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TEILDOKUMENT:

Wolfgang Thierse
Vortrag " Traditionswahrung und Modernisierung - Sozialdemokratie in der Entscheidung

[Seite der Druckausg.: 46]

Wolfgang Thierse
Präsident des deutschen Bundestages

Traditionswahrung und Modernisierung - Sozialdemokratie in der Entscheidung

[Hinweis:
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Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Anke Fuchs,
liebe Freundinnen und Freunde der Sozialdemokratie,

ein wahrlich anspruchsvolles Thema, das mir da gestellt worden ist. Herr Dowe hat es gerade genannt "Traditionswahrung und Modernisierung - Sozialdemokratie in der Entscheidung".

Ich beginne, wie es sich gehört, mit einem Zitat:

"So weit wir auch in der Zeit zurückschauen, wir verlieren niemals die Gegenwart aus dem Blick."

Der Satz stammt von dem großen französischen Soziologen Émile Durkheim. Auf unseren Anlass angewandt, heißt das: Die Vergangenheit, die Geschichte, die Tradition - wann immer diese als Erfahrungsschatz, als Ausflucht oder als Vorwand benutzt werden - ihr Gebrauch ist niemals frei vom Einfluss der aktuellen Situation.

Die Tradition als Berufungsinstanz: Das ist gerade in Zeiten des Wandels, des wachsenden Druckes auf Veränderung - das

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heißt eben: in Zeiten der Entscheidung - nicht notwendigerweise ein Ausdruck der Verweigerung, sondern ein gewissermaßen natürlicher Vorgang der Vergewisserung. Nicht umsonst bezeichnen die Begriffe Reform oder Revolution im Wortsinne gezielte oder grundsätzliche Veränderungen, die versprechen, am Ausgangspunkt wieder anzusetzen: Reform, Revolution.

Die gegenwärtige Konjunktur des Gebrauchs historischer Argumente in der politischen Debatte, so scheint mir, könnte ein Indiz für eine Phase des Übergangs sein, zumindest für die Größe der Herausforderung. Den einen dient die Anleihe bei historischen Parallelen - ob es die Rede von einem "Neuen Godesberg" ist oder die Beschwörung der Brüning-Ära - als Mandat, den anderen dient sie als Menetekel.

Sie bemerken vielleicht: Ich werde das Schema - hier Traditionalisten, dort Modernisierer - nicht bedienen. Im Gegenteil. Was Sie von mir erwarten können aus Anlass des Jubiläums des vor 140 Jahren gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins hier in Leipzig, ist ein kleiner Versuch, eine Brücke zu bauen, über die wir gehen könnten, um den Bogen zwischen Tradition und Moderne zu spannen.

In der deutschen Sozialdemokratie haben Entscheidungslagen immer auch Grundsatzdebatten ausgelöst. Das ist so und wir sind gerade wieder mal mitten drin. Das gehört zu ihrem Wesen als demokratische Programmpartei. Das ist die SPD in einem, wie ich glaube, unvergleichlichen Maße, wenn man auf andere Parteien in Deutschland blickt. Man wünschte sich manchmal, es ginge ohne das Spiel über die Bande Öffentlichkeit. Das ist inzwischen fast unmöglich geworden, weil ohne Medienpräsenz kaum ein Argument für wahr genommen wird, ja überhaupt wahrgenommen wird. Das erklärt andererseits auch die Vermeidungs- und Verdrängungsneigung, zumindest den Appell, Grundsatzdebatten nicht zur sogenannten Unzeit zu führen. Allerdings, wenn Zeit ist, meist nach schweren politischen Niederlagen, dann ist es zu spät. Also braucht Veränderungswillen Mut, einschließlich des Mutes zur Debatte, wenngleich sich die

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Medien angewöhnt haben, diese als, immer assoziiert, unnötigen Streit zu diskreditieren, anstatt sie als Mut zur Offenheit zu honorieren.

Auch in der aktuellen Auseinandersetzung um die Agenda 2010 ist es meines Erachtens wenig hilfreich, das Schema Traditionalisten gegen Modernisierer anzuwenden. Das umfangreiche Maßnahmenpaket, das die Bundesregierung auf die Tagesordnung gesetzt hat, hat die Partei auf den Plan gerufen. Das ist aber nicht überraschend. wenn man sich klar macht, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen weitreichende Veränderungen bedeuten und bewusst von langfristiger Wirkung sein sollen. Wenn nun zwei nach Funktion und Kompetenz unterschiedliche Entscheidungsträger in einer Person zusammen fallen, nämlich im Bundeskanzler, der von Amtswegen Entscheidungen vorgeben muss, und dem Bundesvorsitzenden der SPD, der zur Entscheidung führen soll, muss im Konflikt doch nachgearbeitet werden. Dass Bundeskanzler Schröder die Autorität seiner Person und seines Amtes für seine Vorschläge einsetzt, daraus sollte man ihm keinen Vorwurf machen, denn das Gegenteil wäre fatal falsch. Er muss für das, was er für richtig hält und für Grundlage seiner Politik, sich mit aller Kraft einsetzen. Das hat nichts mit Diktatur und autoritärem Verhalten zu tun. Wie denn sonst soll ein Kanzler führen? Dass eine Partei wie die SPD andererseits mitgenommen werden will, diskutieren und mitentscheiden will, das sollte man ihr ebenso wenig vorwerfen. Al- lerdings, die Partei sollte dabei nicht vergessen, dass sie regierende Partei ist. Am Ende werden Entscheidungsfähigkeit, Stärke, Geschlossenheit erwartet, und zwar von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung einschließlich der eigenen Mitglie- der.

In der gegenwärtigen Debatte geht es durchaus auch um den Kern unserer sozialdemokratischen Identität, um deren Umsetzung. Um auf diesen Kern zu kommen, die konstitutiven Überzeugungen sozialdemokratischer Politik, und auch um den praktischen Ansatz, der im Wandel der Zeiten die Partei bewegte und

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ihre Entscheidungen und Handlungen im Lichte einer durchgängigen Identität erscheinen ließ, hilft es durchaus, sich gelegentlich des Anfangs zu erinnern und zu vergewissern. Wir haben das gerade getan.

Im Statut des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins sind Mittel, Weg und Ziel der Partei kurz und bündig im ersten Paragrafen beschrieben: Dieter Dowe hat es schon zitiert, ich zitiere dies noch einmal: "eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes und eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegensätze in der Gesellschaft ... auf friedlichem und legalem Wege".

Der Kern ist die Überzeugung, so lese ich das, dass durch gemeinschaftliches politisches Handeln grundlegende und positive Veränderungen der Verhältnisse erzielt werden können. Getragen wurde diese Überzeugung zusätzlich von einer unausgesprochenen, vorgelagerten Vorstellung, von der Idee des Fortschritts. Das Morgen wird besser sein als das Heute, weil es eine Möglichkeit gibt, die Dinge zum Besseren zu wenden.

Die Idee des Fortschritts, des Zuwachses an Freiheit und materiellem Wohlstand, diese populäre Verheißung der europäischen Moderne, übersetzte die Sozialdemokratie in ein Konzept, das Gerechtigkeit und Solidarität als notwendige Rahmenbedingungen hinzufügte. Ihr programmatische Orientierung auf das Bild von einer besseren, menschlicheren Gesellschaft erzeugte über mehr als ein Jahrhundert Hingabe und Opferbereitschaft, die Fähigkeit der Strategie-, Bündnis- und Kompromissbildung und, vor allem und nicht zuletzt, die Kraft, auch aus Niederlagen wieder gestärkt hervorzugehen.

Die zweite Quelle des Optimismus war die demokratische Idee. Die Überzeugung, dass der Mensch über den Verhältnissen steht, bestimmte nicht nur die Vorstellung vom Primat der Politik, sondern vor allem die Strategie, die eigenen Interessen durch demokratische Mehrheiten umzusetzen. In der Praxis bestimmte und veränderte dies mehr und mehr die Stellung gegen-

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über dem Staat und ermöglichte schließlich seine Umgestaltung zum Sozialstaat.

Der Sozialstaat wurde zum zentralen Akteur einer Strategie der Reformen und Reformen wurden zum Mittel der Verwirklichung der Ziele der Politik. Das ist der sozialdemokratische Reformismus, ein Modernisierungskonzept, das inzwischen Tradition hat.

Die Frage, die heute für die Sozialdemokratie Entscheidungscharakter hat, ist die nach der Zukunft dieses Modernisierungskonzeptes, nämlich die Frage nach der Zukunft des Sozialstaates und seiner eigenen Reformfähigkeit.

Hier weht uns, wir merken es, der Wind scharf entgegen. Der Zeitgeist würde diese Frage an sich schon in die Traditionskiste stellen. Dazu auch die bislang tragende Idee vom Fortschritt. Statt dessen bestimmt der Sachzwang unser Bewusstsein. Viele, auch in den Reihen der Sozialdemokratie, empfinden eine Defensive der Politik und haben Zweifel an den Gestaltungsmöglichkeiten und der Gestaltungskraft von Politik.

Meine Damen und Herren, es gibt Gründe, die entscheidende Bruchstelle nicht im Hier und Heute zu suchen, sondern vor etwa 30 Jahren. Damals begann die Krise jenes Konzeptes, das durch Vollbeschäftigung und Umverteilung des Wachstums den gesellschaftlichen Zusammenhalt garantierte. Die Frage, wie Wachstum und Vollbeschäftigung, die ökonomische Basis des sozialstaatlichen Arrangements, gefördert werden können, bestimmt seitdem die Tagesordnung der Politik.

Der Zwang zur pragmatischen Anpassung der Politik an die Bedürfnisse der Wirtschaft, dieser Zwang veränderte auch das Verständnis von Politik bis in die Sozialdemokratie hinein. Effizienzorientierung, der Staat als "Deutschland AG" und die Mode, vom Bürger als "Kunden" zu sprechen, veränderten wiederum die Ansprüche der Bürger an den Staat. Als Kunde tritt er ihm nicht mit Rechten und Pflichten gegenüber, sondern fragt nach dem Kosten-Leistung-Verhältnis.

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Die Ökonomisierung des Politischen zählt offensichtlich zu den prägenden Erfahrungen und Erwartungen einer ganzen Generation. Über zwei Jahrzehnte galt der Primat der Ökonomie. Privatisierung und Deregulierung, das Ideal eines "schlanken Staates" und die Philosophie einer "Eigenverantwortung", die sich nicht am anderen orientiert, sondern zur bloßen Sorge um sich selbst wird, haben tiefe Spuren hinterlassen.

Anfang der achtziger Jahre, in der Zeit der konservativen Vorherrschaft in den USA und Europa, formulierte Ralf Dahrendorf, wir erinnern uns, seine berühmte These vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts. Als es in den neunziger Jahren über die Thematisierung der sogenannten "Gerechtigkeitslücke" neoliberaler Reformpolitik zu einer Renaissance der demokratischen Linken in Europa kam, verfolgte diese unter den herrschenden ökonomischen Vorgaben einen pragmatischen, gesellschaftspolitisch akzentuierten Kurs, der auf ein Bündnis mit den neuen Mittelschichten zielte, eine vom Aufstieg der neuen Technologien profitierende, gut ausgebildete und weltgewandte Generation. Der Erfolg, eine neue politische Mehrheitsbasis, kann aber nicht über die neuen Probleme hinwegtäuschen.

Die Lebenswelt des unteren Drittels der Gesellschaft ist durch wachsende Probleme der Unsicherheit gekennzeichnet. Kriminalität, soziale Degradierungserfahrungen und kulturelle Verdrängungsängste angesichts wachsender Zuwanderung sind zunehmend deren Thema. Rechtspopulistischen Parteien gelang es daraufhin, Stimmen aus diesen Schichten an sich zu ziehen und die Mehrheitsfähigkeit der sozialdemokratischen Linken in vielen Ländern Europas zu beenden. Davon profitierten schließlich konservative Parteien - man denke an Italien, Österreich, Dänemark und die Niederlande, zuletzt auch an Frankreich.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, meine Damen und Herren, lehrt uns, dass Modernisierungsschübe Brüche im sozialen Zusammenhalt verursachen. Wenn sich dies koppelt mit der Politik- und Demokratieverachtung gesellschaftlicher Eliten, die selbst unter die Mühlen des gesellschaftlichen Wandels geraten,

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entsteht eine Mischung, die autoritäre Bewegungen und Regime begünstigt.

Ralf Dahrendorf, der ein passionierter Liberaler ist, sieht im Blick auf das 21. Jahrhundert zwei Gefahren, die das "Fegefeuer der Modernisierung" heraufbeschwört: die Gefahr der Anomie, der Gesetzlosigkeit, und die Gefahr der Tyrannei, der Diktatur. Beide Gefahren begünstigen einander und bedrohen die westliche Zivilisation nicht nur von außen, sondern auch von innen.

Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer stellte im vergangenen Jahr fest, dass Angst und Verunsicherung über die gesellschaftliche Entwicklung die Wahrnehmung von mehr als der Hälfte der Bevölkerung in Deutschland bestimmen. Und der Sozialpsychologe Harald Welzer schrieb im letzten Herbst von einer mehrheitlichen "Kultur der geringst möglichen wechselseitigen Belästigung" in unserem Land. Das bedeute, dass sich die in der Minderheit befindlichen Verlierer in einer "Kultur des beständigen Verfestigens von Benachteiligung und Ungerechtigkeit" wiederfänden.

Der seit der Nachkriegszeit gewachsene soziale Zusammenhalt erodiert merklich. Die Herausforderung unserer Zeit, die Arbeitslosigkeit, wurde zum Massenphänomen. Wenn Arbeit immer mehr die Rolle des gesellschaftlichen Integrators verliert, dann bildet sich eine Schicht heraus, von der Hannah Arendt gesprochen hat: eine Restbevölkerung, Arbeiter ohne Arbeit, "Überzählige" in der Gesellschaft.

Das unterscheidet die neue soziale Frage von den Anfängen der Sozialdemokratie. Bei aller Not der Lage der Arbeiter, sie waren damals nicht "Überzählige", sondern Ausgenutzte. Und das Problem tritt auf in einer grundlegend veränderten Gesellschaft. In dieser gelang es nämlich - nicht zuletzt ein Erfolg der Sozialdemokratie -, dass die Menschen über Arbeit nicht nur ihren ökonomischen Status definieren konnten, sondern auch ihren politischen, also in Rechte und Pflichten eintraten, die ihnen ermöglichten, sich als Bürger zu identifizieren. Dem modernen Individuum stehen aber, anders als dem Proletariat des 19.

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Jahrhunderts, im Falle des Ausgeschlossenseins solche Stützen wie Familienzugehörigkeit oder Klassensolidarität nicht mehr zur Verfügung.

Welche Lehren lassen sich heute aus dem Jahrhundert der Sozialdemokratie ziehen, in dem es gelang, die Arbeit zur Basis sozialer Anerkennung werden zu lassen und einen Sockel von Sicherungssystemen gegen Not und Krankheit darauf aufzubauen?

Lassen sich diese Erfahrungen auf eine postindustrielle, nicht mehr durch stabile Regime der Arbeit bestimmte Gesellschaft anwenden - und was muss an die Stelle treten, wenn Arbeit ihre zentrale Rolle in den gesellschaftlichen Beziehungen und für den gesellschaftlichen Status einbüßt oder einzubüßen droht?

Die Forderung nach sozialen und demokratischen Grundrechten bedeutete von Anfang an, dass die Demokratie mit der Lösung der sozialen Frage verbunden ist. Das Statut des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins von 1863 zielte auf eine, ich zitiere noch einmal daraus, "eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes", also parlamentarische Vertretung. Politische und soziale Emanzipation - angefangen mit der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechtes und grundlegender Arbeitsrechte, waren der Anfang für die Realisierung einer Staatsbürgerschaft, die auf ökonomischen und sozialen Rechten und Pflichten beruht, Verantwortlichkeiten und Anerkennung garantiert, und zwar auf der Basis von Arbeit. Die fiktiven Eckpfeiler dieses Konzepts sind Recht auf Arbeit und Recht durch Arbeit.

Der Sozialstaat, der später zur sogenannten "Geschäftsgrundlage der sozialen Demokratie" wurde, hat in dieser Kombination von politischen und auf die Organisation der Arbeitswelt bezogenen Forderungen seine Wurzel. Hier wird auch der Unterschied zum "Wohlfahrtsstaat" deutlich, der seinen Ursprung im alten feudalen Patronagesystem hat, einem Korsett mildtätiger Freigiebigkeit und moralischer Abhängigkeit, das den Klassengegensatz zementiert, statt ihn aufzuheben. Die eigentliche Leis-

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tung des Sozialstaates, wie er in einer über 100jährigen Geschichte entstand, ist nach meiner Überzeugung etwas fundamental anderes: Der Sozialstaat machte, verwandelte den Schwachen, den Bedürftigen aus einem Objekt gewiss löblicher Caritas zu einem Subjekt von Rechtsansprüchen und gab ihm so, soweit Politik und Staat das überhaupt können, ein Moment der Würde zurück. Dass inzwischen mit diesem Sozialstaat auch eine Sozialstaatsbürokratie verbunden ist, die dieses Subjekt wieder teilweise in ein Objekt zurückverwalten will, das wissen wir auch und daran laborieren wir. Und unter anderem deswegen brauchen wir Reform.

Die Krise des Sozialstaates, der auf Inklusion durch Arbeit beruht, bedeutet auch eine Gefährdung der demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft. Deshalb können wir getrost behaupten, dass das Problem der Sozialdemokratie, ihr Ringen um ein tragfähiges Umbaukonzept für den Sozialstaat, mehr als ein Problem einer Partei ist. Die mögliche Weggabelung, die Entscheidungssituation, vor der wir stehen, betrifft letztlich die ganze Gesellschaft.

Der Fokus der gegenwärtigen Entscheidungen richtet sich vor allem auf die Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme. Es geht aber um mehr als fehlendes Geld, es geht auch um den Verlust an Kredit, also an Vertrauen. Das heißt womöglich, die Lage ist noch ernster, weil Geld allein den Sozialstaat nicht mehr so wiederherstellen könnte, wie er einmal war. Was hat dazu geführt?

Dazu gehören auch Fehlentwicklungen, die der Sozialstaat von sich aus genommen hat und die die Ambivalenz mancher Errungenschaften verdeutlichen:

1. Ein eingebautes Wachstumsversprechen, also die Finanzierung aus den Zuwächsen. Das erleichterte zwar den Zuschlag für die Unternehmen, aber nun fällt es auf diese zurück.

2. Ein zunehmender staatlicher Interventionismus, der Sicherheit und Bürokratie ausweitete und ein notwendiges Maß an

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Eigenverantwortung immer mehr zurückdrängte. Das kommt auf dem Höhepunkt sozialstaatlicher "Vollkommenheit" in den "neuen sozialen Bewegungen" der siebziger Jahre zuerst zum Ausdruck - im Verlangen nach Verantwortungsübernahme statt nach voller sozialstaatlicher Versorgung.

3. Ein individualistisches Anspruchsdenken, das auf der Grundlage einer weitgehenden Absicherung gewissermaßen als Nebenprodukt entsteht, weil - ohne eigene Noterfahrung und Abhängigkeit von Solidarität - der Eindruck entsteht, für sich selbst Abgaben entrichtet zu haben.

4. Eine daraus folgende Weigerung, nun, nachdem immer zahlreicher werdende Nicht-Erwerbstätige davon wirklich abhängen, für diese zahlen zu müssen.

Der Individualismus, der hier zum Vorschein tritt, stützt sich auf objektive Ressourcen und kollektive Sicherheiten. Er ist ein Produkt des Sozialstaates, aber er ist nicht ohne ihn zu haben.

Wenn man glaubt, nur die emanzipatorische Seite des modernen Individualismus nutzen und zum Träger zivilgesellschaftlich organisierter Eigenverantwortung machen zu können, vergisst man, dass gerade das moderne Individuum auf den Sozialstaat angewiesen ist, weil die überkommenen Formen der Solidarität erschöpft sind.

Wenn es heute gewiss richtig ist, nicht ein Mehr an Staat zu fordern, um mit Macht das alte Gebäude der Erwerbsgesellschaft der siebziger Jahre wieder aufzurichten, so brauchen wir doch ein neues Verständnis des Staates, der mit seinen Interventionen den Individualisierungsprozess abstützt und sein Mandat weiter erfüllt, der Garant der Rechte und Zugehörigkeit aller zu sein.

Die Reform des Sozialstaates - wörtlich heißt Reform Wiederherstellung - ist folglich unvermeidlich. Diese Reform muss die durch Bildung und Selbständigkeit größer gewordene soziale Mobilität in das System der sozialen Sicherung einbinden, weil nur so die größeren Anforderungen an berufliche Flexibilität ermöglicht werden.

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Ich meine, wir haben angesichts der wirtschaftlichen Lage gar keine andere Wahl, als alle Instrumente wirtschaftlicher Steuerung und sozialer Sicherung nach ihrer Reformfähigkeit abzuklopfen, und zwar mit dem Ziel, ein - wie sagen wir jetzt immer - "globalisierungsfestes" Sozialmodell europäischer Reichweite auszubauen.

Das ergibt sich notwendigerweise aus der immer schwächer werdenden Rolle des Nationalstaates. Dieser garantierte Kompromiss zwischen den Sozialpartnern innerhalb seiner Grenzen, indem er für Wachstum und Vollbeschäftigung mit den Instrumenten finanz- und wirtschaftspolitischer Steuerung sorgte. Deren Versagen bezeichnet zugleich die politische Herausforderung, um die es geht.

Seit langem diskutieren wir dieses Problem eben unter dem Stichwort "Globalisierung". Die "digitale" Revolution hat im vergangenen Jahrzehnt in zuvor nicht vorstellbarer Weise Produktions- und Austauschprozesse globalisiert und beschleunigt. Dieser Wandel ist vergleichbar mit jenem, den die industrielle Revolution für die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen darstellte. Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen und die Wiederkehr prekärer Arbeitsverhältnisse dringen immer stärker in die entwickelten Sozialstaaten vor.

Technisch ist die "Globalisierung" eine nicht mehr umkehrbare Rahmenbedingung unserer Zeit. Ökonomisch ist dieser Entwicklungsimpuls in atemberaubender Geschwindigkeit, aber auch mit tiefen Brüchen umgesetzt worden. Globale Märkte wurden etabliert, ganze Regionen sind aber auch von ihnen ausgeschlossen. Wissenschaft und Technik, Kultur- und Umweltprobleme, aber auch Migration, Terrorismus und organisierte Kriminalität lösen zusätzlich einen weltweiten Bedarf an politischer Gestaltung und rechtlichen Institutionen aus.

Aus diesem Grunde ist die zweite, für uns immer bedeutsamer werdende Entwicklung die "Europäisierung". Auch hier geht es nicht nur um neue Größenordnungen, sondern um eine regelrechte Neugründung und um die einzige Möglichkeit, die

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von den Nationalstaaten abgezogenen oder erodierten Souveränitäten und Steuerungsfähigkeiten neu zu etablieren.

Die Europäische Union wird immer mehr zum Inbegriff eines Gestaltungsraums, zur zentralen Instanz von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Die in den nationalen Institutionen verkörperten demokratischen Kulturen gewinnen in diesem Prozess der Souveränitäts- und Legitimitätsverschiebung an Bedeutung, wenn neben dem bislang dominanten Wirtschafts- und Währungsregime auch andere Bereiche miteinander in Europa harmonisiert werden (u.a. Steuern, soziale und kulturelle Standards). Es ginge dann um eine europäische Teilhabegesellschaft, um eine europäische Bürgergesellschaft auf der Basis ihrer sozialstaatlichen Traditionen und Vielfalt. Deutschland verschaffen dabei gewiss die föderalen Traditionen manchen Vorsprung an Erfahrung. Die eigentlichen Bewährungsprobleme der Europäisierung, das sind zunächst die Schaffung einer zusammenwachsenden Arena der gesellschaftlichen Akteure, eine Verfassungsordnung mit einer demokratischen Öffentlichkeit. Daraus muss letztlich ein Prozess gemeinsamer Willensbildung wachsen, der die politische Handlungsfähigkeit Europas in der Welt begründet.

Trotzdem und trotz der notwendigen Erweiterung des Blickes auf Europa: Die Rede vom Verschwinden des Nationalstaates führt in die Irre wie seine Beschwörung als einzigen Garanten politischen und sozialen Zusammenhalts. Er bleibt bedeutsam wie die kommunale und städtische Demokratie, zumal in Deutschland mit seiner starken Tradition kommunaler Selbstverwaltung. Die Zukunft der Stadt und urbaner Regionen ist ebenso wichtig wie die der Staaten und transnationalen Föderationen, weil in einer zunehmend verstädterten Welt keine globalen politischen Beziehungen mehr vorstellbar sind, die nicht im Leben der Städte vorgebildet werden. Die Kommune bleibt in der Welt der Kommunikationsraum, der für Identität und selbst für eine moderne Form der Sesshaftigkeit steht und nicht zuletzt für die Arbeitsbeziehungen der meisten Menschen.

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Deutschland ist ein reiches Land. Wer wird das bestreiten! Die Bevölkerung, das sind in Deutschland in großer Mehrzahl gut ausgebildete und leistungsbereite Menschen, die bei aller Individualisierung immer doch auch noch für die Belange des Gemeinwohls einstehen. Die Deutschen sind in ihrer Mehrheit weder reine Besitzstandswahrer noch bloße Anspruchsträger, sondern sie arbeiten hochproduktiv und lassen immer wieder eine tief verwurzelte Kultur der Solidarität erkennen, die erstaunliche Kräfte der Hilfe und der Selbsthilfe freisetzt. In Extremsituationen staunen wir über uns selbst, dass wir nicht nur ein Volk von Egoisten sind, zuletzt bei der Flutkatastrophe. Was also hindert uns, bei den vor uns liegenden Reformaufgaben auf diese Bereitschaft der Menschen zu setzen?

Es wird immer ein Mandat, denke ich, für sozialdemokratische Politik geben, solange die gegebene Verteilung von Chancen, von Macht und Ressourcen nicht hinnehmbare Ungleichheiten erzeugt - und solange die Überzeugung in ihren Reihen lebt, dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten nicht alternativlos gegeben sind, sondern zum Besseren gewendet werden können.

Deshalb und angesichts der gegenwärtigen Auseinandersetzung zum Schluss ein Plädoyer für die Agenda 2010 und die Entscheidungsfragen, um die es geht.

1) Die Globalisierung

Mit ihr sind Chancen für wissenschaftlich-technischen, wirtschaftlichen Fortschritt ungeahnten Ausmaßes verbunden, aber auch eine Kehrseite, die charakterisiert ist durch eine radikale Verschärfung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit auf der Welt. Die reichsten 20% der Menschheit haben 150mal mehr als die ärmsten 20%. Die Grenzen nationalstaatlicher Steuerungsmöglichkeiten für Kapital und Arbeit sind durch Entgrenzung - also durch den Weltmarkt - entfallen. Damit stehen auch die Gestaltungsmöglichkeiten und die Gestaltungskraft der Politik in Frage, jedenfalls auf dem Prüfstand. Die einzig realistische

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Antwort darauf ist die Europäische Union, eine gemeinsame europäische Konjunktur-, Struktur-, Sozial-, Ökologiepolitik, jedenfalls der Versuch, Schritt für Schritt gemeinsame Standards auf all diesen Feldern zu entwickeln.

2. ) Die Krise des tradierten Fortschrittmodells

Ich meine die Krise unseres Bewusstseins von ungebrochenem quantitativen Wachstum. Formeln wie Nachhaltigkeit können diese Lücke längst noch nicht füllen. Deshalb lautet die Herausforderung, Wege zu einem neuen Fortschritt, ein modernes Konzept von Fortschritt zu erarbeiten, das Orientierung bietet für den Übergang von einer industriellen in eine postindustrielle, von einer Arbeits- in eine Wissensgesellschaft.

3.) Knappheit

Nach meiner Überzeugung erleben wir das Ende des Grundmusters der westdeutschen Erfolgsgeschichte der vergangenen 50 Jahre. Neidvoll habe ich als Ossi beobachtet, und es Anfang der 90er Jahre einmal in aller Naivität ausgedrückt: Warum konnten alle sozialen Konflikte in der alten Bundesrepublik so friedlich gelöst werden? Weil am Schluss immer Zuwächse zu verteilen waren, wenn auch nicht an jeden gleichermaßen. Diese Zeit ist offensichtlich zunächst einmal vorüber, wir haben dramatische finanzielle Probleme, Steuereinbrüche gigantischen Ausmaßes, Defizite in allen Systemen. Wie kann man ein Land regieren, das auf absehbare Zeit nicht mehr das Wirtschaftswachstum zustande bringen wird, an das es 50 Jahre lang gewöhnt war? Wie groß ist die Veränderungsbereitschaft der Bürger? Ich bin optimistisch, aber ohne Zweifel werden die notwendigen Veränderungen heftigen Widerstand hervorrufen. Wird die Politik dies schaffen?

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4.) Das Demographieproblem

Wir werden älter, das ist wunderbar. Aber die durchschnittliche Lebensarbeitszeit hat sich verringert von 45 auf 38 Jahre. Wir werden älter, aber 60% der deutschen Unternehmen haben keine Arbeitnehmer über 50. Das ist eine Folge oder, vorsichtiger gesagt, eine Nebenwirkung der längeren Bezugsdauer von Arbeitslosengeld seit 1985. Wir werden älter, aber Wissen und Erfahrung der Älteren werden weniger denn je in Anspruch genommen. Wissen und Erfahrung veralten schneller als früher. Wir werden älter, das heißt, wir nehmen länger Gesundheits- und Altersversorgungsleistungen in Anspruch. Dadurch werden sie unvermeidlich teurer, das belastet die aktive Generation der Beitragszahler, das verteuert Arbeitsplätze da sie aus Arbeit größtenteils finanziert werden. Notwendig ist also, und da dürfen wir uns nichts mehr vormachen, eine durchgreifende Veränderung unserer Sozialsysteme - ich bin der persönlichen Überzeugung, dass die Agenda 2010 nur ein erster, aber wichtiger und großer Schritt ist. Er erfordert unter anderem die Antwort auf die Frage, wie die solidarische Umverteilung, der soziale Ausgleich, ein Kernstück sozialdemokratischer politischer Grundüberzeugung, neu zu schaffen ist.

Dass Politik die Aufgabe hat, die Ungerechtigkeiten, die der Markt unweigerlich erzeugt, durch Gerechtigkeitspolitik auszugleichen, davon bin ich überzeugt. Die Frage ist, ob diese solidarische Umverteilung und der soziale Ausgleich zwischen reich und arm, leistungsstark und leistungsschwach, arbeithabend oder arbeitslos, gesund und krank, ledig oder mit Familie mit Kindern, ob dieser soziale Ausgleich weiter vorrangig über unsere Sozialversicherungssysteme, die aus Beiträgen und aus Arbeit finanziert werden, oder ob er nicht künftig aus Steuern finanziert werden soll. Wir haben die Frage immer mal wieder diskutiert, vor uns her geschoben, aber sie stellt sich neu angesichts der Realitäten.

[Seite der Druckausg.: 61]

5.) Arbeitslosigkeit

Seit 30 Jahren steigt die Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zugleich wird in keinem anderen Land oder kaum einem anderen Land so viel Geld ausgegeben, um sie zu überwinden - mit vergleichsweise geringerem Erfolg als in vergleichbaren sozialdemokratisch geprägten Ländern, man schaue nach Schweden, nach Dänemark, nach Holland usw. Notwendig sind angesichts dieser schlichten und brutalen Tatsache eine Überprüfung aller Instrumente und eine Umkehr der Beweislast. Wer für den Status quo ist, hat zu beweisen, dass damit diese Tendenz einer 30jährigen Zunahme von Arbeitslosigkeit gebrochen werden kann. Und wir müssen die Beschäftigungsschwelle senken, also jene Schwelle des Wachstums, bei der neue Beschäftigung entsteht. Sie ist in Deutschland im internationalen Vergleich deutlich höher, etwa bei 2% im Vergleich z.B. zu den Niederlanden, wo sie bei 1,1% ist. Also wir brauchen, und das tut weh und darüber streiten wir, wie wir das machen, Abbau von Beschäftigungshemmnissen verschiedenster Art.

6.) Die Individualisierung

Dies zuletzt und ich habe es schon genannt: die Emanzipation des Individuums aus seinen klassischen Bedingungen, die Tatsache, dass es keine Klassen, keine festen sozialen Milieus mehr gibt, die gewissermaßen naturwüchsig Solidarität erzeugen, dagegen aber eine wachsende Bereitschaft, einen stärker gewordenen Willen zur Selbstgestaltung und Selbstbestimmung, gewachsenes zivilgesellschaftliches Bewusstsein. Wie können wir das zum Gegenstand und Motor unserer Politik machen? Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen haben wir neu über Gerechtigkeit und Solidarität zu debattieren und praktische, folgenreiche Entscheidungen zu treffen.

Dass diese Debatte, dass dieser Streit schmerzlich ist und die SPD fast zerreißt im gegenwärtigen Moment, sagt nicht, dass er nicht notwendig wäre. Er ist notwendig, und dass wir ihn führen,

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darin erweist sich die SPD wiederum als eine wirkliche Volkspartei.

Was ist der Kern sozialdemokratischer Identität, das war die Frage, die an die Historiker gestellt worden ist. Kern sozialdemokratischer Identität war und ist nach meiner Überzeugung die Idee von gleicher Freiheit. Sie ist das Kernstück unserer Gerechtigkeitsvorstellungen. Denn das ist eine kollektive geschichtliche und soziale Erfahrung: Der rechte Gebrauch und Genuss von Freiheit ist an Voraussetzungen gebunden, für die die Freiheit nicht schon selber sorgt, sondern für die Gerechtigkeitspolitik sorgen muss. Und zu den elementarsten und entscheidenden Voraussetzungen von gleicher Freiheit gehörten und gehören heute wieder Teilhabe an Bildung, Teilhabe an Arbeit, Teilhabe an Demokratie. Das ist alles gewiss nicht neu. Das ist ein Moment der Kontinuität, unserer Tradition.

Wie heißt doch das berühmte und immer wieder zitierte Wort von Jean Jaurès: "Tradition bewahren, heißt nicht, Asche verwalten, sondern ein Feuer am brennen halten."

[Seite der Druckausg.: 63-64]



In der Druckausgabe dieser Publikation ist auf den Seiten 63-64 eine Übersicht über die Titel der "Reihe Gesprächskreis Geschichte" bis Bd. 50 abgedruckt


Für die aktuelle Orientierung über die Reihen-Titel benutzen Sie in der Online-Edition bitte die Datenbank-Abfragen unseres Kataloges der "Digitalen Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung":


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