Siege und großen historischen Niederlagen in den Zusammenhang eines insgesamt optimistisch beurteilten geschichtlichen Prozesses einzuordnen. Wenn aber diese Lebenszusammenhänge aufgelöst sind und sich der Fortschrittsoptimismus verflüchtigt hat - Benachteiligung also nicht mehr als kollektives, sondern individuelles und durch keine große Zukunft gerechtfertigtes Schicksal erfahren wird -, wird die Aufforderung an die Benachteiligten, nicht nur für ihre Interessen einzutreten, sondern aus dem Recht, dies tun zu dürfen, noch eine verfassungspatriotische Gesinnung zu schöpfen, in der Tat zur Zumutung. Zudem bedeutet „Benachteiligung" ja nicht nur, daß jemand weniger Geld hat als andere, sondern auch, daß ihm die Mittel fehlen - dies führt zurück zu Jefferson -, der aktivistischen Zumutung, die die Zivilgesellschaft an ihn richtet, nachzukommen. Die Einlösung der „aktivistischen Zumutung", die sich aus der Auflösung traditioneller Handlungsorientierungen ergibt, setzt eine Sozialisation in Lebenszusammenhängen (Familie, Schule, Gewerkschaft, Universität) voraus, in denen Traditionen thematisiert und diskursiv aufgelöst und freie Verständigungsprozesse geprobt wurden. Wenn diese Voraussetzung nicht gegeben ist, besteht die Gefahr, daß die Zivilgesellschaft die Benachteiligten ein zweites Mal benachteiligt und sie dazu treibt, ihre Zuflucht in der Bestätigung ihrer ethnischen oder nationalen Identität zu suchen. Die

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Skepsis hinsichtlich der sozialintegrativen Leistungsfähigkeit der Zivilgesellschaft im Vergleich zu scheinbar substantiellen Kollektiven wie Rasse, Nation oder Volk ist begründet - doch, wie gesagt, es gibt keine Garantie, daß die Mehrheit der Staatsbürger der aktivistischen Zumutung nachkommt, es gibt aber auch keine Alternative zu ihr.

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6. Mittel- und Osteuropa: Zivilgesellschaft gegen die Gesellschaft als Fabrik

Der Begriff der Zivilgesellschaft war für die Dissidentenbewegungen in Mittel- und Osteuropa gegen die kommunistische Herrschaft ein zentraler, wenn nicht der zentrale Leitbegriff. Diese Oppositionsbewegungen waren einem Staat konfrontiert, der sich selbst geschichtsphilosophisch legitimierte: Die keiner demokratischen Kontrolle unterliegenden kommunistischen Parteien rechtfertigten sich und ihr Machtmonopol zunächst mit der theoretischen Einsicht in den Geschichtsverlauf, den sie zu vollziehen oder zu beschleunigen hatten - ganz unabhängig davon, wie unglaubwürdig und zerschlissen dieses Legitmationsmodell in der Praxis auch war. Auch als die Eliten von ihrer Verpflichtung auf die Geschichte längst abgerückt waren und die Theorie des Marxismus-Leninismus nur noch zynisch bemühten, blieb das Interpretationsmonopol der Partei auf alles, was die Gesellschaft betraf, also auf Alles, bestehen. Politik reduzierte sich auf ein einen quasi-technischen Vollzug, einen instrumentellen Prozeß, dessen Ziel und Zweck durch historische Gesetzmäßigkeiten oder das Wissen der Partei vorgegeben war und keiner weiteren Begründung durch die kollektive politische Willensbildung bedurfte. Die Politik der regierenden kommunistischen Parteien war totalitär nicht im Sinne zunehmenden Zwanges und Terrors, sondern in dem eines staatlichen Anspruchs, die gesamte Gesellschaft auf die Verwirklichung eines offiziellen Ziels hin auszurichten. [Winfried Thaa, Die Wiedergeburt des Politischen. Zivilgesellschaft und Legitimitätskonflikt in den Revolutionen von 1989, Opladen 1996, S. 159] Damit wurde die Gesellschaft wie eine Fabrik zur Erreichung vorgegebener Ziele organisiert, die von einem allwissenden Management geführt wurde, und deren Arbeitern die Kommunikation über die Produktionsziele verwehrt wurden. Für politisches Handeln im Sinne Hannah Arendts gab es per definitionem keinen Raum: Die sozialistische Öffentlichkeit hatte sich zur repräsentativen Öffentlichkeit des Absolutismus zurückentwickelt, die des Lächerlichen nicht entbehrte.

Nachdem es die Mehrheit der Dissidenten aufgegeben hatte, die kommunistischen Regime auf der Grundlage ihrer eigenen, längst veralteten Legitimation zu kritisieren (etwa indem sie die Wirklichkeit an den theoretischen Ansprüchen maßen), „entdeckten" sie im Rückgriff auf eine sehr viel ältere politische Tradition den dem Marxismus entgegengesetzten kommunikativen und pluralistischen Politikbegriff, die Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft als dem Staat abgetrotzten Freiraum, in dem sich die pluralistische Kommunikation der Bürger, wenn auch zunächst nur in einer Nische, entfalten konnte. Die Zivilgesellschaft ist also negativ bestimmt: Als vom Staat unabhängige Sphäre, die alle gesellschaftlichen Aktivitäten umfaßte, die nicht vom Staat zwangsverordnet und kontrolliert wurden, die aber auch nicht in die bloße Privatsphäre fielen. Hierzu gehörten nicht nur politische Aktivitäten, sondern auch kollektive kulturelle Betätigungen (Literatur, Musik), die im marxistischen Politikverständnis im besten Fall als belanglos gelten. Selbst die „zweite Ökonomie" eines unterdrückten Marktes konnte der Zivilgesellschaft zugeschlagen werden, da der Ausdifferenzierung der wirtschaftlichen Sphäre auch eine hohe politische Bedeutung zukam: Sie war Teil eines umfassenderen Prozesses der Dezentrierung gesellschaftlicher Funktionen, die Voraussetzung der Überwindung des kommunistischen Monismus. [ebd., S. 169] Da Politik im offiziellen System zur zynischen Manipulation verkommen war, traten die Dissidenten nicht im engeren zweckrationalen Sinne politisch (mit konkreten Forderungen) auf, sondern moralisch: Die nur zu einem hohen Preis

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zu bewahrende persönliche Integrität, ein „Leben in der Wahrheit" (Havel), war die Vorbedingung, um Politik als kommunikativen Prozeß wiederzubeleben. Die im Westen oft befremdende Emphase, mit der die Dissidenten die normative Dimension des Politischen betonten, kann nur verstanden werden, wenn die Notwendigkeit der grundlegenden Distanzierung vom zweckrationalen und in der Praxis zynischen Politikbegriff der kommunistischen Eliten bedacht wird.

Das Konzept der Zivilgesellschaft bot in den mitteleuropäischen Ländern zusätzlich die Chance, den kommunistischen Staat nicht nur im politischen, sondern auch im nationalgeschichtlichen Sinne als eine der Gesellschaft fremde und äußere Macht zu charakterisieren. Der kommunistische Staat war den osteuropäischen Gesellschaften von der Sowjetunion aufgezwungen worden und war damit nur die letzte Äußerung einer von Rußland ausgehenden etatistischen Tradition, der die eigene Zugehörigkeit zu Europa entgegengestellt wurde. Das Konzept der Zivilgesellschaft bot also die Chance, neben der ideengeschichtlichen auch eine „kulturell-geographische Rückbesinnung" einzuleiten. [ebd., S. 166]

Die Revolutionen in Mittel- und Osteuropa waren, wie Jürgen Habermas beklagt, „durch den fast vollständigen Mangel an innovativen und zukunftsweisenden Ideen" gekennzeichnet. In der Tat boten die intellektuellen Repräsentanten der mittel- und osteuropäischen Dissidentenbewegungen wenig Neues, sondern griffen ältere liberale Traditionen auf, allerdings bereinigt um deren emanzipatorischen Triumphalismus und bereichert um eine tiefsitzende Skepsis gegenüber jedem politischen Projekt, das utopische Züge aufweist. Die Dissidenten gaben, wie Vaclav Havel schreibt, selber eine hinreichend lächerliche Figur ab, wenn sie sich der Verfolgung aussetzten, um ihre Integrität zu wahren, so daß sich nicht ein zweites Mal der Lächerlichkeit aussetzen mußten, indem sie ihre Überzeugungen mit dem übermäßigem Ernst eines utopischen Projekts vortrugen. Der starken normativ geprägten Bewertung des Politischen korrespondierte eine kaum weniger ausgeprägte Bereitschaft zur Selbst-Distanzierung. Die mittel- und osteuropäischen Dissidenten brauchten daher keine „innovativen und zukunftsweisenden Ideen", weil sie auch kein innovatives Projekt verfolgten, sondern lediglich den Zustand herstellen wollten, der in Westeuropa bereits Norm war. In den Schriften der Dissidenten schimmert eher die Wehmut durch, Jahrzehnte verpaßt, als das Glück, den Fortschritt der Menschheit betrieben zu haben, es handelt sich eher um eine Rückkehr als um einen Aufbruch.

Auch wenn die intellektuellen Vertreter der mittel- und osteuropäischen Revolution keine genuin neue Ideen hervorbrachten, hatte ihre Neuinterpretation alter Ideen doch Auswirkungen nicht nur auf Mittel- und Osteuropa selbst: Der Begriff der Zivilgesellschaft ist in allen autoritären Systemen - insbesondere in den Entwicklungsländern - zum Leitbegriff oppositioneller Bewegungen geworden. Darüber hinaus hat er auch die Diskussion um wirtschaftliche Entwicklung und Transformation angeregt. Gerade anhand der Länder, in denen die Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft bislang scheiterte, konnte demonstriert werden, auf welcher Vielzahl zivilgegesellschaftlicher Einrichtungen und Assoziationen (einschließlich der in diesen sozialisierten Dispositionen) funktionierende Marktwirtschaften basieren. Das Funktionieren von Märkten ist nicht voraussetzungsfrei, die Freigabe des Preismechanismus schafft nicht notwendig funktionierende Märkte, sie kann auch Anarchie hervorrufen. In einer ganz anderen Hinsicht kann das von den mittel- und osteuropäischen Dissidenten hervorgehobene Konzept der Zivilgesellschaft auch und gerade in demokratisch verfaßten Marktwirtschaften eine neue politische Dimension gewinnen: Indem es ursprünglich gegen die zweckrationale Politik der kommunistischen Technokratie einen kommunikativen Politikbegriff stellte, richtet es sich potentiell auch gegen die technokratischen Tendenzen einer kapitalistischen Nomenklatura, die sich durch ihre Einsicht nicht in den Geschichtsverlauf,

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sondern in wirtschaftliche Zusammenhänge legitimiert. Es sei erinnert, daß für Tocqueville der Despotismus, der aus der Eigendynamik der Wirtschaft erwachsen konnte, fürchterlicher war als jede vorbürgerliche Tyrannei. Die Zivilgesellschaft (bei Tocqueville: die politische Gesellschaft) könnte ein Gegengift sein nicht nur gegen einen anmaßenden Staat, sondern auch gegen einen Markt bzw. eine ausschließlich dem Markt verpflichtete Politik, die die politische Zwecksetzung nicht den Bürgern überläßt, sondern sich selbst anmaßt, politische Zwecke zu setzen.


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