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[Seite der Druck-Ausg.: 3 (Fortsetzung)]


I. Definitionsversuche

1. Zivilgesellschaft und politische Öffentlichkeit

„Zivilgesellschaft" ist die Rückübersetzung des bereits bestehenden deutschen Begriffs der „bürgerlichen Gesellschaft" [Ansgar Klein, der Diskurs der Zivilgesellschaft, Dissertation, Berlin 1999] , den Hegel in seiner Rechtsphilosophie geprägt hatte, um einen gegenüber der natürlichen Sphäre der Familie und der höheren Sphäre des Staates (der „Wirklichkeit der sittlichen Idee") eigenständigen Raum zu beschreiben, in dem die Bürger als Privatleute ihre legitimen partikularen (in erster Linie wirtschaftlichen) Interessen verfolgen, ihre Streitigkeiten schlichten und in begrenztem Umfang ihre Angelegenheiten regeln. Doch der Rückgriff auf Hegel führt nicht weiter, da sich mit der Rückübersetzung von civil in „zivil" eine Akzentverschiebung eingeschlichen hat, die für das Verständnis von Zivilgesellschaft im aktuellen Sprachgebrauch von hoher Bedeutung ist.

Öffentliche Tugend

Der Begriff der Zivilgesellschaft lebt von dem Spannungsverhältnis zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat. In der Geschichte der politischen Ideen allerdings wurden Staat und Gesellschaft zunächst nicht einander gegenübergestellt, sondern miteinander identifiziert. In der Antike, in der griechischen Polis und der römischen Republik, bedeuteten Staat und Gesellschaft dasselbe, wobei Frauen, Sklaven und andere Abhängige aus beidem, aus Staat und Gesellschaft, ausgeschlossen und als Besitztum der Bürger der Privatsphäre zugeschlagen waren. Zwischen der politischen Betätigung der Bürger in der Gesellschaft und im Staat, in der Öffentlichkeit, und der Verfolgung ihrer privaten (wirtschaftlichen) Belange wurde eine klare Grenze gezogen. Die öffentliche Betätigung wurde grundsätzlich höher bewertet, die privaten wirtschaftlichen oder persönlichen Angelegenheiten dagegen galten als der öffentlichen Erörterung nicht wert, ihre Regelung war die Voraussetzung, die die Bürger erst zur Teilnahme an der Öffentlichkeit befähigte. In der Verfolgung ihrer privaten Interessen galten die Bürger als egoistisch und beschränkt, nur in der Öffentlichkeit konnte der Zusammenhalt der Polis oder der Republik immer wieder aufs Neue bestätigt werden. Als private und wirtschaftliche Subjekte standen die Bürger in einer Beziehung zu Unfreien und Ungleichen und waren in dieser Hinsicht selber unfrei. In der Öffentlichkeit kommunizierten sie mit Freien und Gleichen und bestätigten sich auf diese Weise selbst als Freie. [Hannah Arendt. Tradition und Neuzeit, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 21 ff]

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Der öffentlichen Degradierung des Privaten und Wirtschaftlichen liegt nicht allein die hochnäsige Verachtung der Arbeit zugrunde, die allen vorbürgerlichen Gesellschaften eigentümlich ist, sie basiert - wie Hannah Arendt gezeigt hat – auf einer tiefer gehenden Bewertung der Handlungsprinzipien, die in den beiden Sphären dominieren. [Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben, München 1991, S. 161 ff] Die wirtschaftliche Sphäre steht unter dem Diktat des Herstellens von Dingen. Herstellen ist die Veränderung von natürlichem Material nach einem Plan. Es tut der Natur, der es das Material entreißt, wie dem Material, das es verformt, Gewalt an, und auch der Herstellende ist allenfalls zu Beginn seiner Tätigkeit frei, wenn er sich entscheidet, ein Produkt zu erzeugen, danach ist er den Eigenheiten des Materials wie den Vorgaben seines Planes unterworfen. Im Gegensatz zum Herstellenden steht der politisch Handelnde, der frei von natürlichen oder wirtschaftlichen Zwängen mit anderen Freien kommuniziert. Das Ergebnis dieser Kommunikation ist prinzipiell offen. Selbst wenn der Handelnde einen Plan verfolgt, wird er diesen in der politischen Interaktion mit den gleichberechtigten Plänen seiner Mitbürger abstimmen, verändern oder aufgeben. Hinter der Verachtung des Wirtschaftlichen steht die Weigerung, Bürger als Material eines Planes und damit als Ungleiche zu behandeln. Der Begriff des politischen Handelns steht in Opposition zur philosophisch angeleiteten Politik – etwa eines Platon –, die kein Ergebnis offener Verständigungsprozesse ist, sondern ihre Begründung aus einem der freien Kommunikation entzogenen höheren Wissen bezieht.

Die Unsichtbare Hand

Eine Transformation erfuhr das in der Antike als Identität gedachte Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Auseinandersetzung des Bürgertums mit dem absolutistischen Staat. Der absolutistische Staat bezieht seine Legitimität aus sakralen Traditionen, die sich in der Person des Monarchen verkörpern, und die wie die Person des Monarchen selbst jenseits jedes denkbaren Verständigungsprozesses liegen; Rechte und Pflichten werden vom Monarchen nach Gutdünken verteilt. Demgegenüber behaupteten die liberalen Philosophen des 18. Jahrhunderts die Eigenständigkeit der privaten und wirtschaftlichen Sphäre – der Gesellschaft. Die antike Bewertung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft wurde umgekehrt: Das Herstellen von und der Handel mit Dingen im privaten Interesse gewannen eine höhere Dignität als das den untätigen Klassen vorbehaltene politische Handeln; die Gesellschaft der Individuen wurde zum Ort der Freiheit, während der Staat mit Zwang und Unterdrückung gleichgesetzt wurde. [Thomas Paine, Common Sense, Stuttgart 1982, S. 7] Die private Konkurrenz der Hersteller und Händler gewährleistete, daß das Wohl des Ganzen im freien Spiel der Kräfte und von einer unsichtbaren Hand gesteuert besser befördert wird, als der Staat dies könnte. Der Staat wurde zu einem entweder überflüssigen oder allenfalls auf die Garantie innerer und äußerer Sicherheit reduzierten Artefakt, während die Gesellschaft eine natürliche oder der Natur nachgebildete Ordnung repräsentierte. Die Gesellschaft wurde von den liberalen Theoretikern als von keiner politischen Instanz geordnetes, von keiner sakralen Autorität gesichertes und von keinem Akteur bewußt gesteuertes Zusammenwirken vereinzelter und ihren materiellen Vorteil kalkulierender Individuen „entdeckt", ein Zusammenwirken, das Gesetzmäßigkeiten gehorcht, die sich wie die Naturgesetze hinter dem Rücken der Individuen durchsetzen, und die zum Wohl des Ganzen gegen die Eingriffe einer äußerlichen Instanz wie des Staates zu immunisieren sind.

Die Marxsche Kritik der bürgerlichen Gesellschaft - die Kritik der Politischen Ökonomie - denunziert die unbewußte und unbeherrschte Mechanik des gesellschaftlichen Zusammenhangs und stellt ihr die bewußte und freiwillige wirtschaftliche Kooperation der Individuen gegenüber, sie greift jedoch nicht auf das Prinzip des politischen Handelns im antiken Sinne zurück. Im Gegenteil entwer-

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tet sie die Politik ein zweites Mal, indem sie den Staat nun zum Anhängsel der bürgerlichen Gesellschaft, zum Exekutiv-Ausschuß der herrschenden Klasse degradiert. Dieser degradierten bürgerlichen Politik wird eine Politik gegenübergestellt, die auf die Überwindung des bürgerlichen Zustands gerichtet ist. Dies bedeutet jedoch nicht die Wiederherstellung kommunikativer Politik, sondern reduziert Politik auf die Verfolgung eines Plans - einen Akt des Herstellens im Sinne von Hannah Arendt –, dessen Blaupause in Form der von Marx und seinen Nachfolgern entdeckten Gesetzmäßigkeiten und Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft bereits ausgearbeitet vorliegt. Dieser Plan verdankt sich wissenschaftlicher Einsicht und ist der Revidierbarkeit als mögliches Ergebnis politischer Kommunikation entzogen. Für den orthodoxen Marxismus war schon der Begriff des Revisionismus ein Schimpfwort.

Kollektive Freiheit

Bereits die bürgerliche Opposition gegen den absolutistischen Staat wies in der Bewertung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft einen ambivalenten Zug auf. Die Gesellschaft, die dem Staat entgegengesetzt wurde, war nicht nur die wirtschaftliche Konkurrenz voneinander unabhängiger Wirtschaftssubjekte, sie war auch ein „Publikum", das in den Salons, Debattierclubs und Gazetten über den Staat räsonierte, das heißt sich anmaßte, die Handlungen des Staates (des Monarchen) einer Bewertung zu unterziehen. [Der Übergang von der höfischen respräsentierenden zur bürgerlichen räsonierenden Öffentlichkeit ist das Thema bei Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied/Berlin 1968] Mit dem Aufkommen einer räsonierenden Öffentlichkeit, die sich von der repräsentierenden Öffentlichkeit der Monarchie abhob, setzte eine zweite Transformation im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ein: Die bürgerliche Revolution, in der die Gesellschaft den ursprünglich für den Monarchen reservierten politischen Raum okkupierte. In den bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und Neuengland wurde, wenn auch nur vorübergehend, ein Nachklang der politischen Emphase der Antike vernehmbar; mit der Unterscheidung von bourgeois und citoyen wurden die private wirtschaftliche und die öffentliche politische Sphäre ein zweites Mal umbewertet. Den Eigengesetzlichkeiten der kapitalistischen Ökonomie wurde die kollektive Kontrolle der freien und gleichen Bürger über ihr Schicksal, der negativen Freiheit der privaten Wirtschaftssubjekte die positive Freiheit der öffentlich Handelnden entgegengestellt. [Charles Taylor, Negative Freiheit. Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt 1992 ] Die kollektive Kontrolle der Bürger über ihr Schicksal war daher nicht durch die Naturgesetze der Gesellschaft eingeschränkt, vielmehr waren die wirtschaftlichen Verhältnisse so zu ordnen daß sie den Prinzipien der „Selbstregierung" angemessen war. Thomas Jefferson zufolge war dies nur in einer individualistischen Agrarwirtschaft mit kleinen Grundbesitzern und Produzenten der Fall. Die große Industrie, die eine besitzlose Unterschicht erzeugt, ist mit dem Prinzip der Selbstregierung nicht vereinbar, und zwar nicht wegen der Verteilungsungerechtigkeit, sondern weil besitzlose Bürger nicht in der Lage seien, ihren öffentlichen Rechten und Pflichten nachzukommen bzw. das Glück öffentlicher Freiheit zu genießen. [S. Michael Sandel, America’s Search for a New Public Philosophy, in: American Monthly Nr. 3, 1996]

Die Betonung der kollektiven Freiheit und das Prinzip der demokratischen Selbstregierung führte im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einer radikalen Neubestimmung von Politik: Politik als Handeln freier Bürger war nun nicht nur von jedem sakralen oder transzendenten Bezug abgeschnitten, sondern von der Tradition überhaupt. „Da die Vergangenheit nicht mehr die Zukunft erhellt, tastet der Verstand im Dunkeln " [Alexis des Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1985, S. 360] – mit diesen Worten endet Alexis de Tocquevilles Beschreibung der amerikanischen Demokratie. Die politische Freiheit wurde mit dem Verlust aller traditionellen Sicherheiten erkauft. „In die Geburtsurkunden moderner Gesellschaften [den modernen Verfassun-

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gen]ist als besonderes Kennzeichen die Autonomie ihrer Mitglieder eingeschrieben", diese können sich erstmals „als im strengen Sinne herrenlose Wesen wahrnehmen". [Günter Frankenberg, Die Verfassung der Republik, Frankfurt 1997, S. 14] Moderne Gesellschaften konfrontieren ihre Mitglieder mit der „aktivistischen Zumutung" (Frankenberg), von nun ab ihre politische Ordnung ohne den Rückgriff auf eine andere Autorität als die der von ihnen selbst kollektiv getroffenen Entscheidungen zu gestalten. Wenn über vorgegebene Wahrheiten, die sich in religiöse Gewißheiten, vorpolitische Identitäten oder wissenschaftliche Systeme kleiden, nicht mehr verfügt werden kann, ist der öffentliche Raum, in dem die Bürger miteinander über ihr Gemeinwesen kommunizieren, der einzige Ort, an dem über ihr kollektives Schicksal entschieden werden kann. Das Ergebnis dieser kollektiven Entscheidungsprozesse ist prinzipiell offen und hoch riskant. In den beiden den bürgerlichen Revolutionen folgenden Jahrhunderten gab es genug Fehlentscheidungen, die meist darauf hinausliefen, die aktivistische Zumutung zurückzuweisen und Zuflucht wieder bei substantiellen Wahrheiten, fiktiven vorpolitischen Kollektiven oder wissenschaftlichen Systemen zu suchen – was in der Regel um so sicherer in die Katastrophe führte. Die „aktivistische Zumutung" enthält keine Garantie, daß ihr auch nachgekommen wird; sie ist normativer Natur. Aber es gibt keine Alternative zu ihr. Kein Expertenwissen, kein Fortschrittsoptimismus, keine Marktgesetze, keine Standortkonkurrenz, keine Regierung und keine Religion kann es den Bürgern abnehmen, die grundlegenden Entscheidungen über ihr Schicksal selbst in öffentlicher Kommunikation zu treffen.

Zivilgesellschaft als politische Öffentlichkeit

Die bürgerliche Gesellschaft ist auf der einen Seite das Zusammenwirken der voneinander isolierten Wirtschaftssubjekte, die rational kalkulierend auf einem anonymen Markt ihre Wohlfahrt zu maximieren suchen. Der koordinierende Mechanismus ist der freiwillig geschlossene und vom Recht und vom Staat geschützte Vertrag. Der Zusammenhalt der Gesellschaft als Wirtschaftsgesellschaft wird von deren objektiven Gesetzmäßigkeiten garantiert, und dem von der bürgerlichen Gesellschaft eroberten Staat ist aufgetragen, die innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten und die privaten Rechte der Wirtschaftssubjekte zu schützen. Die Gleichheit der Vertragspartner ist formal, sie verdeckt die grundlegende Ungleichheit der Einkommen, Vermögen und Macht. Die Gleichheit der Vertragspartner ist, wie die ersten Theoretiker der Arbeiterbewegung und - zur gleichen Zeit - des Feminismus hervorhoben, nur Schein [S. Donald Sassoon, One Hundred Years of Socialism. The West European Left in the Twentieth Century, London/ New York 1996, S. 407 ff] . In dieser Hinsicht konsequent wurden die privaten ind politischen Bürgerrechte den Frauen und Besitzlosen bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht oder nur eingeschränkt gewährt.

Gleichzeitig ist die bürgerliche Gesellschaft als Zivilgesellschaft aber auch der öffentliche Raum, in dem die Bürger frei über ihr Geschick befinden können und müssen. Der politischen Öffentlichkeit wohnt eine Dynamik inne, die die Reservierung politischer Rechte für bestimmte soziale Gruppen (männliche Vermögensbesitzer) verbietet (bereits John Stuart Mill wandte sich in seinem größten publizistischen Mißerfolg gegen die Einschränkung der Rechte der Frauen, die durch keine Vernunftgründe legitimiert werden könne). [John Stuart Mill, The Subjection on Women, London 1985] In der politischen Sphäre herrscht im Gegensatz zur Gesellschaft „einfache Gleichheit": Jede Stimme zählt gleich. Es gibt kein prinzipielles Verbot, die „natürliche" Ungleichheit in der gesellschaftlichen Sphäre in der politischen Sphäre zu thematisieren. Auch die in der Gesellschaft Benachteiligten haben das Recht, Vereinigungen zu bilden, um die Verbesserung ihrer Lage zu erkämpfen bzw. den Staat zu zwingen, in der Gesellschaft mehr Gleichheit zu gewährleisten. In der Zivilgesellschaft oder politischen Gesellschaft sind die

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Individuen nicht voneinander isolierte Monaden, sondern in den verschiedensten Assoziationen miteinander verbunden; gleichzeitig ist der öffentliche Raum von tiefgreifenden Konflikten, unterschiedlichen und antagonistischen Interessen und Werthaltungen durchzogen, die zum Teil aus der in der Wirtschaftsgesellschaft erzeugten Ungleichheit hervorgehen. [Die „drei Komponenten liberaler Theorie, der (Besitz)-Individualismus, das Befehlsmodell von Politik und das Marktmodell sozialer Interaktion [sind] durch einen negativen Freiheitsbegriff verbunden, der die bürgerliche Ge sell schaft nach außen, gegen den Leviathan also, abschirmt, die soziale Praxis aber weitgehend ihrer ökono mi schen Bestimmung überläßt. Zu diesem Arrangement verhält sich die Programmatik des radikalisierten Liberalis mus des civil-society-Ansatzes nun beinahe spiegelbildlich", Reiner Schmalz-Bruns, ‘Civil Society’ - neue Perspektiven der Demokratisierung, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. 2, Nr. 3-4 1989, S. 23] Der Bürgerkrieg der Assoziationen oder Fraktionen wird allein durch die (in der Verfassung niedergelegte) Konvention verhindert, daß die Mitglieder dieser Assoziationen allen anderen den Grundsatz gleicher politischer Freiheit zugestehen, sich im öffentlichen Raum zu entfalten, und darauf verzichten, die anderen Mitglieder der Gesellschaft im Streit der Interessen Werte und Meinungen als „Material", also gewaltsam zu behandeln. Die Selbstbegrenzung zivilgesellschaftlicher Assoziationen schließt Geheimbünde, Avantgarden, die im Namen eines höheren Wissens handeln, Fundamentalisten und selbsternannte Vertreter fiktiver substantieller Kollektive wie Volk oder Rasse per definitionem aus. [Frankenberg, a.a.O., S. 54] Der Pluralismus und die Offenheit der über zivilgesellschaftliche Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum getroffenen Entscheidungen schließt ebenso aus, daß diese Entscheidungen irreversibel gegen künftige Revisionen abgedichtet werden.

Es gibt kein Thema, das nicht zum Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung werden kann und darf. Die kapitalistische Wirtschaft ist der öffentlichen Debatte ebenso wenig entzogen wie es eine tabuisierte Privatsphäre gibt, die jenseits jeder öffentlichen Erörterung stünde (gerade in den letzten Jahren haben Themen wie die Rolle der Frau, sexuelle Gewalt, das Versagen der Familie bei der Sozialisation usw. die öffentliche Debatte geprägt). Das Tätigkeitsfeld der Zivilgesellschaft läßt sich also nicht thematisch definieren: Es umfaßt alle Fragen, Interessen und Themen, die Individuen und Assoziationen aufgreifen, in die Debatte bringen und öffentlich, vor einem Publikum, zu erörtern und durchzusetzen suchen. [ebd.] Dabei ist es durchaus möglich, daß die zum Aktivismus aufgerufenen Bürger eine Vielzahl relevanter Entscheidungen - unter Umständen deren große Mehrheit - ohne öffentliche Erörterung akzeptieren, daß sie Entscheidungskompetenzen an gewählte Repräsentanten oder professionelle Interessenvertreter delegieren. Es können sich Routinen der Entscheidungsfindung durchsetzen, die die Öffentlichkeit nicht oder nur zum Teil involvieren. In der komplexen Realität einer Massendemokratie tendiert die Öffentlichkeit durch ein routinisiert-administratives und professionell-technokratisches Entscheidungsmanagement verdrängt zu werden. Dem wäre aber entgegenzusetzen, daß auch der Delegation von Entscheidungen an politische Repräsentanten, administrative Eliten und professionelle Interessenvertreter zum einen meist öffentliche Debatten und Entscheidungen vorausgingen (der gewählte Volksvertreter hat sich zumindest im Wahlkampf der Öffentlichkeit stellen müssen; administrative Routinen mußten irgendwann einmal durch öffentlich debattierte Gesetze fundiert werden). Zum andern können administrative Routinen, delegierte Entscheidungskompetenzen und Mechanismen der Interessenvertretung zu jeder Zeit wieder zu Themen der öffentlichen Debatte werden, selbst wenn die Entscheidungsträger versuchen, Arkanbereiche zu bilden und ihre Routinen unter Berufung auf übergeordnete Sachzwänge gegen die Einwirkung der Öffentlichkeit abzudichten.

Unter der Bedingung, daß Zivilgesellschaft und politische Öffentlichkeit deckungsgleich sind, stellt sich die eingangs gestellt Frage, welche Assoziationen der Zivilgesellschaft zuzurechnen sind, in einem neuen Licht. Sie läßt sich nämlich ebensowenig wie das legitime Themenfeld öffentlicher

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Erörterungen vom Umfang her beantworten, sondern nur unter dem Gesichtspunkt der Inanspruchnahme der Öffentlichkeit. Wenn eine Gewerkschaft mit dem Arbeitgeberverband hinter verschlossenen Türen einen Tarifvertrag aushandelt, agiert sie nicht als zivilgesellschaftliche Organisation im beschriebenen Sinne. In dem Augenblick jedoch, in dem sie in den Medien um Verständnis für ihre Forderung wirbt - und erst recht, wenn ihre Streikposten vor einem Betrieb Transparente ausrollen -, wendet sie sich an ein (freilich selber in sich differenziertes uns sozial stratifiziertes) Publikum, das zur Parteinahme aufgefordert wird, auch wenn seine Mehrheit kein direktes Interesse an einem bestimmten Verhandlungsergebnis hat. Sie setzt sich damit auch dem Risiko aus, daß das Publikum die Forderung der Gewerkschaft ablehnt und damit auch deren Verhandlungsposition schwächt. Wenn eine politische Partei im Hinterzimmer festlegt, welche Kandidaten sie bei der nächsten Wahl aufstellen oder welche Rentenformel sie unterstützen will, handelt sie außerhalb der Zivilgesellschaft; in dem Augenblick, in dem sie die Wähler auffordert, ihr ihre Stimme zu überlassen, handelt sie öffentlich und mit Risiko. Der ADAC handelt zivilgesellschaftlich, wenn er sich an der Debatte um die Vorteile oder Schäden des Autofahrens beteiligt. Er muß - wie die Gewerkschaft und die Partei - das Partikularinteresse seiner Klientel als allgemeines oder zumindest verallgemeinerbares präsentieren und sich dem Risiko der Ablehnung durch das Publikum aussetzen. Ein noch größeres Risiko freilich gehen Individuen ein, die sich an die als Individuen an die Öffentlichkeit wenden, ohne von der Beschlußlage einer Assoziation gedeckt zu sein.

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2. Zivilgesellschaft als gesellschaftliche Kooperation

Gemeinsinn und spontane Kooperation

Gegen die Gleichsetzung von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit, dem Betätigungsfeld der Zivilgesellschaft, läßt sich der Einwand erheben, die Gesamtheit zivilgesellschaftlicher Aktivitäten werde unzulässig geschmälert. Es gibt eine Vielzahl freiwilliger, nicht erwerbsorientierter und nicht geheimbündlerisch-avantgardistischer oder fundamentalistisch-fanatischer Assoziationen, die soziale Aufgaben erfüllen, ohne daß deren Träger dies „an die große Glocke" der Öffentlichkeit hingen. Diese Aktivitäten sind meist nicht entlang der großen gesellschaftlichen Konfliktlinien (dem Konflikt zwischen Arbeit und Kapital) oder antagonistischen Werthaltungen (konservativ versus progressiv, für oder gegen Schwangerschaftsunterbrechung) lokalisiert, sondern tendieren dazu, gesellschaftliche Konflikte praktisch zu überbrücken. Die Zivilgesellschaft in der Demokratie wäre in erster Linie dort anzusiedeln, wo die Bürger über ihre privaten, an der Erwerbstätigkeit fixierten Interessen hinausgehen und in einem verbindenden Sinne „sozial" tätig werden: im Ehrenamt einer karitativen Organisation, bei der Betreuung von Kindern oder hilfsbedürftigen Menschen in der Nachbarschaft, beim Schutz der Umwelt oder beim Engagement für die Opfer eines Wirbelsturms in Nicaragua. Etwas überzeichnet: Zivilgesellschaft entsteht dort, wo sich der CDU-Stadtrat, der sozialdemokratische Lehrer, der lokale Gewerkschaftsfunktionär, der Hotelbesitzer, der Ökobauer und die engagierte Christin zusammentun, um über alle Differenzen hinweg, ein Projekt realisieren, das im Interesse aller Beteiligtem liegt - ob sie nun gegen eine Pipeline im Wattenmeer eintreten oder mehr Kindergartenplätze fordern.

Die Zivilgesellschaft in diesem Sinne erfüllt soziale Aufgaben, die die Familie überfordern, die von den etablierten Organisationen der Interessenvertretung nicht oder nicht zureichend wahrgenommen werden, und die weder der Markt, noch der Staat angemessen lösen kann. Der Staat kann mit seinen Sozialleistungen dort eingreifen, wo der Markt versagt hat, sein Instrumentarium ist aber zu grobmaschig, um die auf der lokalen Ebene auftretenden Probleme zu erfassen und zu lösen. Eine sozial sensible Nachbarschaft, eine Kirchengemeinde oder ein Verein können die Feinverteilung sozialer Problemlösungen effizienter und effektiver gestalten als die Sozialbürokratie.

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Ähnliches ließe sich zur natürlichen oder kulturellen Umwelt sagen: Für die Marktsubjekte, die Unternehmen, ist die Bewahrung der Umwelt ein Kostenfaktor, unter dem Druck des Wettbewerbs werden sie versuchen, Kosten der Umweltbewahrung zu externalisieren. Der Staat kann mit Gesetzen und Verordnungen einspringen, die aber ebenfalls zu grob sind, um jedem spezifischen Problem zu entsprechen. Die Zivilgesellschaft übernimmt auch hier als letztes Glied einer Kette institutionellen Versagens die Feinverteilung von Problemlösungen.

Die Zivilgesellschaft in diesem Sinne ist insofern effektiver als der Staat, als sie bei der Lösung ihrer selbst gestellten Aufgaben einen Zusatz produziert, den die Sozialbürokratie nicht hervorbringt: Sie erfüllt ihre Aufgaben kommunikativ. Die Bedeutung der Unterstützung, die eine Kirchengemeinde einem Mitglied zukommen läßt, liegt nicht allein in den materiellen Mitteln, die transferiert werden, sondern auch in der angebotenen Kommunikation. Zivilgesellschaftliche Aktivität überwindet Vereinzelung und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In diesem Zusammenhang kann die Zivilgesellschaft auch dort angesiedelt werden, wo die Bürger sich assoziieren, um in Gesellschaft Tätigkeiten nachgehen, die öffentlich als belanglos gelten, da es keine das Gemeinwesen betreffenden Entscheidungen zu treffen gilt - wenn sie also gemeinsam kulturelle Interessen verwirklichen, in der Trachtengruppe tanzen oder Sport treiben. Diese auf den ersten Blick rein privaten Betätigungen konstituieren direkt oder hinterrücks soziale Solidarität - sie verhindern, daß die Gesellschaft in egoistische Monaden zerfällt –, die weder der Staat, noch der Markt gewährleisten kann. Im Gegenteil: Während die Konkurrenz auf dem Markt egoistische Vereinzelung erzwingt, therapiert die Zivilgesellschaft als sozialer Kooperationszusammenhang die in der Konkurrenz entstandenen Verhärtungen und Verletzungen. Der Staat dagegen, das politische System im engeren Sinne, ist zu weit von Alltagsproblemen der Bürger entfernt, um allein Zusammenhalt stiften zu können; die politische Partizipation etwa bei Wahlen reduziert sich auf seltene und singuläre Akte, die allein nicht das Bewußtsein erzeugen können, in einem Gemeinwesen aufeinander angewiesen zu sein.

Zivilgesellschaft in diesem therapeutischen Sinne ist ebenfalls an keine bestimmten Assoziationen gebunden, obwohl NGOs, Selbsthilfegruppen, Nachbarschaftsvereinigungen, Kirchengemeinden und karitative Organisationen immer wieder als Inbegriff zivilgesellschaftlicher Assoziationen herausgestellt werden. Doch auch eine Gewerkschaft kann in diesem Sinne zivilgesellschaftlich tätig werden, und zwar nicht allein dadurch, daß sie den ersten Mai feiert oder ihren Mitgliedern Beratung in verschiedenen Lebenslagen anbietet, sondern auch indem sie am Ort des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital „kooperativ" tätig wird, den Konflikt nicht zementiert oder eskaliert, sondern überbrückt. Auch ein Unternehmen ist "nebenbei" eine soziale Instanz, die Individuen nicht nur voneinander trennt, sondern sie auch miteinander verbindet. Die Konkurrenz der einsamen und rational kalkulierenden Monaden wird auch in der Erwerbssphäre ergänzt, überlagert und durchdrungen von der nicht an Marktgesetzen orientierten Kooperation und Kommunikation, die primär auf die Lösung von Problemen und das Treffen kollektiver Entscheidungen zielt. Obwohl die arbeitsvertragliche Regelung des Beschäftigungsverhältnisses und die betriebliche Hierarchie darauf ausgerichtet sind, die Arbeitnehmer voneinander zu isolieren und ihre Spielräume einzuengen, würden Unternehmen sich wahrscheinlich kaum auf dem Markt behaupten, wenn sie nicht implizit auf die unbezahlte Kommunikation und Kooperation ihrer Arbeitnehmer rechnen könnten.

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Zivilgesellschaft als Gemeinschaft?

Zivilgesellschaft im Sinne der spontanen Kooperation von Bürgern erinnert an die in der älteren Soziologie vorgenommene Entgegensetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft [Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1991, S. 31 ff] , die in jüngster Zeit von den amerikanischen Kommunitaristen aufgegriffen wurde. Diese Unterscheidung wurde erst möglich, nachdem sich die bürgerliche Gesellschaft als eigenständige Sphäre konstitutiert hatte. Eine Differenzierung von Gesellschaft und Gemeinschaft wäre in den antiken Stadtstaaten kaum verstanden worden: Es handelte sich um (zumindest unter dem Gesichtspunkt der Eliten) überschaubare Sozialverbände, in denen das kollektive Handeln noch durch persönliche Beziehungen vermittelt war. Gemeinschaft formt sich nach dem Vorbild der Familie, Abhängigkeits- und Kooperationsbeziehungen sind persönlicher Natur und emotional gefärbt. Gemeinschaft bildet sich im Nahbereich; Ferdinand Tönnies zufolge ist die Stadt der größtmögliche Raum, der gemeinschaftlich organisiert werden kann. Gemeinschaftliche Beziehungen sind konkrete Beziehungen, sie sind abhängig vom spezifischen lokalen Umfeld, seinen Traditionen und den von allen Gemeinschaftsmitgliedern geteilten Werten. Die von den liberalen Theoretikern entdeckte Gesellschaft ist demgegenüber dadurch charakterisiert, daß die Beziehungen zwischen den Individuen nicht persönlich vermittelt sind; die Entdeckung bestand gerade darin, daß sich ein gesellschaftlicher Zusammenhang auch ohne persönliche und familiäre Basis spontan über Tauschakte und Verträge bildet. Gesellschaftliche Beziehungen sind universell und abstrakt.

Eine Übersetzung von Zivilgesellschaft in Gemeinschaft wäre in mehrerlei Hinsicht problematisch. Moderne Gesellschaften übersteigen per definitionem den Geltungsbereich persönlicher, emotional gefärbter Beziehungen. Zivilgesellschaftliche Verständigungsprozesse können in gemeinschaftlichen Beziehungen ihren Ausgangspunkt nehmen, sie müssen aber prinzipiell darauf gerichtet sein, Fremde in die Verständigung einzubeziehen. Sie müssen an das „Allgemeine" oder zumindest Verallgemeinerbare appellieren, das über die partikularen Gemeinschaften mit ihren spezifischen Inklusions- und Exklusionsmechanismen hinausweist. Zivilgesellschaftliche Verständigung findet unter prinzipiell Gleichen statt, während Gemeinschaften oft durch traditionelle Rangordnungen der Ungleichheit (s. die Familie) gekennzeichnet sind. In der Gemeinschaft kann von gesellschaftlicher (d.h. auf den jeweiligen Marktpositionen basierender) Ungleichheit abgesehen werden; statt dessen wird eine Art natürlicher, auf Rang-, Geschlechts- oder Altersunterschieden gegründete Ungleichheit fraglos vorausgesetzt. Wenn - wie im Nationalismus - die gesamte Gesellschaft als Gemeinschaft verstanden ist, wird die gesellschaftliche Ungleichheit ausgeblendet und durch fiktive familiäre Beziehungen substituiert. Die Fiktion der Gesellschaft konkurrierender Individuen wird überlagert durch die zweite Fiktion, die diese Individuen wieder durch ein natürliches Band auf quasi-familiäre Weise miteinander (und gegen andere Nationen, Völker oder Rassen) verbindet, die Binnenverhältnisse des gemeinschaftlichen Nahbereichs werden manipulativ auf die Makroebene des politischen Gemeinwesens projiziert. Die politische Öffentlichkeit des Nationalstaats wird umgeformt in einen Naturzustand und damit ihrer demokratischen Substanz beraubt, und die an die Bürger gerichtete „aktivistische Zumutung" wird an vorpolitische Substanzen und deren Hohepriester delegiert.

Der kommunitaristische Rückgriff auf die Gemeinschaft in Abgrenzung zur Gesellschaft, der emotionale Wärme und familiäre Bindungen gegen das kalte Gesellschaftsbild des Neoliberalismus oder die abstrakte Rationalität des Verfassungspatriotismus setzt, kommt nicht umhin, Gemeinschaft zu idealisieren. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß Gemeinschaften nach innen wie nach außen Zuwendung und Ablehnung nach nicht zu rechtfertigenden Kriterien verteilen. Für innere und äußere Außenseiter kann die Gemeinschaft Terror bedeuten, während die Ano-

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nymität moderner Gesellschaften auch Schutz bietet. Im Zweifelsfall kann die lokale Gemeinschaft auch zum Lynchmob werden, während der demokratische Rechtsstaat und bürokratische Sozialstaat seine Leistungen „ohne Ansehen der Person" verteilt.

Potential der Öffentlichkeit

Wenn es also eine gewisse Nähe der Zivilgesellschaft als Kooperationszusammenhang zu gemeinschaftlichen Bezügen gibt, so soll dies nicht heißen, daß die Zivilgesellschaft als eine Art modernisierte Volksgemeinschaft verstanden werden soll. Wenn der Begriff Zivilgesellschaft seine Aussagekraft behalten soll, muß die gesellschaftliche Kooperation immer auf die dargelegten Kriterien der Zivilgesellschaft als Öffentlichkeit bezogen werden können. [Zum Folgenden s. Frankenberg, a.a.O., S. 55] Das heißt erstens: Die Assoziationen gesellschaftlicher Kooperation sind prinzipiell offen, die Mitgliedschaft steht jedem offen, der dem Ziel der Assoziation zustimmt. Zweitens erkennen die Mitglieder dieser Assoziationen sich selbst wie Außenstehende als Freie und Gleiche an. Drittens werden kollektive Entscheidungen als Ergebnis von Verständigungsprozessen mit prinzipiell offenem Ausgang getroffen. Viertens schließlich sind die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Assoziationen zumindest potentiell auf die Öffentlichkeit gerichtet - was bedeutet, daß die Assoziationsziele als im Interesse des gesamten Gemeinwesens liegend dargestellt werden können. Öffentlichkeit braucht nicht notwendig zu jeder Zeit die „große" Öffentlichkeit auf nationaler Ebene sein, so daß nur die Aktivitäten und Assoziationen mit dem Siegel zivilgesellschaftlicher Dignität rechnen könnten, über die in der Tagesschau berichtet wird. Öffentlichkeit kann auf vielen Ebenen entstehen: im Betrieb, in der Kommune, in der Nachbarschaft. Entscheidend ist nicht die Reichweite, sondern die Prinzipien der Verständigung und der Verallgemeinerbarkeit. Ein Fußballverein wird nicht dadurch zu einer zivilgesellschaftlichen Assoziation, daß seine Mitglieder Fußball spielen, sondern dadurch - und nur dadurch -, daß seine Mitglieder alle die Vereinigung betreffenden Entscheidungen in einem offenen Verständigungsprozeß treffen, und daß das organisierte Fußballspiel auch den Nicht-Anhängern dieses Sports als eine Aktivität in einem potentiell verallgemeinerbaren Interesse vermittelt werden kann (in diesem Fall etwa: Überwindung der Vereinzelung, Sozialisation Jugendlicher, die Förderung von Tugenden wie Fairneß, Engagement, Teamfähigkeit usw., demokratische Vereinsöffentlichkeit usw.). Auch in diesem Zusammenhang lassen sich zivilgesellschaftliche Assoziationen nicht umfangslogisch katalogisieren (wer gehört dazu und wer nicht?), vielmehr enthält eine Vielzahl von Assoziationen ein zivilgesellschaftliches Potential, und es hängt von der Betätigung dieser Assoziationen ab, ob und wie dieses Potential aktiviert wird.

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3. Versuch einer Synthese: Politisches System und Öffentlichkeit

Der Widerspruch zwischen einer Konzeption der Gesellschaft als eines dem bewußten Handeln ihrer Mitglieder entzogenen Mechanismus, dessen Gesetzmäßigkeiten sich hinter dem Rücken der Individuen durchsetzen, und einem im Kern kommunikativen Politikbegriff findet sich wieder im Gegensatz zwischen der Systemtheorie und einem kommunikativen Politikverständnis, das sich - in der Diktion von Jürgen Habermas - auf die „Lebenswelt" richtet, also auf einen Raum, in dem auf der Grundlage geteilter Werte Verständigungsprozesse stattfinden können, deren Ergebnisse nicht durch Systemanforderungen determiniert sind. [S. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1980] Der Rückgriff auf einen kommunikativen Politikbegriff bedeutet freilich nicht, daß die Eigendynamik selbstreferentieller Systeme negiert würde; er setzt dieser allerdings Grenzen.

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Die Vertreter der System- oder demokratischer Involutionstheorien argumentieren, daß das Monopol einer administrativen Elite über politikrelevantes Wissen Entscheidungsprozesse gegen eine Öffentlichkeit abdichtet, die ihrerseits nur noch durch periodische Wahlakte die Besetzung der Führungsgarnituren bestimmt. Die politischen Führungsgarnituren sind durch ihre Wähler nicht mehr festgelegt und daher untereinander austauschbar. Sie können bzw. müssen unter dem Gesichtspunkt der Systemrationalität entscheiden. Dabei schließen sich politische und administrative Eliten mit sozial mächtigen Gruppen (den wichtigsten Organisationen der wirtschaftlichen Interessenvertretung) zu autonomen Funktionskreisläufen kurz und umgehen auf diese Weise sowohl das Parlament, das nur noch pro forma das letzte Wort hat, als auch die nicht-parlamentarische Öffentlichkeit, auf die sich das System vorwiegend manipulativ bezieht. Die demokratische Legitimation der Politik läuft nicht über Überzeugungs- und Verständigungsprozesse: Als eigenständiges gesellschaftliches Subsystem hat die Politik ihre eigenen Codes entwickelt, die nicht mehr bruchlos in die Umgangssprache (und die Lebenswelt) zurückübersetzt werden können; Legitimation wird nicht umgangssprachlich, sondern durch die Einhaltung von Verfahrensregeln erzeugt. Diese Sicht des politischen Systems als eines in sich geschlossenen und gegenüber politischem Handeln abgedichteten Systems wird durch die manipulativen und entpolitisierenden Wirkungen der Massenmedien bestärkt: An die Stelle einer rational räsonierenden Öffentlichkeit tritt das Infotainment der Medien, das kein zur Intervention aufgefordertes Publikum braucht, sondern passive Konsumenten. Nach der Logik der Werbewirtschaft inszeniert sich Politik selbst und produziert die Ereignisse, die die Medien brauchen, während die Medien die Öffentlichkeit auf das Niveau stutzen, das den eingespielten Perzeptionen und Vorurteilen der Medienkonsumenten entspricht. Die Berufung auf die „aktivistische Zumutung", vor die eine Demokratie ihre Bürger stellt, ist in dieser Argumentation nur noch die verblassende Erinnerung an die Formationsphase des demokratischen Staates, eine Erinnerung, die in der modernen Massendemokratie allenfalls der Erbauung dient. Die allen demokratischen Verfassungen inhärente Aufforderung zur politischen Partizipation ist ein Gebot, dessen Einlösung das Regierungssystem sofort überlasten würde.

Die systemtheoretische Sicht der Demokratie, die sich in eine Theorie der marktwirtschaftlichen Sachzwänge übersetzen ließe, blendet aus, daß sich die Funktionskreisläufe nicht grundsätzlich von der politischen Kommunikation isolieren lassen. Indem auch unter funktionalen Gesichtspunkten getroffene Entscheidungen so begründet werden müssen, als ob sie als Ergebnis von Verständigungsprozessen wären, öffnen sie sich dem Einspruch der Öffentlichkeit. Dies wird immer dann sichtbar, wenn das reibungslose Funktionieren des Systems bzw. eines seiner Subsysteme nicht mehr gegeben ist und die Staatsbürger „...in ihren Komplementärrollen als Arbeitnehmer und Konsumenten, als Versicherte und Patienten, als Steuerzahler und Klienten staatlicher Bürokratien, als Schüler, Touristen, Verkehrsteilnehmer usw. den spezifischen Anforderungen und Fehlleistungen der entsprechenden Leistungssysteme in besonderer Weise ausgesetzt sind". [Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1993 S. 442] Die Erfahrungen der Bürger werden zunächst in den gemeinschaftlichen Binnenräumen - im Betrieb, in der Nachbarschaft usw. - thematisiert, können aber immer auch gebündelt und verdichtet an die politische Öffentlichkeit weitergeleitet werden. In der Öffentlichkeit wird vom konkreten privaten oder gemeinschaftlichen Hintergrund dieser Erfahrungen abstrahiert, gleichzeitig jedoch wird die „in der Alltagspraxis vorherrschende Verständigungsorientierung auch für eine Kommunikation unter Fremden erhalten, die in komplex verzweigten Öffentlichkeiten über weite Distanzen geführt wird". [ebd. S. 449] Die Zivilgesellschaft ist das Transportsystem, das zunächst privat verarbeitete Erfahrungen unter veränderten, aber nicht von der umgangssprachlichen Verständigung gelösten Kommunikationsbedingungen in die politische Öffentlichkeit befördert. Das Verhältnis zwischen politi-

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schem System und Zivilgesellschaft läßt sich so als ein Verhältnis von politischem Zentrum und zivilgesellschaftlicher Peripherie beschreiben, wobei die demokratischen Prozeduren der institutionalisierten Meinungs- und Willensbildung als Schleusen wirken, die die in der Zivilgesellschaft aktualisierten Themen und Forderungen passieren müssen, wenn sie in verbindliche Entscheidungen umgesetzt werden sollen. [ebd. S. 439] Das heißt der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft ist (unter demokratischen Bedingungen) auch begrenzt: Die zivilgesellschaftlichen Akteure verfügen über Einfluß, aber nicht über Macht. [ebd., S. 451]

Mit Jürgen Habermas lassen sich in der Zivilgesellschaft/Öffentlichkeit drei Akteursgruppen unterscheiden: Erstens die Organisationen, die mit bestimmten etablierten gesellschaftlichen Funktionsbereichen identifiziert werden können und als politische Parteien oder Interessenverbände „...aus einem funktional spezifizierten Handlungssystem heraus auf die Öffentlichkeit einwirken". [ebd., S. 453] Es besteht die Möglichkeit, daß diese Organisationen die Öffentlichkeit okkupieren und für ihre Strategien instrumentalisieren. Sie können dies aber nur tun, wenn sie die Erfahrungen der Bürger aufnehmen und Verständigungsprozesse organisieren (oder zumindest simulieren) und sich dabei - wie oben erwähnt - dem Risiko aussetzen, vom Publikum abgelehnt zu werden. Hiervon zu unterscheiden wären zweitens Gruppen, die neue Themen aufgreifen, die nicht in etablierte Funktionsbereiche eingebettet sind, und die über keine anerkannten Organisationen der Interessenvertretung verfügen. Diese Akteursgruppen handeln auf zwei Ebenen: Auf der einen Seite verfahren sie wie etablierte Organisationen, indem sie die Öffentlichkeit nutzen und auf das politische System in ihrem Sinne einzuwirken versuchen; sie handeln also strategisch. Auf der anderen Seite thematisieren sie aber auch reflexiv Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit selbst; sie gehen nicht von einer gegebenen Öffentlichkeit mit einem konventionell begrenzten Themenspektrum aus, sondern streben die Erweiterung dieser Öffentlichkeit an, sei es um neue Themen, sei es um neue Teilnehmergruppen, sei es um erweiterte Partizipationsrechte. [ebd., S. 448] Diese zweite Gruppe von Akteuren repräsentiert am deutlichsten die „merkwürdige Selbstbezüglichkeit öffentlichen Handelns" (Habermas): Wer die Öffentlichkeit nicht instrumentell und nicht routinisiert in Anspruch nimmt, thematisiert das Prinzip der Öffentlichkeit selbst und setzt damit eine Dynamik demokratischer Radikalisierung in Gang.

Die dritte Akteursgruppe sind die eigentlichen Publizisten in den Medien, die den Resonanzboden für zivilgesellschaftliche Initiativen abgeben, gleichzeitig aber der Eigengesetzlichkeit des Medienapparats unterliegen. Zumindest in Zeiten der politischen Ruhe können sie sich den erwähnten Funktionskreisläufen zwischen administrativer Elite und sozialer Macht eingliedern, indem sie Themen routinemäßig selektieren und standardisiert verarbeiten. Unter bestimmten Bedingungen allerdings werden auch die Medien Impulse aus der Zivilgesellschaft aufnehmen und sich zum Forum öffentlicher Auseinandersetzungen machen müssen.


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