EINFÜHRUNG
Dieses Arbeitsprogramm des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes wurde vom ausserordentlichen Kongress vom 9. und 10. Juni 1992 angenommen. Es umschreibt die Verpflichtungen und die Forderungen der Gewerkschaftsbewegung für das laufende Jahrzehnt.
Von kritischen Ueberlegungen über die Rolle und die Arbeitsweise der Gewerkschaften ausgehend, ist es vom Willen geprägt, den Wandlungen der Arbeitswelt und der Gesellschaft Rechnung zu tragen. Die Gründe für die Stagnation der Mitgliederzahlen und für die Schwierigkeit, die Demokratisierung der Wirtschaft voranzutreiben, müssen in erster Linie bei uns selbst gesucht und bekämpft werden. In den angeschlossenen Verbänden hat die kritische Ueberprüfung der traditionellen Verhaltensweisen eingesetzt. Der SGB als Dachorganisation muss dafür besorgt sein, dass diese Ueberlegungen den engen Rahmen der Berufe und der Wirtschaftszweige überspringen können. Er muss den Austausch von Erfahrungen und Ideen anregen und fördern, andererseits hat er die gemeinsamen Ziele zu formulieren.
Das Arbeitsverhältnis bleibt das bevorzugte Tätigkeitsgebiet der Gewerkschaftsbewegung. Ihre zentrale Aufgabe bleibt es, das Kräftegleichgewicht zwischen Unternehmern und Lohnverdienern und Lohnverdienerinnen herzustellen. Doch wird die kollektive Regelung der Arbeitsverhältnisse heute durch den weit verbreiteten Willen in Frage gestellt, die Gesellschaft in all ihren Bereichen den Marktgesetzen zu unterstellen. Die persönliche Entfaltung setzt die Eroberung eines kollektiven Freiraumes voraus; die Gewerkschaftsbewegung betreibt eine Gleichstellungspolitik und kümmert sich vordringlich um die Meistbenachteiligten; den individuellen Erfolg auf Kosten aller anderen unterstützt sie nicht. Der Arbeitslohn kann nicht der einzige Gegenposten für die Arbeit von Männern und Frauen sein, welche bei Entscheidungen mitbestimmen möchten, die ihren Alltag, ihr berufliches Fortkommen, die gesellschaftliche Entwicklung betreffen.
Ausmass und Bedeutung der vor allem von Frauen geleisteten unbezahlten Arbeit verlangen gebieterisch neue, umfassendere Betrachtungsweisen. Die Ungleichheit der Chancen bezüglich Bildung und Zugang zum Arbeitsmarkt verweist auf Bevölkerungsgruppen, für deren Aufstieg besondere Anstrengungen notwendig sind.
Unser Kampf für vermehrte soziale Sicherheit beruht auf dem Gedanken der Solidarität. Dabei geht es nicht nur darum, den gesetzlichen und vertraglichen Rahmen zu erweitern und zu verbessern. Gefordert ist ein neues, besseres Verständnis für die Erscheinungen der Ausgrenzung, des Ausschlusses, der Armut. Gewiss hat nicht die Gemeinschaft Massstäbe für das persönliche Glück zu setzen; sie hat aber Bedingungen der Freiheit, der Gleichheit, der materiellen Sicherheit zu gewährleisten, welche die Verwirklichung individueller Bestreben ermöglichen.
Unsere Verantwortung für die Umwelt, die Oeffnung auf Europa und die Welt verlangen eine Neuorientierung der Politik. Für die Gewerkschaftsbewegung ruft dies nach einer Ueberprüfung unserer materiellen Forderungen, nach neuen Prioritäten hinsichtlich Lebensqualität und Entfaltung der persönlichen Freiheit.
Dieses Programm arbeitet das Erbe der Arbeiterbewegung auf, mit seinen sozialen Prioritäten und dem jahrhunderte alten Kampf gegen Armut und Erniedrigung. Es versucht auch, die Mechanismen von Rassismus und Sexismus zu verstehen und sie zu überwinden. Es betont die dringende Notwendigkeit, die verheerenden Folgen einer technischen Machtballung und der Jagd nach Profiten auf Kosten des gemeinsamen Erbes der Menschheit zu bekämpfen. Es entwirft kaum Utopien, zeigt aber vielmehr die Schritte auf, die heute und morgen zu gehen sind, um auf dem richtigen Weg voranzukommen. Dazu müssen wir an uns selbst, an die Gewerkschaftsorganisation, erhöhte Ansprüche stellen.
Die notwendige Emanzipation von Mann und Frau sowie die Befreiung des Menschen von den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen, welche Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Not hervorrufen, müssen die Triebfedern der Gewerkschaftsbewegung sein. Der Syndikalismus ist mehr als eine Emanzipations- und Selbstverteidigungs-Bewegung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: Sie ist gleichermassen ein Spiegel der gesamten Gesellschaft und ein Instrument zu ihrer Veränderung. Also muss dieses Instrument geschärft werden!