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TEILDOKUMENT:

Podium
1848 oder 1863? Zur Gründung der deutschen Sozialdemokratie

[Seite der Druckausg.: 11]

Podiumsgespräch

1848 oder 1863? Zur Gründung der deutschen
Sozialdemokratie

Prof. Dr. Jürgen Kocka,
Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung

Dr. Toni Offermann,
Kall-Wallenthal

Dr. Heinrich Potthoff,
Königswinter

Privatdozent Dr. Thomas Welskopp,
z.Zt. Universität Göttingen

Prof. em. Dr. Hartmut Zwahr,
Universität Leipzig

Moderation:
Prof. Dr. Dieter Dowe,
Leiter des Historischen Forschungszentrums
der Friedrich-Ebert-Stiftung

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Auf dem Podium (v.l.): Potthoff, Zwahr, Dowe, Kocka, Welskopp, Offermann



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In der 1. Reihe (v.l.): Fuchs, Thierse, Tiefensee, Burckhardt; auf dem Podium (v.r.): Kocka, Dowe, Potthoff

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Dowe:

Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu unserem Podium "1848 oder 1863? Zur Gründung der deutschen Sozialdemokratie", das anlässlich des 140. Parteijubiläums der SPD die Gründungsproblematik in den Blick nehmen und erörtern soll. Ich freue mich, dass wir eine so hochkarätige Besetzung unseres Podiums erreicht haben.

Da ist zum einen Herr Prof. Dr. Jürgen Kocka, Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Präsident des Internationalen Historikerverbandes. Er ist Ihnen aus zahlreichen Publikationen zu allen Bereichen der Gesellschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ein Begriff. In diesem Kontext verweise ich nur auf die von ihm verfassten ersten beiden Bände zu der von der Friedrich-Ebert-Stiftung geplanten, insgesamt auf 15 Bände berechneten Reihe "Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts". Die Bände 3 und 4, letzterer gemeinsam mit Privatdozent Dr. Thomas Welskopp und Dr. Jürgen Schmidt geplant, stehen noch aus.

Herr Welskopp, der zur Zeit eine Lehrstuhlvertretung in Göttingen wahrnimmt, hat eine vergleichende Dissertation über Arbeit und industrielle Beziehungen in der Hüttenindustrie in Deutschland und in den USA im 19. und 20. Jahrhundert geschrieben, aber vor allem eine große, für unser heutiges Thema zentrale Habilitationsschrift "Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz", die 2000 im Verlag J.H.W. Dietz Nachf. erschienen ist.

Herr Dr. Toni Offermann, im Gymnasialdienst tätig, hat im selben Haus zwei gewichtige Werke veröffentlicht, die für unsere Thematik einschlägig sind, seine Dissertation von 1979 über "Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in Deutschland 1850 bis 1863" und, im vorigen Jahr, ein Werk über "Die erste deutsche Arbeiterpartei. Organisation, Verbreitung und Sozialstruktur von ADAV und LADAV 1863 bis 1871".

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Herr Prof. Dr. Hartmut Zwahr, vor kurzem an der hiesigen Universität emeritiert, braucht in Leipzig wahrlich nicht vorgestellt zu werden. In unserem Zusammenhang möchte ich nur auf seine Habilitationsschrift verweisen, die 1978 in der DDR, drei Jahre später in der Bundesrepublik erschienen ist und uns alle sehr beeindruckt und beeinflusst hat. Der Titel: "Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution". Hans-Ulrich Wehler hat diese Studie kürzlich "das einzige Glanzstück der DDR-Produktion zur Arbeitergeschichte" und darüber hinaus genannt.

Herr Dr. Heinrich Potthoff, langjähriger Mitarbeiter der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, heute freier Publizist, hat zahlreiche Monographien und Editionen zur Geschichte von Sozialdemokratie und Gewerkschaften sowie zur Deutschlandpolitik veröffentlicht, zuletzt die 8., aktualisierte und erweiterte Auflage seines mit Susanne Miller herausgegebenen Standardwerks "Kleine Geschichte der SPD 1848 bis 2002". Herr Potthoff war lange Jahre Stellv. Vorsitzender der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD.

Ich selbst leite das Historische Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Archiv der sozialen Demokratie, der Bibliothek und der Forschungsabteilung in Bonn und dem Karl-Marx-Haus in Trier.

Meine Damen und Herren, am 23. Mai 1863 traten im festlich geschmückten Collosseum hier in Leipzig Delegierte von Arbeitervereinen und offenen Arbeiterversammlungen vor allem aus Gebieten nördlich der Main-Linie zusammen, um einen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, kurz ADAV, zu gründen. Dieser ADAV ging von der zukunftsweisenden Auffassung aus, "dass nur durch das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes und eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegensätze in der Gesellschaft herbeigeführt werden kann." Im

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gleichen Paragraphen 1 der Vereinsstatuten wurde als Vereinszweck formuliert: "auf friedlichem und legalem Wege, insbesondere durch das Gewinnen der öffentlichen Überzeugung für die Herstellung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts [damals, wohl gemerkt, nur für Männer] zu wirken." Die Frauen kamen erst 1875 in die Programmatik der Sozialdemokratie hinein. Als soziale Hauptforderung zur Hebung der arbeitenden Klasse, also zur Lösung der sozialen Frage, wurde die Errichtung von Produktionsgenossenschaften der Arbeiter mit Hilfe von staatlichen Krediten erhoben. Dieses Mittel erwies sich jedoch relativ schnell als untauglich. Der Tag der Gründung des von dem bürgerlichen Schriftsteller Ferdinand Lassalle maßgeblich geprägten und durchaus autoritär geführten ADAV gilt der SPD traditionell als ihr Gründungstag. Darauf werden wir noch näher eingehen. Eins steht aber fest: Die Wurzeln der Sozialdemokratie gehen wesentlich weiter zurück, nämlich bis zur Revolution von 1848 bzw. zu dessen Vorabend, dem sogenannten Vormärz. Über die Bedeutung der Geheimbünde wandernder deutscher Handwerksgesellen und politischer Flüchtlinge im Ausland einerseits und der ersten Massenorganisation deutscher Arbeiter im Deutschland der Revolutionszeit, der sogenannten "Arbeiterverbrüderung", werden wir noch sprechen, ebenso wird das Verhältnis des ADAV zu einer auch 1863, nur ganz wenig später, gegründeten Konkurrenzorganisation zu erörtern sein. In diesem Vereinstag, später Verband deutscher Arbeitervereine gewann August Bebel eine zentrale Bedeutung. Die politische Landschaft war also um die Mitte und kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts weitaus komplizierter, als sie sich auf den ersten Blick darstellt.

Herr Kocka, Sie haben sich intensiv mit der 1848er Revolution beschäftigt. Welche Ausprägungen hat die demokratische und soziale Bewegung des Vormärz und der Revolution von 1848 im Kontext der deutschen Geschichte gehabt und welche Bedeutung hat sie für die Entwicklung der Sozialdemokratie gewonnen?

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Blick in das Foyer der Alten Handelsbörse



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Jürgen Kocka

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Kocka: Für diese Frage habe ich sechs Minuten. Ich werde sie ganz kurz in einigen Stichpunkten zu beantworten versuchen. Ein großes historisches Phänomen wie die deutsche Arbeiterbewegung hat keinen auf einen bestimmten Tag zu datierenden Anfang, vielmehr eine Phase des Anfangs, und wie man sich für 1863 als Beginn entscheiden kann, so kann man sich auch für 1848 entscheiden. Dies hätte den Vorteil, dem Streit zwischen 1863 und 1869, dem Jahr der Gründung der Eisenacher Partei, zu entgehen! Die Revolution von 1848/49 galt lange und gilt vielen immer noch als eine bürgerliche Revolution. Aber das hat die Forschung seit langem revidiert. Sie hat den großen Beitrag der Arbeiter und anderer unterbürgerlicher Gruppen zu dieser Revolution herausgearbeitet. Woran ist dabei zu denken? Nicht an das Parlament, jedenfalls nicht an die Paulskirche, wo bekanntlich sehr stark Bürger vertreten waren und sehr wenig unterbürgerliche Gruppen. Aber wenn man an die außerparlamentarischen Straßenkämpfe und Bürgerkriege denkt, vom März 1848 bis zum Mai 1849, als noch einmal versucht wurde, die Errungenschaften der Paulskirchenversammlung zu verteidigen, da waren Handwerksgesellen, Arbeiter, Heimarbeiter, kleine Handwerksmeister und andere unterbürgerliche Gruppen entscheidend. Wenn man an die außerparlamentarische Vereins- und Kongressbewegung denkt, waren in ihr ebenfalls sehr stark Arbeiter vertreten. Ein Netz von Arbeitervereinen entstand und beeinflusste die Revolution sehr stark, wie auch die neu entstehenden Gewerkschaften es taten, insbesondere die Gewerkschaften der Zigarrenarbeiter und der Buchdrucker und Setzer. Natürlich waren das Arbeiter bestimmter Art. Sehr wenig Fabrikarbeiter waren darunter - damals gab es noch nicht viele Fabriken -, sehr viele Handwerksgesellen, sehr viele Heimarbeiter und Personen zwischen prekärer Selbständigkeit und Lohnarbeiterstatus. Der große Beitrag der Arbeiter zur Revolution von 1848/49 ist das eine.

Zum anderen: Die erste große Massenorganisation der Arbeiterbewegung entstand nicht 1863, sondern 1848/49 in Gestalt

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der "Arbeiterverbrüderung" unter Leitung Stephan Borns. Sie hatte 1849 170 Ortsvereine und 1850 18.000 Mitglieder. Das war erheblich. Die "Arbeiterverbrüderung" wurde zerschlagen, doch sie wirkte weiter in die zweite Gründungsphase der deutschen Arbeiterbewegung in den 1860er Jahren hinein, sowohl personell wie mit ihrem organisatorischen Wissen, über Erinnerung. Auch was die politischen Forderungen betrifft, zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass 1848 nicht nur eine bürgerliche Revolution war, vielmehr wurden ihre Ziele auch von einem erheblichen Teil der entstehenden Arbeiterbewegung getragen. Natürlich gab es Spannungen. Die hauptsächlichen Ziele der Revolution von 1848/49 waren von liberalen, demokratischen Bürgern definiert worden, und an vielen Stellen wollte die entstehende sozialdemokratische Arbeiterbewegung mehr, sie wollte gründliche Demokratisierung und sie wollte soziale Rechte; Freiheit ja, aber eben auch soziale Gerechtigkeit; aber im Vordergrund standen in dieser Kampfzeit doch gemeinsame Ziele. Das war die Abschaffung der noch übrigen feudalen Rechte, das war die kritische Revision des Obrigkeits- und Militärstaats, das waren vor allem Partizipation, Teilhabe und schließlich Verfassung, Menschenrechte und Bürgerrechte. Zu erinnern ist auch daran, dass auch beide gemeinsam verloren: die Revolution von 1848/49 insgesamt wie dieser erste Aufschwung der Arbeiterbewegung. Beides wurde in den 1850er Jahren zerschlagen. Und schließlich, wenn man sich ansieht, wer in den darauf folgenden Jahrzehnten das Erbe der Revolution von 1848/49 gelobt und hochgehalten hat, dann waren es eben schon 50 Jahre später nicht die Liberalen und nicht die Konservativen, sondern wenige Bürger auf der links-liberalen Seite, vor allem aber die sozialdemokratische Arbeiterbewegung.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, eigentlich bis 1949, war die Erinnerung an die Revolution von 1848/49 in Deutschland kontrovers und es war die Linke, es war insbesondere die Sozialdemokratie, die sich auf den Standpunkt stellte, dass das zwar nicht ganz ihre Revolution gewesen sei, aber doch zu einem

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großen Grad. Alles spricht also dafür, 1848/49 als das Entstehungsjahr der deutschen Arbeiterbewegung zu sehen bzw. als eines der zwei oder drei Entstehungsjahre. Warum ist das nun so wichtig? Solche Einordnungen sind nie ohne politische Nebengedanken. Meine Nebengedanken sind die folgenden:

  1. 1848/49 zeigte sich die junge Arbeiterbewegung sehr stark als eine, heute würden wir sagen, zivilgesellschaftliche Bewegung, als ein Netzwerk sich engagierender, aber unbürokratisch arbeitender Arbeiter und Intellektueller der verschiedensten Art, und ich glaube, dass die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, insbesondere im 19. und frühen 20. Jahrhundert, eine der stärksten zivilgesellschaftlichen Bewegungen überhaupt war, ohne dass sie dieses Wort für sich benutzt hat. Es war eine Bewegung, die sehr stark spontan zusammen kam, die sich sehr stark um allgemeine Dinge bemühte, die nicht von vornherein auf den damals ihr gar nicht zugänglichen Staat setzte, gleichzeitig auch scharfe Kritik am Markt übte. Die auf etwas zwischen Staat und Markt hinarbeitete, das wir heute mit Gemeinsinn, mit Verständigung, mit Konfliktbereitschaft fassen, mit der Bereitschaft, die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen und sich gemeinsam, kollektiv, genossenschaftlich darum zu kümmern, was wir insgesamt als zivilgesellschaftlich bezeichnen.
  2. Diese "Arbeiterverbrüderung" war schon eine sozialdemokratische Bewegung, doch sie befand sich noch im engen Verbund mit dem noch sehr liberalen Bürgertum, mit der bürgerlichen Demokratie, mit dem demokratischen Flügel des Liberalismus. 1863 war das schon nicht mehr der Fall - aus Gründen, auf die wir vielleicht gleich noch eingehen, aber es lohnt sich, an diese Kooperation sich zu erinnern.
  3. Heute, wo, um Friedhelm Farthmann zu zitieren, die orthodoxe Sozialpolitik an ihre Grenzen geraten ist und ein Umbau des Sozialstaats, wie wir alle wissen, ansteht, kann es

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    nützen, sich an die starke zivilgesellschaftliche Tradition zu erinnern, die weder sozialer Obrigkeitsstaat noch Marktliberalismus war, sondern soziales bürgerschaftliches Engagement. Und die Erinnerung an diese Tradition kann vielleicht helfen, sich mit den gegenwärtigen, sehr aktuellen Herausforderungen des Umbaus zu befassen.

Soviel an Gründen, warum 1848/49 auch als der Anfangspunkt der deutschen Arbeiterbewegung gesehen werden könnte.

Dowe: Vielen Dank, Herr Kocka. Vielleicht sollte man noch hinzufügen, dass die von Herrn Kocka herausgestellte "Arbeiterverbrüderung" gleichzeitig eine politische Bewegung und eine gewerkschaftliche Bewegung in einem war, das ist in einer späteren Phase ab den 1860er Jahren auseinandergelaufen. In der 48er Zeit gab es das auch, in einer Trennung von rein politischen Arbeitervereinen und rein gewerkschaftlichen Vereinen, aber die "Verbrüderung" hat eben beides miteinander verknüpft. Über das zivilgesellschaftliche Element werden wir nachher noch einmal kurz sprechen.

Zunächst an Herrn Offermann eine Frage. Herr Kocka hat jetzt sehr stark dieses Argument der "Arbeiterverbrüderung" als Keimzelle oder frühe sozialdemokratische Bewegung herausgestellt. Aber sie wurde 1850 in Preußen verboten, 1854 im Deutschen Bunde, danach kam das, was in der sozialdemokratischen Tradition oft als Friedhofsstille der 1850er Jahre bezeichnet worden ist. Sie haben, Herr Offermann, schon in Ihrer Dissertation sehr stark herausgearbeitet, dass es doch eine ganze Reihe von Kontinuitätslinien gegeben habe zwischen 1848 und 1863. Könnten Sie uns vielleicht einmal explizieren, worin diese Linien bestanden haben mögen und wie die Ideen- und Organisationsprinzipien, die 1848 und 1863 Realität wurden, zu charakterisieren sind?

Offermann: Man kann das Kontinuitätsproblem vielleicht an zwei Begriffen festmachen, an den Kategorien der Entstehung

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oder der Gründung. Der Begriff Gründung setzt einen Gründungsakt voraus, versucht also, an markanten Ereignissen, die eine Trennung von sonstigen verwandten Bewegungen darstellen, einen Prozess initiieren zu lassen. Da ist ganz eindeutig das Jahr 1863 als Gründungsdatum im Visier, weil hier in Form einer organisatorischen Trennung von der, man könnte sagen: revolutionären Volksbewegung ein fassbares Ereignis vorliegt. Wenn ich den Begriff der Entstehung nehme, dann ist natürlich die Situation etwas anders. Dann muss man wesentlich früher ansetzen, so wie Herr Kocka es getan hat, nämlich in der Revolutionszeit. Vor allem wenn man die organisatorischen Prinzipien und die zentralen ideologischen Forderungen der Arbeiterbewegung sieht, so sind beide sowohl in der 1848er Revolution wie auch in den 1860er und 1870er Jahren vergleichbar, wenn nicht sogar weitgehend identisch.

Wieso kommt es aber, dass einerseits innerhalb der SPD selber das Jahr 1863 als Gründungsdatum praktisch seit den 1870er Jahren hochgehalten wurde, dann von Bebel vielleicht zementiert wurde, und dass, als 1903 aus Anlass des Jubiläums einer der Mitbegründer, Vahlteich, daran erinnerte, dass sonst noch etwas gewesen war außer Lassalle, das auf große Ablehnung gestoßen ist. Das liegt sicherlich daran, dass eine tatsächlich vorhandene Kontinuität der 1848er zur 1860er Bewegung im Bewusstsein verloren gegangen ist. Diese Kontinuität lässt sich festmachen an Personen, die 1848 in der linken Volks- und Arbeiterbewegung tätig waren, um sich dann als Veteranen Anfang der 60er Jahre recht aktiv in die entstehende Vereinsbewegung einzumischen, auch in die Wiederentstehung der Gewerkschaftsbewegung: Namen wie Lassalle selber, sein Nachfolger Bernhard Becker, andere wichtige Personen des ADAV wie Tölcke, Fritzsche, Hillmann, aber auch einige andere aus der Gewerkschaftsbewegung wie Wode und Hecht.

Ein zweiter Punkt ist die Tatsache, dass es durchaus in der Reaktionszeit, die sich begrenzen lässt ungefähr auf die Jahre 1852/54 bis 1859, weitere Formen fortgesetzter organisatori-

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scher rudimentärer Fortexistenz gab. In einigen deutschen Einzelstaaten war die Verfolgung nicht so manifest. Es konnten Arbeitervereine, wenn auch in stark entpolitisierter Form, weiterbestehen. Andere Personen versuchten sich zu betätigen in bürgerlichen Tarnorganisationen, also sie traten in Turnvereine ein, manche nützten auch religiöse Sonderorganisationen wie die Freien Gemeinden zum Gedankenaustausch und man versuchte natürlich, zurückgeworfen auf die elementaren sozialen Interessen, sich im Kassenwesen zu betätigen und diese Kassen gleichzeitig auch als Kommunikationsforen zu nutzen. Ideologisch oder theoretisch gibt es eine sehr starke Identität im sogenannten Assoziationssozialismus. Das war der Versuch, oder die Konzeption, durch einen genossenschaftlichen Zusammenschluss die Lage des Arbeiterstandes zu verbessern, indem man erst einmal versuchte, Kassen zu gründen, aber auch in jedweder anderen Form durch die Überwindung der Vereinzelung genossenschaftlich, politisch wie auch sozial tätig zu sein. Diese Idee wurde dann von Lassalle aufgegriffen, der in die Bewegung praktisch hinein gerufen wurde. Und er, man könnte sagen, er bog diese Konzeption in seinem "Lassalleschen Vorschlag" vollkommen um. Er musste diese soziale Komponente aufgreifen, obwohl ihm eigentlich mehr an der politischen Revolutionierung Deutschlands gelegen war. In beiden Phasen, 1848 wie ab 1860, vollzog sich die Konstituierung von Arbeiterbewegung in Vereinsform und in Versammlungsform. Es war jedes Mal eine nationale Vereins- und Kongressbewegung, die zu regionalen wie zu nationalen Verbindungen tendierte. Es gab auch weitere indirekte Indizien für diese sehr hohe Kontinuität, wenn man sich einmal die Orte anschaut, in denen in beiden Phasen Arbeitervereine entstanden. In den 60er Jahren entstanden etwa die Hälfte an Orten, wo schon zur Revolutionszeit Vereinigungen zu verzeichnen waren.

Etwas problematischer verhält es jetzt mit dem Kontinuitätsbewusstein. Da spielt ein Faktor eine Rolle, den Herr Kocka angesprochen hat, nämlich dass die 1848er Arbeiterbe-

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wegung ein integraler Bestandteil der bürgerlichen revolutionären Volksbewegung war und sich auch als solcher verstand. Das änderte sich ein wenig nach dem Septemberaufstand 1848, als sich langsam abzeichnete, dass die Revolution ihre politischen Ziele nicht erreichte, und danach besann sich die Arbeiterbewegung mehr auf die sozialen Zielsetzungen und versuchte, praktische Konzepte umzusetzen. Nun führte die Tatsache, dass die Arbeiterbewegung Bestandteil dieser revolutionären Volksbewegung war, in der Rückschau in den 1860er/70er Jahren zum Teil dazu, dass man die Eigenständigkeit nicht mehr so recht erkannte. Es wurde zwar innerhalb der Arbeiterorganisationen häufig darauf hingewiesen, dass die sogenannte moderne Arbeiterbewegung 1848 begann, aber man begriff das eher als eine Form von Vorgeschichte. Trotzdem fanden gerade in den 60er Jahren immer noch z.T. sehr symbolische Verbindungen statt, das heißt, in einigen Vereinen übergab man sogar gerettete Vereinsfahnen aus der "Verbrüderungs-Zeit".

Es gab natürlich auch gegenläufige Tendenzen. In den frühen 60er Jahren haben das liberale und das demokratische Bürgertum versucht, diese Arbeiter zu organisieren, zum Teil aus historischer Erfahrung, nämlich um zu verhindern, dass, wie schon einmal in der Revolutionszeit erlebt, sich revolutionäre Tendenzen innerhalb der Arbeiterschaft breit machten. Also gerade aus der Erfahrung, dass 1848 Arbeiter und Handwerker Träger des revolutionären Prozesses gewesen sind, hat man jetzt versucht, sie zu einer Art Fußtruppe des liberalen Nationalstaatsstrebens zu machen. Das führte dann zu massiven Konflikten innerhalb der Arbeitervereine.

Ein weiterer kontinuitätshemmender Faktor war, dass eben die Reaktionszeit für die Arbeiter nicht eine Kampfzeit war, wie später das Sozialistengesetz, also nicht etwa etwas, worauf man stolz sein konnte. Die Unterdrückung war nicht von heroischen Widerstandsaktionen gekennzeichnet und vor allen Dingen gab es in der Reaktionszeit nicht dieses Elixier für Arbeiterbewegung, nämlich die Öffentlichkeit. Man konnte und durfte sich

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weder vereinsmäßig noch versammlungsmäßig betätigen, wie das unter dem Sozialistengesetz möglich war, vor allem im Zusammenhang mit Wahlkämpfen, und es gab keine Parteizeitung, auch keine illegale Form der Arbeiterpresse.

Ein letzter hemmender Faktor: Es gab ein Negativum für die Arbeiterbewegung, an das man sich ungern erinnerte, nämlich das Gefühl, man habe in der 1848er Revolution für das Bürgertum die Kastanien aus dem Feuer geholt. Man sei dort missbraucht worden. Diesen Fehler wollte vor allem die sozialistische Arbeiterbewegung nicht noch einmal machen. Es gab also Kontinuitätsaspekte, aber auch Aspekte, die das Bewusstsein, dass man eigentlich Wurzeln hatte, die länger zurückreichten, torpedierten.

Auf einen Punkt möchte ich am Schluss noch besonders eingehen, nämlich dieses Merkmal der frühen Arbeiterbewegung, dass sie eine politische Vereinsbewegung, eine Versammlungsbewegung war. Die Tatsache, dass sich die Arbeiter im Verein zusammenfanden, war nicht zufällig. Diese Form war im Bürgertum vorgegeben. Allerdings war für die Arbeiterschaft der Verein eine direkte Vorwegnahme dessen, was sie erstrebte. Die Arbeitervereine waren vorweggenommene Republiken, sie waren Organisationen, die nach parlamentarischen Spielregeln funktionierten, in denen sich eine entsprechende Debattenkultur herausbildete, in denen man also auch demokratische Institutionen entwickelte, wie die Urwahl aller Vereinsbeamten, die Bezeichnung der Mitgliedsbeiträge als Steuern usw., all das war für das Bewusstsein der Arbeiterschaft, auf eine parlamentarische Demokratie hinzustreben, konstituierend.

Dowe: Es gab also eine ganze Reihe von personellen, ideologischen, ideellen und organisatorischen Kontinuitäten zwischen der Revolutionszeit und der ab der Neuen Ära einsetzenden neuen Bewegung, in die sich Lassalle dann einschaltete bzw. eingeschaltet wurde.

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Toni Offermann



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Hartmut Zwahr

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Wir sprechen, Herr Zwahr, immer wieder von Arbeit, Arbeiterbewegung, die sich organisiert habe, auch gelegentlich von Proletariern. Wie sind diese Begriffe in dieser Zeit eigentlich zu verstehen? Wir haben ja immer eine Begrifflichkeit, die von unserer heutigen Vorstellungswelt geprägt wird. Wie kann man die soziale Lage in der Mitte und um die Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt beschreiben? Und eine weitere Frage: Glauben Sie, dass man das angemessen mit einem Klassenkonzept in den Griff, in den Be-Griff bekommt? Oder wie sollte man das anders versuchen?

Zwahr: Ich will es kurz zu benennen versuchen. Aber erlauben Sie, dass ich zunächst an Jürgen Kockas These von den Entstehungsgrundlagen anknüpfe. Die Revolution schuf den legalen Raum für diese Arbeiterbewegung. Das Parteibildungsgeschehen, das sich auf diesen Entstehungsgrundlagen entwickelt, ist das Ganze, und ich glaube, darin entstehen verschiedene Parteikonstrukte, weil die Entstehungsgrundlagen spezifisch reflektiert und erinnert werden. Es gibt also Varianten. Die Vorgeschichte und die unmittelbare Entstehungsgeschichte zeigen sich meines Erachtens auch sprachlich in den Begriffen Bund auf der einen Seite und Verein bzw. Partei auf der anderen. Man könnte pointiert sagen, als Parteiorganisation entstand die deutsche Sozialdemokratie mehrstufig und zeitweise parallel. In sie ging die Organisationsanstrengung von mindestens zwei Generationen ein, und diese Mehrstufigkeit hat Konsequenzen für die Bewertung der verschiedenen Parteigründungsakte. Hier ist die "Arbeiterverbrüderung" noch eingebracht worden. Man könnte aber auch fragen, ob der ADAV, gegründet an diesem Tag, den wir hier begehen, nur Keimzelle für eine künftige deutsche Arbeiterpartei war, so die Einladung, oder die erste deutsche Arbeiterpartei, wie Toni Offermann in seinem Buch formuliert. Und neben ihr gebe es eine zweite und vielleicht auch eine dritte. Warum eigentlich nicht? Das könnte man diskutieren.

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Nun zu diesen Arbeiterbewegungsträgern, zu dem, was "Arbeiter" war. Das ist unglaublich kompliziert und komplex, und ich will hier gar nicht ins Detail gehen. Aber eins kann man sagen: Einer der Kernbefunde ist durch die große Monographie von Thomas Welskopp erhärtet worden, und ebenso früher, wenn auch nicht direkt bewegungsgeschichtlich, durch Jürgen Kockas Buch "Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen". Dieser Befund lautet - Sie werden aus Schulerfahrungen sicher Gegenbilder haben-: Es sind nicht die eigentlichen Industriearbeiter, die Fabrikarbeiter, ob nun Männer oder Frauen, den Maschinen zugeordnete oder an Maschinen arbeitende Lohnabhängige, die die Arbeiterbewegung dieser Parteibildungsjahrzehnte getragen haben, sondern andere abhängige Produzentengruppen. Sie waren, und das ist nun meine ältere These, zu einem großen Teil auf sehr verschiedene Weise in Kapitalverhältnisse eingebunden, in verlegerische, in manufakturelle, auch industrielle, in einer Parallität, ohne selbst Maschinenarbeit zu verrichten, wie die Schriftsetzer in den großen, zum Teil Weltfirmen des Buchdrucks. Es gab große Gruppen, die zwischen diesen Arbeitsverhältnissen fluktuierten, die verlegten Handwerker in den Massenhandwerken der Schneider und der Tischler, ganz ausgeprägt in der Rheinprovinz, weil Preußen eine sehr frühe Gewerbefreiheit hatte, in Leipzig sehr stark in den Untergrund gedrängt, aber auch vorhanden. Und es gab Arbeitergruppen, die sozusagen der ganzen klassischen reinen kleinen Warenproduktion angehörten. Jetzt könnte man hier ins Detail gehen, das lasse ich. Aber ich will einige Gruppen nennen, die sehr stark waren als solche Trägergruppen. Das sind die Buchdrucker, die Schriftsetzer, die Masse der Zigarrenarbeiter, Maurer und Zimmergesellen, die man sich auf den großen Bauten als manufakturell produzierende Leute vorzustellen hat, die Steinmetze, die Arbeiter in Steinbrüchen, die Instrumentenmacher und viele andere. Die Frauen gehörten zunächst einmal gar nicht dazu, sie wurden nicht erfasst, obwohl sie mit den Männern kooperierten, zum Teil in spannungsgeladenen Verhältnissen mit ihnen. Wenn man in den

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Streik trat, gingen die Frauen eben einfach aus der Arbeit heraus, aber man kümmerte sich zunächst nicht um sie.

Wenn es diese arbeiterbewegungsintensiven Gruppen gab, muss man natürlich auch fragen, ob es Gruppen gab, die bewegungsabstinent waren. Und das möchte ich bejahen. Es sind zunächst einmal die Ungelernten, die vielfach in einfacher Kooperation produzierten. Es waren die lohnabhängigen Frauen und Mädchen, es waren Handwerksgesellengruppen, wie Fleischer, Bäcker, Müller. Es war die große Gruppe der lange in einem privilegierten Kapitalverhältnis stehenden Steinkohlenbergarbeiter, es waren die Hüttenarbeiter, die Landarbeiter, besonders das Gesinde.

Damit breche ich dieses Problem ab und gehe, als letztes, auf die Frage nach dem Klassenkonzept ein. Es gab ja diese Selbstbezeichnung, "Arbeiter", die von einigen geradezu modisch angewendet wurde auf die eigene Situation, eine Selbstbezeichnung, die sich tendenziell ausbreitete. Aber darüber hat Kollege Welskopp gearbeitet, in einen Dialog darüber könnten wir eintreten. Ich sehe Klassen und Klassenbildung ins Kapitalverhältnis eingeordnet und eingebunden. Davon kann ich nicht abgehen. Daraus entstanden Interessen der Selbstbehauptung eines Arbeiterinteresses neben dem bürgerlichen und, auch das zeigen uns die Tatsachen, gegen dieses und in bestimmten Situationen auch über das bürgerliche Interesse hinaus. Das war faktisch so. Dieses Verhältnis hat eine ökonomische Seite, eine soziale, eine starke politische, eine kulturelle, eine organisationsgeschichtliche, und es gibt in dieser Klassenbildung, ich denke, das ist auch wichtig und interessant, immer wieder Erscheinungen der Klassenauflösung und der Klassenentbildung. Es gibt immer wieder Verhältnisse, in denen sich dieses gewachsene historische Geflecht aus bestimmten Gründen auflöst. Jürgen Kocka hat das angesprochen, ich habe das vor vielen, vielen Jahren auch zur Diskussion gestellt.

Ich sehe noch eine Möglichkeit von Erforschung und Darstellung, und damit schließe ich, und zwar in einer Art Synchroni-

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sierung. Ich bin überzeugt, man muss Arbeiter und Unternehmer als Ganzes betrachten. Hier wurde Leipzig als Wiege der Arbeiterbewegung angesprochen, es gibt eben in der realen Situation immer das Aufeinanderbezogensein des Arbeitenden mit dem, der ihn arbeiten lässt. Diese Synchronisierung von Bürgertum und Arbeitern zu akzeptieren, bringt sehr viel. Und in der frühen Arbeiterzeitung, die 1848 in Leipzig erschienen ist, findet sich ein wunderbares Beispiel dafür, wo es sinngemäß heißt: Wir brauchen die Vereine und wir gründen Vereine. Die Bürger haben es uns vorgemacht. Und wir schließen daran an und ziehen nach. Also, dieses Anschlusshandeln ist ein ganz elementares Geschehen. Und da es dieses Anschlusshandeln gibt, glaube ich, darf der Forscher in diesem Feld auch den Gegenüber nicht aus dem Auge verlieren. Das bezeichne ich als Synchronisierung einer Entwicklung von sozialen Antipoden oder Partnern, wie auch immer.

Dowe: Herr Welskopp, Sie haben sich in ihrem letzten Werk "Das Banner der Brüderlichkeit" einigermaßen kritisch gegenüber dem klassengesellschaftlichen Zugang gezeigt und haben zudem auch die Fixierung der Arbeiterbewegungs-Historiker auf Organisationen und ihre Führungen kritisch hinterfragt. Worin liegt Ihrer Ansicht nach das angemessene Deutungsmuster für diese Phase?

Welskopp: Ich würde einen klassengesellschaftlichen Ansatz nicht verwerfen, sondern ihn anders fassen, weiter fassen und in jedem Fall darin integrieren, was die Zeitgenossen selber auch unter Klassenverhältnissen verstanden. Die Frage der Definition, wer zeitgenössischer Arbeiter ist, ist tatsächlich schwierig, denn sie ist einer der Hauptinhalte der Diskussionen, die die Protagonisten dieser Bewegung seit den 1840er Jahren geführt haben. Man kann es sich sicher nicht so einfach machen wie der ADAV selbst, der im §2 seiner Organisationsstatuten gesagt hat: "Wer Arbeiter im Sinne des Vereins ist, bestimmt der Vor-

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Kocka, Welskopp, Offermann



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Welskopp

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stand." Wir haben eine Vielzahl von Erfahrungen, und da würde ich Herrn Zwahr Recht geben, sozusagen eine handwerkliche Welt von Produzenten, die unter den Druck kommerzieller Marktformen geraten ist, in den vielfältigsten Formen, und die nun in den Vereinen zusammenkommt, in einer Sphäre, in der sie selbstbestimmt auftreten können, in der sie überhaupt ihren eigenen Ansprüchen auf einen zivilgesellschaftlichen Status nachkommen können, indem sie dann über ihre soziale Position beraten und den Arbeiterbegriff letztlich zu einem Kompromissbegriff ausgestalten. Dieser sieht ungefähr so aus: Arbeiter ist der eigentliche Produzent des gesellschaftlichen Reichtums. Er ist jemand, der von seiner eigenen Hände Arbeit lebt und nicht von der anderer, der andere Produzenten nicht ausbeutet und der nicht nur in der Produzentensphäre seine Bürgerpflicht erfüllt, sondern an seiner eigenen Persönlichkeit arbeitet und diese aktiv in die Gesamtgesellschaft wieder hineinbringt - als der Vereinsgenosse, als derjenige, der auf der öffentlichen Bühne bereit ist, für seine Prinzipien einzustehen.

Ein typischer Fall ist August Bebel, der hier in dieser Stadt großgeworden ist, wenn man so will, jedenfalls in der Arbeiterbewegung dieser Stadt, und der als Drechslergeselle gearbeitet hat und entlassen worden ist, mit einem kleinen Erbe eine Meisterstelle angetreten hat, dann heiraten durfte und früh in der Vergnügungsabteilung des Bildungsvereins für Arbeiter tätig war. Hier hat er Lassalle gesehen, der ihn nicht sehr beeindruckt hat. Er fand ihn arrogant, und außerdem meinte er, stoße Lassalle beim Reden mit der Zunge an. Das verdeckt aber nur ein bisschen, dass Bebel selber sehr ehrgeizig war und die etwas autoritären Züge des ADAV für sich nie toleriert hätte. Bebel ist ein typischer Fall, ein Ausschnitt aus diesem Spektrum, aber jemand, bei dem man früh Sozialdemokratie auch biografisch festmachen und sehen kann, wie die Erfahrung im Geschäftsleben und die Erfahrung in der politischen Tätigkeit in der Stadt ineinander greifen und wie sich das nachher in Urerfahrungen verdichtet, dass man als dreißigjähriger Drechslermeister im neu

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gewählten Reichstag in Berlin sitzt, in dem man normalerweise andere Leute sitzen sieht. Es gibt mehrere Anekdoten davon, z.B. dass Bebel in seiner Werkstatt hier in der Peterstraße aufgesucht wurde und den Gast begrüßte, einen Redakteur der "Gartenlaube", der ganz erstaunt war und sagte: "Sie sind ja noch ein junger Mann, Bebel, ich glaubte, Sie seien ein älterer behäbiger Herr, der sein Geschäft an den Nagel gehängt hat und die Politik zu seinem Vergnügen betreibt." Bebel stand in der üblichen grünen Drechslerschürze vor ihm und antwortete lächelnd: "Wie Sie sehen, Sie sind im Irrtum." Was wir also sehen, ist, dass mit dieser jungen Sozialdemokratie auch ein ganz neuer Politikstil in die Öffentlichkeit der deutschen Territorien gekommen ist, mit einer großen Nachhaltigkeit und einer großen Wirkung. Und, um Herrn Dowe nun doch noch die Antwort zu geben: Im Grunde genommen, was uns trennt, was Herrn Zwahr und mich vielleicht überhaupt trennt, ist, dass ich diesen kulturellen Faktoren der Vermittlung auf der biografischen Ebene, auf der Ebene der Beziehungen zwischen den jungen Leuten, die die Sozialdemokratie stellten, einen größeren Stellenwert einräume als den rein sozialstatistischen, die in der Sozialgeschichte eine Generation früher eine große Rolle gespielt haben, auf deren Ergebnisse wir auch gar nicht verzichten können.

Aber ich finde, dass diese frühe, junge Sozialdemokratie ein äußerst aufregendes Phänomen gewesen ist, eine Phase, von der wir uns viel abgucken können.

Dowe: Herr Welskopp, Sie haben Bebel erwähnt, der ja selbst erst in den 60er Jahren politisch aktiv geworden ist und von daher aus seiner Sicht durchaus verständlich den Beginn von Arbeiterbewegung in stärkerer Weise auf die 60er Jahre zu datieren geneigt war. Anders war das natürlich bei Wilhelm Liebknecht, der ja ein alter 48er war.

Herr Potthoff, Sie haben Ihre und Susanne Millers "Kleine Geschichte der SPD", die gar nicht so klein ist, mit dem Jahr 1848 beginnen lassen und dem entspricht ja auch der Gang

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Potthoff, Zwahr, Dowe



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Potthoff

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unserer Diskussion. Wieso klaffen Parteitradition und Forschung so weit auseinander? Die SPD hat auf ihrer Homepage, deren historischen Teil wir von der Historischen Kommission gestaltet haben, 1848 als "Anfänge" der Arbeiterbewegung bezeichnet und 1863 als Beginn der Arbeiterpartei. Ist das nun eine Lösung dieses Dilemmas, oder steckt da noch mehr hinter?

Potthoff: Für die Praxis wäre das wahrscheinlich eine Lösung des Dilemmas, aber ich glaube, das löst nicht alle Probleme, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben. Wir können auf der einen Seite historische Fachdiskussionen führen und da, denke ich, kommt weitgehend ein gemeinsamer Nenner zustande. Auf der anderen Seite müssen wir auch berücksichtigen, dass es eben nicht diese eine Parteitradition gab, eindeutig auf einen Gedenktag hin. Ich denke, Herr Kocka hat zum Einstieg schon sehr deutlich darauf hingewiesen, wie sehr sich die Sozialdemokratie auch als Erbe der guten demokratischen Traditionen der Revolutionsepoche 1848/49 empfunden hat. Das ist immer wieder zum Tragen gekommen, so beim alten Wilhelm Liebknecht, der sagte: Zeit meines Lebens habe ich für diese Ideale gekämpft. Das gilt ebenso für ein spannendes Gedicht, das im "Vorwärts" 1903 publiziert wurde: "Die Roten an die Toten", wo in Gedichtform gesagt wird: "Wir sind eure Erben und Würdigere".

Als es, drittens, um die Beratung und Verabschiedung der Weimarer Verfassung ging, waren es vor allem die Sozialdemokraten, die sagten: Greifen wir doch auf die Grundrechte der Paulskirchenverfassung zurück. Es müssen natürlich noch einige soziale Rechte eingefügt werden. 1848 war also durchaus etwas Lebendiges, trotzdem hat sich 1848 als Gründungsdatum nicht durchgesetzt.

Ich denke, das hat zunächst ein paar einfache Gründe: Es gibt dort nicht ein eindeutiges Datum. Von wo an soll man datieren: von der Gründung der "Arbeiterverbrüderung" oder - es wird fast gar nicht mehr erwähnt, dass die Sozialdemokratie sich früher einmal als eine Art marxistische Partei verstanden hat - hätte

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man den Beginn datieren sollen von der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifestes im Februar 1848? Es liegt nahe, dass u.a. wegen des Fehlens eines eindeutigen Datums auch alle Versuche, dieses Jahr 1848/49 stärker ins Bewusstsein zu rufen, gescheitert sind. Wir haben das im Jahr 1988 vorgehabt mit der großen Veranstaltung der Historischen Kommission und einer Rede von Johannes Rau, bei der versucht wurde, die Lebendigkeit solcher Traditionen von 1848/49 herauszustellen.

Auf der anderen Seite müssen wir sehen, dass auch die Fixierung auf 1863 gar nicht so selbstverständlich gewesen ist. Solange die Lassalleaner selbst existierten, feierten sie ein Stiftungsfest. Und manche haben sich auch später an das Datum erinnert. Aber wenn man einmal in die Sozialdemokratie des Kaiserreiches hineinschaut, was hat sie eigentlich als Gründungsdatum gefeiert? Etwas, was auch im Mai stattgefunden hat. Das war der Gothaer Vereinigungsparteitag 1875, nämlich die Überwindung der Trennung von Lassalleanern und Eisenachern. Das war ein Tag, zu dem Gedenkblätter erschienen, auf denen als die beiden großen Stiftungsväter in der Mitte Marx und Lassalle auftauchten, umkränzt von allen anderen Delegierten. Das war das Tragende und an dieses Gothaer Ereignis hat man sich später überhaupt nicht mehr erinnert. Als 1975 das 100jährige Jubiläum anstand, ist praktisch von der Partei dazu gar nichts erschienen. Ich weiß, dass ich damals einen Artikel geschrieben habe "Im Zeichen der geballten Faust" in der Neuen Gesellschaft. Damit hatte es fast auch schon sein Bewenden. Gotha ist fast völlig aus der Erinnerung verschwunden. Wenn heute offiziell über die frühe Sozialdemokratie geredet wird, wird immer 1863 als Gründungsdatum herausgestellt. Meine These ist: Dies ist weitgehend eine Setzung erst aus der Zeit nach 1945. Zunächst hat eines eine Rolle gespielt, dass für Kurt Schumacher Lassalle ein Vorbild war. Dies zeigt seine Dissertation "Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie". Für Schumacher waren sicher faszinierend bei Lassalle das positive Verhältnis zur Nation und die positive Ein-

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stellung zum Staat. Trotzdem, wenn man die Diskussionen der Partei in den folgenden Jahren verfolgt, hatte dies in dieser Hinsicht nur geringe Auswirkungen. Der eigentliche Zeitpunkt, an dem man begann, 1863 in den Mittelpunkt zu rücken, liegt nach Godesberg. Man hat 1959 ein neues Parteiprogramm verabschiedet, in dem man sich auf grundsätzlich andere Positionen stellt, von Grundwerten ausgeht, nicht mehr von einem deterministischen Geschichtsverständnis. Aber, dieses Parteiprogramm wird sozusagen in einer geschichtslosen Diasporasituation verabschiedet. Es gibt kein wirkliches historisches Bewusstsein. Und im Nachtrag dazu wird sozusagen die Geschichtstradition nachgeliefert. Da ist das Jahr 1963 mit dem 100-Jahres-Jubiläum zentral. Ich habe das einmal durchgecheckt. Allein im Jahrbuch der SPD erscheinen 15 Seiten kurzgefasste Darstellungen der Geschichte der SPD, gefolgt von weiteren über Feiern und Publikationen. Es gibt insgesamt 1900 Veranstaltungen mit insgesamt 400.000 Teilnehmern, darunter mindestens über 100.000 Nicht-SPD-Mitglieder. Die Tradition, die damals gestiftet wurde, ist nun eine, die gewissermaßen in die Godesberg-Linie hineinpasst. Ein idealisierter Lassalle wird sozusagen zu dem Vorläufer von Godesberg. Das ist sehr deutlich zu merken. Bei Marx wird zwar auch gesagt, dass er für die Freiheit eingetreten ist, für die Würde des Menschen gekämpft hat, ähnlich wie Lassalle. Aber, dann kommt eine Distanzierung: Bei Marx gab es die Ablehnung des Staates. Wogegen nach 1959 angegangen wurde, ist im Grunde der Populärmarxismus der Zeit nach dem Erfurter Programm von 1891. Dem wird Lassalle gegenüber gestellt, als derjenige, der ein positives Verhältnis zum Staat gehabt hat. Das ist die zentrale Botschaft von Godesberg gewesen. Und diese Botschaft ist dann weiter getragen worden, ohne dass man sich heute noch dessen erinnert und darüber debattiert. Das Problematische daran scheint mir zu sein, dass die kritischen Punkte bei Lassalle völlig ausgeklammert werden. Es ist hier schon fast beschönigend von einer etwas autoritären Parteistruktur gesprochen worden. Wenn man einmal ehrlich ist, war

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das eine diktatorische Parteistruktur, die eher Lenin zum Vorbild dienen konnte. Ich denke, auch bei aller Notwendigkeit von Führung in demokratischen Volksparteien kann Lassalle kein Vorbild sein.

Der nächste Punkt, der mir auch problematisch zu sein scheint, ist Lassalles totale Fixierung auf den Sozialstaatsgedanken. Hier wäre zu bedenken und deswegen kann eine Diskussion wie die heutige fruchtbar sein: Es ist sinnvoll, wieder an anderen Traditionen anzuknüpfen, an die Tradition der Eisenacher, Bebels und Liebknechts, die früher im Westen ein bisschen untergebuttert wurden, weil es hieß: Die DDR hat sie belegt, die beruft sich auf Eisenach und sagt, sie sei die wahre marxistische Partei. Deswegen musste sie im Westen etwas unterbelichtet sein und erst Brandt entdeckte später wieder August Bebel. Aber dort gibt es viele positive Ansätze, mit dem stärkeren Element einer freiheitlichen Demokratie, mit dem Hinweis, dass die soziale Frage nur in einem freien Volksstaat gelöst werden kann. Mir scheint, an diese zivilgesellschaftlichen Traditionen müssen wir auch heute wieder mehr anknüpfen und von dort aus gibt es eine stärkere Verkoppelung rückwärts über die Eisenacher zu der Tradition von 1848/49. Darauf würde ich das Gewicht legen. Ich denke, das könnte eine Botschaft sein, die man in das historische Parteibewusstsein hineinzubringen versuchen sollte. Ob dies dann fruchtet, weiß man allerdings nicht.

Dowe: Vielen Dank, Heinrich Potthoff, ich glaube, dass wir damit doch etwas Diskussionsstoff haben. Ich öffne die Diskussion zu Ihnen, zum Publikum, und warte auf Meldungen.

Grath: Mein Name ist Prof. Grath. Ich bin Soziologe, Emeritus der Universität Leipzig. Ich habe mit großem Interesse die historischen Darlegungen der Entstehungsgeschichte der Sozialdemokratie verfolgt. Aus meiner Sicht und aus der Sicht des Anliegens der Klassiker der Sozialdemokratie Lassalle, Wilhelm Liebknecht, Bebel und anderer muss auch die Frage erlaubt sein:

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Was will uns der Historiker heute sagen? Sie sprechen alle von Botschaften. Welche Botschaften müssen rüberkommen zu den einfachen Menschen, die heute arbeitslos sind? Die Arbeitslosenquote bewegt sich auf die 5 Millionen zu und damit wird natürlich das ganze Dilemma der Entwicklung deutlich, und zwar des Kampfes derjenigen, die im 19. Jahrhundert für Gleichberechtigung, für Freiheit und für viele andere Werte der Gesellschaft gestanden haben. Wie schaut das heute aus?

Darauf muss natürlich irgendwann und irgendwo eine Antwort gegeben werden. Und es ergeben sich für mich zwei Fragen, die ich gerne hier stellen möchte.

1.) In den Anfängen der Sozialdemokratie standen die gerechte Gesellschaft, Kampf gegen die zunehmende Ungleichheit und Kampf gegen die Ausbeutung im Vordergrund. Das waren u.a. die wichtigsten Fixpunkte. Wie hat sich die Sozialdemokratie bis heute entwickelt, um diese Anliegen zu erfüllen im Sinne der Forderungen der Mitglieder der Demokratie?

2.) Viele der hier vorgetragenen Thesen wirken ein bisschen unverständlich vom Standpunkt des Realistischen. Und wenn von Tradition und Gegenwart, Tradition und Realität gesprochen wird, dann muss man sich diesen Fragen auch stellen. Wie entwickelt sich die Gesellschaft weiter, wie wird in der gegenwärtigen Situation die Sozialdemokratische Partei, die an der Regierung ist, den Forderungen gerecht, die jetzt originär von der Masse der Menschen gestellt werden? Das ist meine Hauptfrage.

Dowe: Danke schön, diese Frage geben wir am besten an unseren Hauptredner weiter. Darf ich um weitere Wortmeldungen bitten? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann gebe ich jedem der Herren auf dem Podium Zeit für ein kurzes Schlusswort, mit der Bitte, auch in aller Kürze gerade aufgrund ihres historischen Verständnisses zu sagen, worin ihrer Ansicht nach die Identität der Sozialdemokratie besteht. Bitte, Herr Kocka.

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Kocka: Ich möchte eine Bemerkung anschließend an Herrn Potthoff machen. In der Tat war eben dieser Streit zwischen den Verfechtern von 1863 und 1869 als Gründungsdaten der Sozialdemokratie akut, solange es die beiden deutschen Staaten mit diesen beiden Berufungen auf die Arbeiterbewegung gab, und von daher gab es auch eine Verzerrung hinsichtlich der Konkurrenz zwischen 1869 und 1863. Seitdem das nun vorbei ist, kann man einen sehr viel offeneren, realistischeren Blick auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede und auch auf das Gemengeverhältnis werfen. Es war ja nicht so, dass die eine Richtung gut und die andere schlecht war. Die Leipziger (Lassalle 1863) und die Eisenacher (Bebel und Liebknecht mit Berufung auf Marx 1869) unterschieden sich nicht scharf, vieles war sehr viel ähnlicher und sehr viel vermischter. Es ist ein Beispiel dafür, dass der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung neue Chancen für die wissenschaftliche Beschäftigung und für ein unverstellteres Verhältnis der SPD zu ihrer eigenen Vergangenheit gebracht hat. In unserer Debatte ist diese deutsch-deutsche, diese sozialdemokratisch-kommunistische Konkurrenz eigentlich nur zum Schluss, zum Glück durch Potthoff, erwähnt worden, hat aber im übrigen keine Rolle gespielt und musste sie auch nicht mehr spielen. Wie wäre es, wenn wir diese Debatte vor 15 Jahren geführt hätten? Hätte sie nicht völlig anders aussehen müssen?

Zur zweiten Frage von Herrn Grath: Da Sie nun diese grundsätzliche Dimension ansprechen, so muss man, denke ich, den Wandel der Zeit berücksichtigen: Die Zeit, in der die SPD und die Gewerkschaften zu einer großen Massenbewegung geworden sind, also die Zeit nach dem Sozialistengesetz 1890, die Phase, als der Sozialstaat in den 1880er Jahren entstand, die frühe und die spätere Bundesrepublik, in der dieser Sozialstaat und unsere Arbeitsverfassung so kräftig ausgebaut worden sind, das waren alles Phasen der geringen Arbeitslosigkeit, der schnell abnehmenden Arbeitslosigkeit. Wir sind heute in einer anderen Situation. Es gab zwar Jahre, in denen die Arbeitslosigkeit höher gewesen ist als jetzt, nämlich 1930/32. Aber nie in unserer Ge-

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schichte seit der Industrialisierung ist die Arbeitslosigkeit so lange so hoch gewesen wie jetzt. Dies bringt eine völlig neue Situation und man muss soziale Gerechtigkeit im Lichte dieser neuen Situation neu buchstabieren und definieren. Da können wir von manchem nicht unmittelbar lernen, was in der klassischen Sozialdemokratie möglich gewesen ist.

Was die Kontinuität und die Grundwerte betrifft, ist an Willy Brandt zu erinnern: "Nur wenig ist von Dauer. Darum besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll." Dieselben sozialdemokratischen Grundwerte müssen heute anders ausbuchstabiert werden als vor 100, 50 oder 20 Jahren. Andererseits geht es immer darum, die Grundwerte der Freiheit, Solidarität und sozialen Gerechtigkeit zusammenzubringen. Und damit ist Freiheit im Licht von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität zu sehen, sie ist dann nicht nur Abwesenheit von Zwang, sondern auch Abwesenheit von Not, nicht nur individuelle Handlungs-, sondern auch kollektive Gestaltungsfreiheit. Andererseits ist soziale Gerechtigkeit nicht soziale Gleichheit, weil sie eben mit Freiheit verbunden werden muss und ähnliches. Das ist schon eine Sache, die man festhalten kann und soll. Es gehört dazu die Fähigkeit, einerseits sich um Gerechtigkeit und Chancen für die kleinen Leute zu kümmern und gleichzeitig aber die Innovationsfähigkeit der Gesellschaft, die Modernisierung, würde mancher von uns heute sagen, nicht zu verstellen, beide unter einen Hut zu bekommen. Das ist schon eine große Leistung, die der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung aufs ganz gesehen relativ gut gelungen ist. Doch die Aufgabe muss in verschiedenen sozialen Situationen jeweils anders gelöst werden, wenngleich sie sich im Grunde doch durchhält über die 140 Jahre.

Offermann: Die klassische Sozialdemokratie, die marxistische, lassalleanische, sozialistische, hatte etwas, was wir heute nicht haben, nämlich ein klares Wissen darum, woher alle Übel kom-

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men, ein Wissen, wie dem abzuhelfen ist, und das Bewusstsein, dass die Geschichte auf ihrer Seite steht. Vor diesem Hintergrund war sie idealistisch, zukunftsorientiert, optimistisch, kämpferisch, internationalistisch. Das sind Eigenschaften, die nicht unbedingt mit der angesprochenen Grundlage dahin sein müssten. Die klassische Sozialdemokratie hatte ein hohes Ethos, das heißt, hohe Erwartungen an das Verhalten, an die Moral der eigenen Partei und ihrer Mitglieder, mit denen man auch sich selber maß. Sie war debattierfreudig, sie hat diskutiert auf unterer, mittlerer und oberer Ebene. Sie war polemisch, besaß auch einige andere Merkmale, die wir heute nicht unbedingt kopieren müssen, und - sie war außerordentlich misstrauisch gegenüber jeder Form der indirekten Verbrauchssteuer.

Welskopp: Die Identität der Sozialdemokratie in drei Sätzen!? Ich kann mich in sehr vielen Teilen meinen Vorrednern anschließen. Wenn man das Ziel der Sozialdemokratie in den 1860er Jahren hätte definieren wollen, dann hätte man gesagt, eine durchgreifende Demokratisierung der Gesellschaft, eine Gleichberechtigung aller Produzenten als Staatsbürger und eine Übertragung der Demokratie auch auf den wirtschaftlichen Bereich, weil der Markt die bürgerliche Gesellschaft zerstört und keine eigene Ordnung bildet. Statt dessen wollte man Vereine der Produzenten, im Grunde genommen einen kleinen Werkstattsozialismus, der die Eigentumsverhältnisse dieser Produzenten gar nicht angegriffen hätte. Was ich damit sagen will, ist, es ist natürlich ein sehr zeitbedingtes Bild. Es ist eine Weltdeutung der 1860er Jahre, die in einer Umbruchszeit zustande gekommen ist, und die Entwicklung ging natürlich in eine andere Richtung. Die Stärke der SPD ist, dass sie schon zu dieser Zeit ganz alte Traditionsbestände, die aus der demokratischen Bewegung, aus der Handwerkerbewegung kommen, aufgenommen hat, die sie fähig gemacht haben zu einem Diskurs, der offen in die Zukunft war. Die Sozialdemokratie 1890 war eine andere als die Sozialdemokratie in den 1920er Jahren, und seitdem haben

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wir schon mehrere Sozialdemokratien gehabt, und wir werden jetzt eine neue brauchen. Ich denke aber, wenn die Partei mit diesem historischen Selbstbewusstsein an diese Geschichte heran geht, wird sie auch fähig sein, sich selbst weiter zu entwickeln in diese Sozialdemokratie, die wir heute und in Zukunft brauchen.

Zwahr: Ich komme noch einmal auf die Mehrstufigkeit der Parteibildung der Sozialdemokratie zurück. Was ergibt sich für das Fixieren von Gründungsdaten des Jahrestages, für festliches Erinnern, mit Gründungsrückbezug einer Partei wie der SPD? Antwort: Die Fixierung auf ein Gründungsdatum, da berühre ich mich mit Ihnen, bleibt für mich problematisch. Woran sollten wir erinnern? Vielleicht wäre es sinnvoll, die Mehrstufigkeit stärker in die Erinnerung aufzunehmen, sichtbarer zu machen und zumindest die Gedenktage der Parteibildungsstränge von 1863, 1869, 1875 vielleicht sogar gleichgewichtig zu begehen, sofern das nicht schon passiert.

Das zweite, was ich sagen möchte, ist folgendes: Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert, das auf Vollbeschäftigung zulief, und indem es das tat, hat es radikalen Bewegungen zunehmend den Boden entzogen. Damit hat die KPD zu kämpfen gehabt, um ein Beispiel zu nennen. Heute formulieren auch Soziologen, wie Vobruba aus Leipzig, das Ende der Vollbeschäftigung. Ist das so? Ich sage das auch angesichts einer unglaublichen akademischen Arbeitslosigkeit im Augenblick, deren Existenz viele noch gar nicht wahrgenommen haben, und zwar in einem Ausmaß, dass es einem kalt über den Rücken läuft. Das muss man sagen, und insofern gibt es natürlich eine grundsätzlich neue Situation. Soziale Gerechtigkeit und die Rahmenbedingungen, in der sich die Dinge hin zu mehr Beschäftigung entwickeln können, sind nach wie vor ein dringendes Anliegen. Darin sind wir uns sicher alle einig.

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Potthoff: Mir wäre sehr daran gelegen, dass man nicht nur Gedenktage zum Anlass nimmt, Traditionssuche zu betreiben. Ich finde es viel besser, wenn wir die reale Entwicklung von Parteien betrachten und dann versuchen zu subsumieren, was das Tragende in dieser Bewegung gewesen ist, fern von allem, was sich gewandelt hat. Die Sozialdemokratie heute ist nicht mehr die des 19. Jahrhunderts und auch nicht mehr die des kurzen, von der Auseinandersetzung mit totalitären Systemen geprägten 20. Jahrhunderts. Wir haben heute eine andere Welt, die der Globalisierung, anderer Machtkomponenten, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Aber was ist dann das Prägende? Das war einmal der Versuch, soziale Gerechtigkeit als Bewegung zu erstreiten. Dieser Versuch steht heute auf dem Prüfstand. Er wird sicher nur dann günstig ausgehen, wenn wir uns nicht über die Methoden und Mittel, die man einmal debattiert hat, unterhalten, sondern wenn man mit neuen Formen versucht, diese Linie der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit zu verfolgen. Ich nenne einmal das Beispiel Riester-Rente. Es ist ein Versuch, Generationengerechtigkeit herzustellen. Wir müssen so etwas miteinander verknüpfen.

Der zweite Punkt, der immer sehr stark untergeht bei solchen Debatten über die Gedenktage, ist, wie sehr die Sozialdemokratie auch die Partei für Demokratie und Freiheit in Deutschland gewesen ist, viel mehr als in den westeuropäischen Nachbarländern, weil hier in Deutschland die Notwendigkeit, Freiheit und Demokratie zu erkämpfen, weitgehend auf den Schultern der Sozialdemokratie gelegen hat, im Kaiserreich, in Weimar, gegen den Nationalsozialismus und auch gegen den Sowjetkommunismus.

Die letzte und dritte Komponente, die mir auch zu sehr untergeht, kann man auch in außenpolitischen Vorstellungen verorten. Es war in gewissem Sinne die Aufgabe, zu einer Regelung für die friedliche Konfliktlösung über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus zu kommen. Das war im Anfang sicher in manchem naiv, und es brauchte eine Entwicklung von der Friedens-

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sehnsucht zur Friedenspolitik, die dann sehr gezielt später als Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten unter Willy Brandt umgesetzt wurde. Es brauchte dazu der Vorstellung, dass man dazu auch organisatorische Strukturen benötigt, sprich ein geeintes Europa. Und ich meine, gerade heute sollten wir bei manchen Debatten kritisch darüber reden, ob nicht Europa auch für ein bestimmtes Modell von sozialer Demokratie steht wie auch für friedlichen Ausgleich möglichst mit Mitteln, die den Krieg zwar nicht als letztes Mittel ausschließen, ihn aber nicht in den Vordergrund rücken. Ich denke, wenn man hier versuchte, unsere Traditionen weiter zu führen, wäre das von Bedeutung. Gerade deswegen ist für mich auch der Anknüpfungspunkt an 1848/49 wichtig, weil ich unterstreichen will, dass dies auch eine europäische Revolution war. Gerade, wenn wir eine solche Botschaft in Richtung auf ein geeintes Europa rüberbringen wollen, macht es auch mehr Sinn, von 1848/49 auszugehen.

Dowe: Meine Damen und Herren, wir sind am Ende unserer Podiumsdiskussion angelangt. Ich persönlich würde nicht so sehr wie Herr Zwahr darauf abheben, dass wir die durch die Vereinigung neugewonnene Chance, etwas unbefangener mit den diversen Parteijubiläen 1863, 1869 und 1875 umzugehen, ausnutzen sollten, sondern in der Tat, wie Herr Potthoff, stärker die gesamteuropäischen Traditionen von 1848 als Bezugspunkt nehmen. Wir hätten dies noch viel konkreter diskutieren können. Aber das hätte dann wesentlich länger gedauert, und von daher verbot sich das heute.

Ich glaube, man kann sagen, dass die Sozialdemokratie in ihrer langen Geschichte durchaus Kontinuität im Wandel bewiesen hat, aber nicht nur Kontinuität im Wandel, sondern auch durch Wandel. Nämlich durch ihren eigenen Wandel hat sie ein Kontinuum geschaffen und hat ihr Selbstverständnis und ihre Funktion in wechselnden politischen und staatlichen Systemen erhalten, vom Deutschen Bund über das Kaiserreich, die Weimarer Republik, Exil, Emigration und Widerstand gegen den National-

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sozialismus und gegen den Sowjetkommunismus hinweg bis zur Bonner und schließlich zur Berliner Republik. Sie hat sich in all diesen Phasen jeweils mit aktuellen Forderungen und auch mit grundsätzlichen Erwägungen zu Wort gemeldet und hat immer wieder versucht, auf neue Herausforderungen in angemessener Weise unterschiedlich zu reagieren: in der Klassengesellschaft als Klassenpartei, in der sich herausbildenden Bürger- und Zivilgesellschaft zunehmend als Volkspartei, aber immer auf dem festen Fundament von gewissen Grundüberzeugungen und Grundwerten, die wir seit Godesberg Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nennen. Aber, der Punkt ist natürlich, dass es auf einer relativ abstrakten Ebene leicht ist, diese Grundwerte mit Inhalt zu füllen, die Sache aber knifflig wird, wo sie konkret wird. Und genau darum, um die Konkretisierung dieser Grundwerte, hat sich schon immer die Diskussion innerhalb und außerhalb der Partei gedreht und wird sich auch weiterhin drehen. Genau in diesem Dilemma steht die Partei zur Zeit.

Aber damit sind wir bei dem Thema angekommen, das Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in seinem Vortrag behandeln will. Ich freue mich, dass der Stellvertretende Vorsitzende der SPD sich bereiterklärt hat, heute zu uns zu sprechen. Das Thema seines Vortrages lautet "Traditionswahrung und Modernisierung - Sozialdemokratie in der Entscheidung". Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


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