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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druck-Ausg.: Titelblatt]

Der Begriff der Zivilgesellschaft spielt in der sozialdemokratischen Programmdiskussion eine immer prominentere Rolle. Dabei handelt es sich gerade im deutschen Sprachgebrauch um einen vagen Begriff, der unterschiedliche und auch gegensätzliche Assoziationen hervorruft.

Unter Zivilgesellschaft wird auf der einen Seite die spontane Kooperation der Bürger bei der Regelung ihrer Angelegenheiten verstanden, wobei grundlegende soziale Konflikte und Ungleichheiten ausgeblendet sind. In dieser Version beschwört das Konzept der Zivilgesellschaft eine Harmonie, die es in ungleichen Gesellschaften nicht geben kann. Auf der anderen Seite verbindet sich der Begriff der Zivilgesellschaft mit dem der politischen Öffentlichkeit. In dieser Version wendet er sich gegen alle Versuche, Entscheidungen, die nur in der öffentlichen und vom Ergebnis her offenen Kommunikation der Bürger getroffen werden können, den vermeintlichen Sachwaltern eines höheren und der Verständigung entzogenen Wissens zu überlassen.

Ist die Berufung auf die Zivilgesellschaft ein Deckmantel, um die soziale Verantwortung des Staates wieder an die Individuen zu delegieren? Oder liegt ihr die Einsicht zugrunde, daß die „ großen Fragen der beginnenden Epoche" (Gerhard Schröder) nicht in der etablierten politischen Routine beantwortet werden können, sondern neue und umfassende öffentliche Verständigungsprozesse notwendig machen?

[Seite der Druck-Ausg.: 1 = Inhaltsverz.
nur in Druckausgabe enthalten]

[Seite der Druck-Ausg.: 2]

„Die großen Fragen der beginnenden Epoche - wie organisieren wir Sicher heit und Gerechtigkeit in der ‘Wissensgesellschaft’; welche kulturellen und sozialen Orientierungen wollen wir im Internet-Zeitalter unseren Kindern geben; wie soll sich der Staat in einer Gesellschaft drastischer Veränderungen organisieren - sind nicht anders zu lösen als durch Politik ...."

Gerhard Schröder

„Da die Vergangenheit nicht mehr die Zukunft erhellt, tastet der Verstand im Dunkeln."

Alexis de Tocqueville



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[Vorbemerkung]

Die Geister die sie riefen? Im Frühjahr des Jahres 2000 wurde der Begriff der Zivilgesellschaft in das Zentrum der Debatte um die Modernisierung sozialdemokratischer Politik gestellt. Er löste das Etikett des „Dritten Weges" ab, das bis dahin international als Synonym für eine moderne Politik links von der Mitte gegolten hatte. „Stärkung der Zivilgesellschaft": Dies war zentrales Motto eines Konferenzkommuniqués, das im Juni 2000 in Berlin von dreizehn Regierungschefs der linken Mitte verabschiedet wurde. [Berlin Communiqué - „Progressive Governance for the 21 st Century, 3. 6. 2000, http://194.238.74/english] In der Neuen Gesellschaft unterzeichnete Gerhard Schröder einen programmatischen Artikel unter dem Titel Die zivile Bürgergesellschaft. Die zentrale These: Ein „verantwortungsimperialistischer" Staat muß Verantwortung an die Zivilgesellschaft zurückgeben. [Gerhard Schröder, Die zivile Bürgergesellschaft. Zur Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft, in: Neue Gesellschaft, Nr . 4 2000] Im Herbst desselben Jahres schlug - wie es scheint - die Zivilgesellschaft in ganz Europa zu: Spediteure, Taxifahrer und Bauern, sekundiert von den konservativen Parteien, probten den Aufstand, um die Regierungen (gegen die erklärten Überzeugungen nahezu aller politischen Kräfte) zur Verbilligung von Benzin und Diesel zu zwingen. Doch erhob sich mit den Spediteuren die Zivilgesellschaft? Oder pochten wild gewordene Kleinunternehmer auf die Wahrung ihrer Besitzstände auf Kosten der Zivilgesellschaft? Das Beispiel zeigt, daß der Begriff der Zivilgesellschaft alles andere als eindeutig ist: Er ruft - zumal im deutschen Sprachgebrauch - unterschiedliche Assoziationen hervor und läßt sich von einander entgegengesetzten Seiten instrumentalisieren.

Schon der Artikel von Gerhard Schröder hatte eine kleine Debatte ausgelöst. So argwöhnte Ulrich Beck in der Zeit, der Rückgriff auf die Zivilgesellschaft verdecke lediglich die vom haushaltspolitischen Sparzwang diktierte Kürzung staatlicher Ausgaben. [Ulrich Beck, Mehr Zivilcourage bitte, in: Die Zeit, 25.5.2000] Wolfgang Streeck wies in der Mitbestimmung darauf hin, daß Schröder offen lasse, was unter Zivilgesellschaft zu verstehen sei; es gebe eine neoliberale und eine kommunitaristische Version, die einander spinnefeind seien. Beide Versionen können gegen die „staatsillusionistischen Mißverständnisse der deutschen Sozialdemokratie" ins Feld geführt werden, aber indem Schröder auf eine Klärung verzichte, können sich sowohl Jürgen Schrempf als auch die Katholische Bischofskonferenz angesprochen fühlen. [Wolfgang Streeck, Die Bürgergesellschaft als Lernzielkatalog, in: Die Mitbestimmung 6, Juni 2000 ] Folgt man dieser Interpretation, wäre die Zivilgesellschaft entweder gleichbedeutend mit dem Markt (die neoliberale Version) oder mit einer (wie immer zu definierenden) Gemeinschaft (die kommunitaristische Version). Beide Sichtweisen sind, wie zu zeigen sein wird, unzulänglich. Wenn Zivilgesellschaft in einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit dem Markt gleichgesetzt werden soll, verliert der Begriff seinen Sinn; seine Verwendung diente nicht der Klärung, sondern der Ablenkung. Gemeinschaft dagegen erinnert an die von den Kommunitaristen verklärte vorgesellschaftliche Form des Zusammenlebens und würde damit den modernen Gehalt des Begriffs Zivilgesellschaft eliminieren. Oft wird Zivilgesellschaft als Sammelbegriff all der Aktivitäten verstanden, die die Bürger freiwillig in Gesellschaft unternehmen: damit kann ihm der Klu-Klux-Klan ebenso zugeord-

[Seite der Druck-Ausg.: 3]

net werden wie Greenpeace; der Begriff würde seine normative Dimension verlieren: Nordirland und der Libanon wären Länder, die auf ihre hoch entwickelten Zivilgesellschaften stolz sein könnten. Andere Versionen betonen das zivile Element gesellschaftlichen Umgangs und definieren Gewalt und Konfrontation als nicht-zivilisiert weg; auf diese Weise entsteht leicht ein idyllisches Bild harmonischer Kooperation, in dem grundlegende gesellschaftliche Konflikte nicht mehr sichtbar sind. Man kann die Vertretung sozialer Interessen ins Zentrum zivilgesellschaftlicher Aktivität stellen, man kann sie ihr aber auch entgegensetzen. Dem Begriff „Zivilgesellschaft" können Freizeitaktivitäten, sofern sie kollektiv organisiert sind, subsumiert werden, diese können aber auch als belanglos ausgeschieden werden. Sind der Verband der Bierbrauer, der ADAC, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der 1. FC Köln und die PDS zivilgesellschaftliche Assoziationen, sind sie es nicht, oder sind sie es in gewisser Hinsicht, und wenn ja, in welcher?


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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