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Feminisierung der Armut:
Die ökonomische Situation von Frauen in Osteuropa


Kateryna Levchenko von der Frauenberatungsstelle La Strada in Kiew in der Ukraine malt ein dramatisches Bild: In den letzten Jahren habe die Kriminalität in allen ihren Spielarten sowie der Alkoholismus unter den Männern massiv zugenommen, berichtete sie während der Konferenz „Osteuropas verkaufte Frauen" der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Frauen hätten weder Vertrauen mehr zu ihren Männern noch zu ihrem Land. Ihre Arbeitslosigkeit sei zwar hoch, aber auch bestens qualifizierte Frauen arbeiteten beispielsweise häufig als Reinigungskräfte. In der Politik gebe es kaum noch Frauen. Frühere, in der Sowjetunion bestehende, Familien- und Frauenministerien seien abgewickelt worden. Die Beraterin bei La Strada berichtet über zunehmende Gewalt gegen Frauen. Sexuell mißbraucht, in der Ehe vergewaltigt oder geschlagen würden gerade diese Frauen auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten im Ausland oft zu Opfer von Menschenhändlern. Die ukrainische Journalistin Jelena Rog beklagt die große Gleichgültigkeit gegenüber den mißhandelten Frauen. „Nichts mehr ist dort eine Sensation. Das Elend aus Gewalt, Armut und Arbeitslosigkeit ist einfach zu groß." Auch die hohe Zahl von Abtreibungen in ihrem Land sei ein Indiz dafür, daß die Frauen keinerlei Vertrauen und Hoffnung in ihre Zukunft setzen.

In Polen wird die immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen neuem Reichtum und extremer Armut zu einem besonderen Problem. Das berichtet die Hilfsorganisation Belladonna, die von Frankfurt/Oder aus im Grenzgebiet arbeitet. Viele Frauen haben den Fall des „Eisernen Vorhangs" bisher vor allem als Statusverschlechterung erlebt, sind arbeitslos geworden oder schlagen sich mit extrem gering bezahlten Jobs durch. Ihre finanzielle und soziale Verantwortung für die Familie aber ist so groß wie eh und je. So sind Frauenhandel und Zwangsprostitution zu einem erheblichen Wirtschaftsfaktor geworden; laut Belladonna unter aktiver Beteiligung von ehemaligen Offizieren aus Polen, der Sowjetunion und der Nationalen Volksarmee. Nach den Erfahrungen von La Strada sind junge Mädchen vor Abschluß der Schule oder Ausbildung besonders gefährdet. Die meisten der ganz jungen Frauen sind der Mei-

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nung, im Westen warte auf sie Arbeit, beispielsweise als Kellnerin oder im Haushalt. Deshalb versucht man in Polen, junge Frauen über die Medien aufzuklären.

In der Tschechischen Republik treffen wir auf eine ähnliche Situation wie in Polen. La Strada in Prag schildert die ökonomische Situation der Frauen: Immer noch sei es ein Traum vieler junger Menschen, Arbeit in Westeuropa zu finden. Selbst seriöse Tageszeitungen schilderten die wirtschaftliche Situation in Deutschland verklärt bis falsch, wie folgendes Zitat aus einer Zeitung zeige: „Arbeitslosen werden Urlaubsflüge und Hochzeitsfeiern inklusive Geschenken vom Sozialamt geschenkt." In Anzeigen über Arbeitsstellen in Deutschland werde jungen Frauen das Zehnfache des tschechischen Durchschnittseinkommens von derzeit etwa 500 DM und hohe Sozialleistungen versprochen. Es habe nicht nur mit materieller Armut zu tun, wenn Frauen so leicht zur Beute von Menschenhändlern werden. Sozialer Fatalismus, gepaart mit Goldgräbermentalität und einer schwachen politischen und sozialen Infrastruktur fördere eine hohe Risikobereitschaft in der Bevölkerung, um Lebensperspektiven und Wohlstand zu erreichen. Dazu komme, daß strukturelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen innerhalb von Ehe und Familie von der Gesellschaft ebenso toleriert werden wie Prostitution.

Es ist diese Lebenswirklichkeit der Frauen, die sie zu Opfern von Menschenhändlern macht - und ihnen gleichzeitig die Rückkehr in ihre Heimatländer erschwert, selbst wenn sie es schaffen, aus einem westlichen Bordell zu fliehen oder bei einer Razzia aufgegriffen und abgeschoben werden. Die verbreitete Armut und eine - zumindest nach außen - rigide Sexualmoral, die Frauen zu Außenseiterinnen macht, wenn sie sich zu ihrer Arbeit als Prostituierte bekennen müssen, läßt kaum Hoffnung auf eine schnelle Lösung dieser Situation. Auch die restriktiven Einreisebedingungen nach Deutschland und in andere westeuropäische Länder werden für Frauen, die aus der Armutsfalle ausbrechen wollen, zum Bumerang. Früher, so die Mitarbeiterin einer Berliner Beratungsstelle, die sich sowohl um asiatische als auch um osteuropäische Opfer von Menschenhändlern kümmert, konnten sich die Frauen relativ kurz in Deutschland aufhalten. Mit dem durch Schwarzarbeit, illegale Arbeit in Haushalten oder auch durch Prostitution auf eigene Rechnung ersparten Geld ließ sich in ihrer Heimat eine bescheidene Existenz aufbauen.

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Heute brauchen illegal Einreisende die Hilfe von Schleppern und Schleusern. Anders kommen sie nicht an die benötigten gefälschten Papiere. So müssen sie sehr viel länger als früher illegal im Westen leben, denn bevor sie ans Sparen denken können, müssen sie ihre beträchtlichen Schulden bei den organisierten Händlerringen abbezahlen. Über die Schleuser geraten viele Frauen auch in die Hände von Zuhältern, die ihnen den größten Teil des verdienten Geldes abnehmen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1999

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