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[Seite der Druckausg.: 123 (Fortsetzung)]



2.2 Der Kampf um das „Land der Eichen" - Zum Bild von Nation und Krieg


„Was ist des Deutschen Vaterland?" so fragt Ernst Moritz Arndt in seinem berühmt gewordenen Lied von 1813. [Fn-412: Vgl. den Anhang dieser Arbeit.] Arndt löst diese Frage im Sinne einer kulturell bzw. sprachlich begründeten Identität der Deutschen, nicht ohne sich in der vorletzten Strophe deutlich gegen den „welschen Tand" abzugrenzen. Diese Verbindung des Gedankens der deutschen Kulturnation mit antifranzösischem Ressentiment ist typisch für die Lyrik der Befreiungskriege, die wesentlich durch die Erfahrung der katastrophalen Niederlage von Jena und Auerstedt 1806 und die anschließende französische Besetzung geprägt war. [Fn-413: Der folgende Überblick basiert im wesentlichen auf: Dieter Düding , Die deutsche Nationalbe wegung des 19. Jahrhunderts als Vereinsbewegung, in: GWU 42 (1991), H. 10, 601-624. Vgl. dazu auch: Hagen Schulze , Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, 2. Auflage, München 1986.]
Der Sieg über Napoleon in den Befreiungskriegen von 1813/14 gab der nationalen Bewegung ungeheuren Auftrieb; die Verklärung zum „Volkskrieg" setzte unmittelbar im Anschluss an die Ereignisse ein. Bereits vor den Befreiungskriegen war die erste „Turngesellschaft" von Friedrich Ludwig Jahn in Berlin gegründet worden. In der nachnapoleonischen Zeit wurden die Turner gemeinsam mit der sich formierenden Burschenschaftsbewegung zu den Hauptträgern der nationalen Idee, die sich besonders nach dem Wiener Kongress von 1815 mit der Forderung nach größeren politischen Freiheiten ver-

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band. Die Ermordung des Schriftstellers und Burschenschaftsgegners Karl August Kotzebue im März 1819 bot den reaktionären Kräften unter Metternich den Vorwand, mit den Karlsbader Beschlüssen vom August 1819 sowohl Burschenschafts- als auch Turnbewegung für die folgenden zehn Jahre wirkungsvoll zu unterdrücken. Die französische Julirevolution und der polnische Novemberaufstand von 1830 führten zu einem Wiedererstarken der nationalen und demokratischen Bewegung, die nun in allen bürgerlichen Schichten Fuß fasste. Das vorherrschende Gefühl nationaler Verbrüderung fand seinen wirkungsvollsten Ausdruck 1832 im Hambacher Fest. Die sogenannte Rheinkrise von 1840, hervorgerufen durch die französische Forderung nach der Rheingrenze, gab den antifranzösischen Gefühlen neue Nahrung. Das von Nikolaus Becker verfasste „Rheinlied" gewann schnell unglaubliche Popularität, so dass Bismarck im Rückblick äußerte:

    „Damals war dieses Lied mächtig, und bei der Schnelligkeit, mit der es von der Bevölkerung aufgegriffen wurde, hatte es die Wirkung, als ob wir ein paar Armeekorps mehr am Rhein stehen hätten, als es tatsächlich der Fall war."
    [Fn-414: Zitiert nach Ulrich Otto , 1982, 53.]

Einen Höhepunkt erreichte die nationale Begeisterung in den Revolutionstagen von 1848/49, in denen die nationale Einheit den „ersten Programmpunkt" neben der Forderung nach Freiheit bildete. [Fn-415: Werner Conze / Dieter Groh , 1966, 33.] Unzählige Lieder riefen zum „heil'gen Krieg" [Fn-416: Vgl. z.B. Hermann Rollett, Alarm, in: Republikanisches Lieder-Buch, 1848, Nr. 3, 8/9.] für ein einiges und freies deutsches Vaterland, xenophobe Elemente standen unvermittelt neben kosmopolitischen Gedanken. Die blutige Niederschlagung der Revolution ließ die nationalen Lieder erneut für ein Jahrzehnt verstummen. Ermutigt durch den italienischen Befreiungskampf und den Beginn der „Neuen Ära" in Preußen, ertönten 1859 wiederum alte und neue Lieder, die nun vor allem von den deutschen Sänger-, Schützen- und Turnvereinen gepflegt wurden. Wie sich auf den nationalen Festen der Schützen (1861), der Turner (1863) und der Sänger (1865) zeigte, war die nationale Bewegung zu einer Massenbewegung geworden, die über bürgerliche Schichten hinaus Einfluss nahm. Durch die sogenannten Einigungskriege gegen Dänemark 1864, Österreich 1866 und gegen Frankreich 1870/71 konnte die Hoffnung auf nationale Einheit zumindest im kleindeutschen Rahmen unter preußischer Führung erfüllt werden. Während vor allem das norddeutsche Bürgertum diesen Weg weitgehend unterstützte, war die Haltung der Arbeiterbewegung in den sechziger Jahren zunächst ambivalent. Erst mit dem

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Krieg gegen Frankreich begannen die Sozialdemokraten sich einstimmig gegen diese Form der nationalen Einigung zu wenden.

Welche Rolle das Denken in der Kategorie des Nationalen in Bürgertum und Arbeiterbewegung 1848 und dann in den sechziger und siebziger Jahren spielte, soll im folgenden durch eine Analyse der Gedichte und Lieder untersucht werden, die für die Verbreitung der „nationalen Frage" von außerordentlicher Bedeutung waren.

2.2.1 „Hermanns Geist" erwacht: Nationale Forderungen und Bilder in der Revolution von 1848

Die Liederbücher von 1848 bieten ein breites Spektrum nationaler Vorstellungen. Dies ist unter anderem auch der Tatsache geschuldet, dass Lieder aus den Befreiungskriegen unvermittelt neben solchen stehen, die im direkten Zusammenhang mit den Ereignissen von 1848 entstanden sind. Auch wenn die Dichtungen von 1813/14 zu einem anderen Zeitpunkt verfasst wurden, so dürfen sie doch nicht aus der Untersuchung ausgeklammert werden. Die Tatsache, dass sie 1848 wieder abgedruckt wurden, macht deutlich, dass sie den zeitgenössischen Sängern noch nicht als veraltet erschienen. Dafür spricht, dass nur bestimmte Gesänge aus der Zeit des Krieges gegen Napoleon in den Liederbüchern von 1848 auftauchen. In der Mehrzahl stammen sie aus der Feder der beiden berühmtesten Dichter dieser Zeit: Ernst Moritz Arndt (1769-1860) und Theodor Körner (1791-1813). Neben dem bereits erwähnten „Was ist des Deutschen Vaterland?" [Fn-417: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 34, 53/4.] findet sich so zum Beispiel Körners Beschreibung von „Lützows wilde[r] Jagd" [Fn-418: Republikanische Lieder, 1849, Nr. 14.] , Arndts martialische Verse „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, / Der wollte keine Knechte" [Fn-419: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 23 und Demokratische Lieder, 1849, Nr. 4, 7/8.] , Karl Follens „Brause, du Freiheitssang" [Fn-420: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 39, 59/60. Karl Follen (1795-1840) nahm als freiwilliger Jäger am Kampf gegen Napoleon teil, floh 1819 als radikaler Burschenschaftler nach Frankreich und 1820 in die Schweiz. Dort wurde er auf Requisition der preußischen Regierung ausgewiesen und wanderte schließlich 1829 nach Nordamerika aus, wo er zunächst als Deutsch-Dozent an der Harvard University in Boston und dann als unitarischer Prediger arbeitete.] und schließlich Wilhelm Hauffs im Rückblick 1824 gedichtetes „Kriegers Morgenlied" [Fn-421: Demokratische Lieder, 1849, Nr. 34, 42/3.] . Damit fehlt in den Liederbüchern von 1848 die sogenannte „landespatriotische Lyrik", die Karen Hagemann als eine der Hauptströmungen der 1813 verfassten Dichtungen ausmacht. In diesen Gedichten wurde die Teilnahme am Krieg vornehmlich mit der Treue

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zum Herrscherhaus, der Wiedererringung des altpreußischen Kriegsruhmes und der Befreiung der eigenen Heimat begründet. [Fn-422: Karen Hagemann , 1996, 60-62.] Diese Auslassung erscheint verständlich, wenn man sich die in den Liedern und Gedichten von 1848 aggressiv geäußerte Kritik am „Tyrannen" vergegenwärtigt, so wie sie im vorangehenden Kapitel dargestellt werden konnte. Darüber hinaus zielten diese Lieder jedoch auf eine Überwindung des deutschen Partikularismus, zu der eine landespatriotische Einstellung wenig gepasst hätte. So zählen die 1848 wiederaufgegriffenen Lieder vor allem zur „Freiwilligenlyrik", in der die Befreiung des „deutschen Vaterlandes" von der „französischen Tyrannenmacht" und die Darstellung des Krieges als eine Art Initiationsphase für den Mann und Bürger im Vordergrund stand. [Fn-423: Karen Hagemann , 1996, 58-60.]

1848 wurden offenbar zum größten Teil solche Lieder wieder „ins Repertoire" genommen, in denen der Freiheitskampf von 1813 vornehmlich als Kampf gegen (französische) Tyrannen dargestellt wurde, während antifranzösische Äußerungen dahinter zurücktreten. In Ernst Moritz Arndts Ruf „Zu den Waffen!" findet sich allerdings die aggressive Verunglimpfung: „Zur Hölle mit den wälschen Affen! / Das alte Land soll unser sein!" [Fn-424: Ernst Moritz Arndt, Zu den Waffen!, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 50, 76/7.] und in seinem berühmten „Was ist des Deutschen Vaterland?" wird Arndt noch deutlicher, indem er schreibt:

    „Das ist des Deutschen Vaterland,
    Wo Zorn vertilgt den wälschen Tand,
    Wo jeder Deutsche heißet Freund,
    Da soll es sein."
    [Fn-425: Ernst Moritz Arndt, Was ist des Deutschen Vaterland?, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 34, 53/4.]

Damit werden Deutsche und Franzosen nicht nur als Gegner dargestellt, sondern es werden ihnen auch dichotomische Eigenschaften zugeschrieben. Sowohl in der Bezeichnung „Affe" als auch in dem Begriff „Tand" steckt der Vorwurf der Oberflächlichkeit und der leichtfertigen Sitten - ein bereits im 18. Jahrhundert verbreitetes Stereotyp zur Charakterisierung des französischen Volkes. [Fn-426: Vgl. Michael Jeismann , Was bedeuten Stereotypen für nationale Identität und politisches Handeln?, in: Jürgen Link / Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, 84-93, hier: 87/8.]
Über die Deutschen heißt es dagegen: „Als Männer hat uns Gott geschaffen", und so sollen im Kampf die „Arme erstraffen" und „die

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Brüste" „stählern" werden. [Fn-427: Ernst Moritz Arndt, Zu den Waffen!, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 50, 76/7.] Aber nicht nur die männlich-athletische Körperlichkeit unterscheidet die Deutschen von den „verweiblichten" Franzosen; der körperlichen Erscheinung korrespondiert die innere Haltung, der „kühne[ ] Muth" und die „freie[ ] Rede", die „deutsche Lieb und Treue". [Fn-428: Ernst Moritz Arndt, Der Freiheit Schlachtruf, in: Demokratische Lieder, 1849, Nr. 4, 7/8 und in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 23.] Damit sind die wesentlichen Merkmale genannt, die den „Germanen" in der Literatur des 19. Jahrhunderts durchgängig zugeschrieben werden. [Fn-429: Vgl. Michael Titzmann , Die Konzeption der „Germanen" in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Jürgen Link / Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, 120-145, hier. 127.]
In den meisten der aus der Zeit von 1813 übernommenen Lieder begegnet man dieser Charakterisierung des deutschen Volkes, häufig allerdings ohne dass damit die Abgrenzung gegenüber den Franzosen ausdrücklich verbunden wäre. Manches Mal wird das gleiche Muster auf das Gegensatzpaar „Volk" und „Buben" übertragen. Mit „Buben" sind diejenigen gemeint, die sich „hinter dem Ofen" verstecken und sich in „seidene Decken" verkriechen [Fn-430: Theodor Körner, Das Volk steht auf, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 71, 106-108 und in: Republikanische Lieder, 1849, Nr. 8.] - kurz: die „Kollaborateure" der französischen Besetzung. Hier deutet sich an, wie diese Lieder 1848 vermutlich aufgefasst wurden: Die antifranzösische Spitze mancher Lieder wurde möglicherweise überhört, die ursprünglich negative Charakterisierung der Franzosen wurde auf die „Tyrannen" und ihre Helfershelfer übertragen, die ja auch als Gegner des deutschen Volkes galten und damit sogar geradezu als Erben Napoleons hingestellt werden konnten.

In den 1848 noch angestimmten „Freiheitsliedern" wird das Vaterland nie territorial erklärt. Wenn der Begriff des Vaterlandes nicht überhaupt gänzlich unbestimmt bleibt, tritt die Sprache als einigendes Band auf, so wie Arndt es beispielhaft in den Versen ausgedrückt hat: „So weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt [, ist des Deutschen Vaterland.]" [Fn-431: Ernst Moritz Arndt, Was ist des Deutschen Vaterland?, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 34, 53/4.] Daneben steht die „deutsche Eiche" als Symbol deutscher Kraft und Bodenständigkeit. [Fn-432: Vgl. z.B. Theodor Körner, Ahnungsgrauend, todesmuthig, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 74, 111-114 und ders., Alles Große muss im Tod bestehen!, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 76, 116/7.] Die historische Vergangenheit in Gestalt der Germanen dient der Beschwörung einer traditionsreichen Einheit und Kraft, der Sieg Her-

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manns (Arminius) über die Römer unter Varus im Jahre 9 n.Chr. scheint in den Liedern den Sieg über die Franzosen vorwegzunehmen. [Fn-433: Vgl. z.B. Ernst Moritz Arndt, Zu den Waffen!, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 50, 76/7.]

Ein weiteres Motiv dieser Lieder ist der patriotische Heldentod. Theodor Körner, der 1813 als Zweiundzwanzigjähriger in den Reihen des Lützowschen Freikorps kämpfte und fiel und damit im Rückblick zum idealen Nationalhelden wurde, hat dieses Motiv in unzähligen Varianten gestaltet. In einem seiner Lieder, die auch 1848 noch gesungen wurden, heißt es:

    „Nun, mit Gott, wir wollen's wagen,
    Fest vereint dem Schicksal steh'n,
    Unser Herz zum Altar tragen,
    Und dem Tod entgegen geh'n.
    Vaterland! dir woll'n wir sterben,
    Wie dein großes Wort gebeut!
    Unsre Lieben mögen's erben,
    Was wir mit dem Blut befreit.
    Wachse, du Freiheit der deutschen Eichen,
    Wachse empor über unsere Leichen!
    Vaterland höre den heiligen Eid!
    […]
    Und nun frisch zur Schlacht gewendet,
    Aug' und Herz zum Licht hinauf!
    Alles Ird'sche ist vollendet,
    Und das Himmlische geht auf.
    Faßt euch an, ihr deutschen Brüder!
    Jede Nerve sei ein Held!
    Treue Herzen seh'n sich wieder,
    Lebewohl für diese Welt!"
    [Fn-434: Theodor Körner, Ahnungsgrauend, todesmuthig, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 74, 111-114.]

In diesen Strophen wird sehr deutlich eine Analogie zwischen der Anbetung Gottes im Gebet und der „Anbetung" des Vaterlandes im Kampf hergestellt: Das „Herz" wird zum „Altar" getragen, mit „heilige[m] Eid" wird dem Vaterland das Opfes des eigenen Lebens versprochen. Dieses Opfer begründet die Gemeinschaft der „deutschen Brüder", die im Kampf zu „Held[en]" werden. Der Segen Gottes wird unzweideutig vorausgesetzt, denn durch den Schlachtentod geht „das Himmlische" auf. So entstand mit den Befreiungskriegen ein

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„‚national-religiöse[r]‘ Opfermythos, der die Nation als höchsten gottgewollten Sinnbezug zum Maß aller Dinge machte." [Fn-435: Karen Hagemann , 1996, 63/4.] Der Tod im Kampf für das Vaterland erscheint aus dieser Perspektive nicht mehr als Unglück, sondern geradezu als Vollendung der individuellen Bestimmung für das Vaterland.

Dies kann so weit gehen, dass der Krieg geradezu als „spielerische[s] Vergnügen" [Fn-436: Karen Hagemann , 1996, 59.] dargestellt wird, so z.B. in Wilhelm Hauffs post festum geschriebenem „Kriegers Morgenlied", das das alltägliche Leben im Frieden mit den Worten abqualifiziert:

    „Und was ist, und was ist
    Aller Männer Freud' und Lüst?
    Unter Kummer, unter Sorgen
    Sich bemühen früh am Morgen,
    Bis der Tag vorüber ist."

Dieser langweiligen Mühsal wird das ereignisreiche Leben des „Kriegers" gegenübergestellt, dessen Tod in der schnellen Folge von „gestern", „heute" und „morgen" nicht mehr als existentielle Bedrohung, sondern als Element dieser „aufregenden" Abfolge erscheint:

    „Morgenroth! Morgenroth!
    Leuchtest mir zu frühem Tod.
    Bald wird die Trompete blasen,
    Dann muss ich mein Leben lassen,
    Ich und mancher Kamerad.

    Kaum gedacht, kaum gedacht,
    Wird der Lust ein End' gemacht!
    Gestern noch auf stolzen Rossen,
    Heute durch die Brust geschossen,
    Morgen in das kühle Grab." [Fn-437: Wilhelm Hauff, Kriegers Morgenlied, in: Demokratische Lieder, 1849, Nr. 34, 42/3 und in: Deutsche Lieder, 1855, Nr. 76, 97/8.]

Die Gräuel und die Gefahr eines Krieges werden in diesen Versen verschwiegen. [Fn-438: Vgl. Karen Hagemann , 1996, 59.] Für mögliche Skrupel vor dem Töten ist in einem Lied, das in Wortwahl und Rhythmus eher an ein Jagdlied gemahnt, kein Platz.

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Vor der Folie dieser 1848 getroffenen Auswahl an älteren Liedern und Gedichten erscheint es sinnvoll zu fragen, welche Motive und Bilder in den um 1848 gedichteten Gesängen übernommen bzw. weiterentwickelt wurden.

Im Gegensatz zu den Liedern von 1813, in denen die Befreiung von der napoleonischen Herrschaft an oberster Stelle stand, geht es in den Liedern von 1848 nicht um die Erringung der äußeren Freiheit. Überall ertönt dagegen der Ruf nach deutscher Einheit. Ein anonymer Dichter singt von der „ed'le[n] Jungfrau" Germania, die durch den „Hahnschrei" (d.h. die französische Februarrevolution) geweckt wurde und voll Schrecken erkennen muss, dass ihr einst prächtiger Mantel aus „acht und dreißig Lappen" von Motten zerfressen wurde. Da wendet sie sich mit folgenden Worten an einen Schneider:

    „Es flieht mein kaum erwachender Blick
    In meine Welt von Träumen zurück;
    Und denk' ich verschwundener Zeiten, der schönen,
    Da faßt mich ein unüberwindliches Sehnen -
    Trotz seinem Verbleichen und seinem Veralten,
    Ich liebe den Mantel und will ihn behalten
    Von acht und dreißig Lappen.

    Hub an zu lachen das Schneiderlein:
    O Jungfrau! schöne Jungfrau mein!
    Erwache doch ganz! Die bunte Mode
    Ist längst verblichen im seligen Tode,
    Der Schilder und Wappen gleißendes Heer;
    Man macht jetzt keinen Mantel mehr
    Von acht und dreißig Lappen.

    Nein, Jungfrau! ich mache dir lieber gleich
    Den neuen Mantel aus Einem Zeug,
    […]
    Auch werden die Kosten Dich nicht so drücken,
    Wie für das alte mühselige Flicken
    Von acht und dreißig Lappen."
    [Fn-439: Acht und dreißig Lappen, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 32, 54-56.]

Dieses Lied kritisiert die „Sehnsucht" der „Jungfrau Germania", ihren alten Mantel aus achtunddreißig Fetzen wieder zu flicken, d.h. das alte System des Deutschen Bundes so weit zu erneuern, dass es den Stürmen der Zeit hätte trotzen können. Die Hauptargumente des „Schneiders" sind die höheren Kosten und die veränderte Mode. Damit wird dem Deutschen Bund Ineffektivität

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vorgeworfen und auf das erstarkende Nationalgefühl hingewiesen. In den meisten Liedern wird die Forderung nach Einheit und damit nach Abschaffung der einzelnen deutschen Fürstentümer dagegen mit dem Ruf nach Freiheit von Unterdrückung durch die fürstlichen „Tyrannen" verbunden. Die Deutschen haben kein Vaterland - so heißt es -, ihr Land sei ihnen entfremdet, weil es „mit drei Dutzend Namen" benannt worden und „die Willkühr gesetzlos im Lande tos't." [Fn-440: Harro Harring, Des Deutschen Gedanke, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 17, 30/1.]

Die Frage hingegen, welche Länder denn nun zum Vaterland gehören, wird in den meisten Liedern ausgespart. Wenn von der Zersplitterung Deutschlands die Rede ist, reichen die Angaben über die Zahl der einzelnen Teile von „dreißig Stück" bis „neun und dreißig Lappen". [Fn-441: Freiheitsgesang, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 23, 40/1 bzw. Georg Herwegh, Dem deutschen Volke, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 124, 200-202.] Die nur einmal genannte Zahl neununddreißig entspricht genau der Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundes, d.h. sie würde Österreich miteinschließen. Das Problem, was in diesem Fall mit den nicht-deutschen Gebieten Österreich-Ungarns geschehen sollte bzw. mit den Teilen des Königreichs Preußen, die nicht zum Deutschen Bund gehörten, wird nicht angesprochen. Vermutlich war dies ein zu schwieriges und komplexes Problem, als dass es in Liedform hätte dargestellt werden können. Darüber hinaus dienten die Lieder wahrscheinlich eher der rituellen Bekräftigung des „Gedanken[s] der nationalen Verbundenheit" und sparten darum diese Streitfragen bewusst aus. [Fn-442: Vgl. Akira Matsumoto , Nationalbewegung und Männergesangverein im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Friedhelm Brusniak / Dietmar Klenke (Hg.), „Heil deutschem Wort und Sang!", Augsburg 1995, 39-45, hier: 41.]
Die anderen Lieder, die von achtunddreißig oder weniger „Lappen" sprechen, lassen nicht deutlich erkennen, ob damit Österreich oder noch weitere Gebiete ausgeschlossen werden sollten oder diese Zahlen einfach nur aus Unkenntnis über die genaue Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundes genannt wurden. So hochgesteckt, wie noch 1813 die „Ansprüche" Ernst Moritz Arndts, der auch mit einem Deutschland unter Einschluß der Schweiz noch nicht zufrieden sein wollte, waren die Erwartungen 1848 jedoch nicht mehr. Die größte Ausdehnung des erwünschten geeinten Deutschland scheint mit der Bestimmung „vom Ostsee- bis zum Donaustrand" formuliert worden zu sein. [Fn-443: Hört, deutsche Brüder, meine Klage, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 17, 28/9.]

Die Streitfrage, ob dieses erträumte Deutschland unter preußischer oder österreichischer Führung stehen solle, taucht in diesen Liedern von 1848 nicht auf, denn für die allermeisten unter ihnen heißt das Ziel ganz eindeutig: die deut-

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sche Republik. [Fn-444: Vgl. stellvertretend für viele andere Lieder: H.D. Backfisch, Deutsches Republikanerlied, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 11, 15/6.] Wichtiger als die territoriale Bestimmung erscheint damit die Feststellung, das „neue deutsche Vaterland" solle das „Vaterland der Freien" sein. [Fn-445: So heißt es in einer Umdichtung des sehr beliebten „Deutsche[n] Weihelied[es]", das Matthias Claudius ursprünglich 1772 verfasste. Vgl.: Stimmt an mit hellem, hohem Klang, in: Liederbuch für Handwerker-Vereine, 1848, Nr. 111, 142. Auch Walter Schmidt betont, dass in den Liedern, die im Umfeld der Arbeiterverbrüderung entstanden sind, „Vaterland und Nation […] stets nur im Kontext mit Freiheit, Demokratie und Recht" erscheinen würden, vgl. ders., 1994, 32.]
Die „alte" Definition der Deutschen über die gemeinsame Sprache wird ergänzt, indem das „freie Wort" zum Zeichen der Deutschen erklärt wird. [Fn-446: Das Volk steht auf, in: Liederbuch für Handwerker-Vereine, 1848, Nr. 106, 135/6. Dieses Lied bezieht sich mit seinem Titel auf die erste Liedzeile des von Theodor Körner 1813 verfassten „Männer und Buben", zu dessen Melodie es auch gesungen werden soll.] Besonders eindrucksvoll belegt wird diese These durch eine Umdichtung des Arndtschen Liedes, die auf die Frage „Was ist des Deutschen Vaterland?" im Schlußvers die Antwort gibt: „Das freie Deutschland soll es sein!" [Fn-447: August Silberstein, Des Deutschen Vaterland, in: Demokratische Lieder, 1849, Nr. 39, 48/9.] Damit werden die Begriffe „Deutschland" und „national" in diesen Liedern etwas anders benutzt als in den Debatten der Paulskirche, in denen sie nach Borowsky meist „im Sinne einer Sprach- und Kulturnation" verwendet worden seien. [Fn-448: Peter Borowsky , 1992, 81.]

Durch die starke Betonung der Freiheit wird der „Tyrann" 1848 zum Hauptgegner des „Volkes". Da das Volk sich aber vornehmlich über seine „deutschen Eigenarten" definiert, müssen dem „Tyrannen" die antagonistischen Merkmale im Symbolsystem zugewiesen werden. Die 1848 getroffene Auswahl der „Befreiungslieder" von 1813 führte zu der Hypothese, dass der „Tyrann" die negativen Zuschreibungen der Franzosen aus der Zeit der antinapoleonischen Erhebung „geerbt" haben könnte. In der Tat konnte bereits gezeigt werden, dass der „Tyrann" häufig als dekadent und weichlich dargestellt wurde. Im Gegensatz zum Franzosenbild von 1813 waren 1848 damit jedoch auch Vorstellungen von Grausamkeit und Perversität verbunden, wie sie etwa durch den Vergleich mit Nero angedeutet wurden. [Fn-449: Vgl. Kapitel 2.1.1 der vorliegenden Arbeit.] Gegen diese „Tyrannen" rufen die Lieder die „deutschen Männer" zum Kampf. So heißt es in einem Gedicht, das in Anlehnung an den Schlachtruf Blüchers aus den Befreiungskriegen den Titel „Vorwärts!" trägt:

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    „Wachet auf! schallt's durch das Land der Eichen,
    Auf, für Wahrheit, Freiheit, Vaterland!
    Deutschland hört es, deutsche Namen reichen
    Sich zum Bruderbunde Herz und Hand.
    Alle sind mit Muth und Kraft gestählet,
    Alle sind von einem Geist beseelet,
    […]
    Um der Lüge finst're Macht zu dämpfen,
    Für die Freiheit ritterlich zu kämpfen,
    Für der wahren Freiheit goldnen Heerd,
    Zuckt der Deutsche kampfbereit das Schwert."
    [Fn-450: H.J. Frauenstein, Vorwärts!, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 5, 8-10.]

Ähnlich wie schon 1813 werden die (männlichen) Deutschen hier als mutig und voll Kraft gekennzeichnet und ihr Freiheitsdrang besonders herausgestellt. Ihr Kampf wird als „ritterlich" charakterisiert, womit den „verdorbenen Sitten" der Herrscher, die das Land mit ihren Schergen und Spionen unterdrücken, das Ideal eines offenen Kampfes gegenübergestellt wird. Wie der Titel des eben zitierten Liedes andeutete, wird der Kampf von 1848 manches Mal als Fortführung der antinapoleonischen Erhebung gedeutet. So betont auch Hoffmann von Fallersleben die unveränderte Gültigkeit des Wahlspruches von 1813 mit den Worten: „Die Losung bleibt, Tod oder Sieg!" [Fn-451: Hoffmann von Fallersleben, Landsturmlied, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 103, 163/4.] Ebenso wird das Motiv des „heiligen Krieges" [Fn-452: Ebd.] übernommen, in dem das Opfer des eigenen Lebens gebracht werden muss:

    „Wir opfern das Leben
    Dem Vaterlandsaltar,
    Des Ruhmes Aernte winkt;
    Für sie [die deutsche Republik] in den Tod zu gehen,
    O welche Lust! […]
    Deutsche Jugend stirbt,
    Doch sie ergibt sich nicht!
    Mit diesem Schwur erfüllen
    Wir unsre Pflicht."
    [Fn-453: Carl Heinrich Schnauffer, Es leb' die Republik, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 21, 38/9.]

[Seite der Druckausg.: 134]

Zwar wird hier das gleiche religiöse Vokabular wie 1813 benutzt, es fehlt allerdings der Bezug auf die Belohnung durch Gott. Damit wird der Opfermythos seiner religiösen Überhöhung entkleidet, ohne damit an emotionaler Stärke einzubüßen. Düding spricht in diesem Zusammenhang von einer „säkularisierten Emotionalität" der Märzkämpfer. [Fn-454: Dieter Düding , 1991, 617.] Weiterhin wird der Tod im Kampf nicht als Unglück, sondern als geradezu „freudiges" Ereignis dargestellt. Herwegh scheint sogar auf das schon zitierte Gedicht Wilhelm Hauffs anzuspielen, wenn er dichtet: „O Reiterlust, am frühen Tag / Zu sterben, zu sterben." [Fn-455: Georg Herwegh, Die bange Nacht ist nun herum, in: Liederbuch für Handwerker-Vereine, 1848, Nr. 101, 130/1.]

Viel stärker noch als 1813 ist der Bezug auf die „germanische Vergangenheit". In vielen Liedern schwingen die „Hermannssöhne" das „Hermannsschwert", um in „Hermanns Geist" die „Hermannsschlacht" zu schlagen. [Fn-456: Vgl. z.B. H.J. Frauenstein, Gott will's (10. April 1848), in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 4, 6-8; H.J. Frauenstein, Neujahrsgedanken. Am 1. Januar 1849, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 115, 182-185; H.J. Frauenstein, Vaterlands-Wachtruf, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 3, 5/6 und Ed. Schulte, Erlösung, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 54, 130-132.]
Der Germanenmythos füllt die Leerstelle einer historischen National-Tradition. Die Rückprojektion eines einigen und freien Deutschland-Germanien begründet den Ruf, für die „Wiederherstellung" dieses Zustandes zu kämpfen. Die Deutschen sollen sich als „Germanen" ihrer „Ahnen" würdig erzeigen [Fn-457: H.J. Frauenstein, Vorwärts!, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 5, 8-10.] , denn: „Die alte heil'ge deutsche Erden / Will frei und froh und glücklich werden." [Fn-458: H.J. Frauenstein, Vaterlands-Wachtruf, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 3, 5/6.] In einigen wenigen Liedern wird der Kampf von 1848 in Analogie zur Apokalypse des Johannes als „letzte Schlacht" gedeutet, in der die Verheißung der mythischen Vergangenheit vollendet wird. So heißt es in einem Lied mit dem Titel „Erlösung":

    „Helden der heiligen Hermannsschlacht,
    Ersteh'n aus zersprungenen Särgen!
    O freue dich, mein Vaterland,
    Bald wird der Erlöser sich zeigen;
    Er wird im bräutlichen Festgewand
    Vor deinem Winke sich neigen!"
    [Fn-459: Ed. Schulte, Erlösung, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 54, 130-132.]

[Seite der Druckausg.: 135]

Ähnlich omnipräsent wie der Verweis auf die Germanen ist das Symbol der Eiche. In botanisch nicht ganz korrekter Darstellung heißt es über sie:

    „Sie [die Eichen] breiten ihre Kronen
    In rauh' und milden Zonen,
    Hin über alles deutsche Land. […]
    Und sind bis zu den Gipfeln
    Sich gleich, so hier wie dort, […]
    Und flüstern mit den Winden,
    In gleichem rhythmischen Akkord.

    O Deutsche, sucht den Eichen
    In einem nur zu gleichen:
    In steter Einigkeit,
    Dann werdet ihr noch ragen
    Wie sie in diesen Tagen,
    Voll deutscher Kraft in später Zeit."
    [Fn-460: Joh. N. Vogl, Die deutschen Eichen, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 20, 33.]

Diese metonymische Relation zwischen dem Wachstumsgebiet der Eichen und „Deutschland" wird in den meisten Gedichten allerdings nicht explizit dargestellt, sondern als bekannt vorausgesetzt. Tatsächlich galt die Eiche ja bereits 1813 als deutsches Symbol. Die Deutung der Eiche als Symbol für Kraft, innere Stärke und Freiheit hat sich seitdem nicht geändert. So dichtet Hoffmann von Fallersleben:

    „Wie die Eichen
    Himmelan trotz den Stürmen streben,
    Wollen wir auch ihnen gleichen,
    Frei und fest wie deutsche Eichen
    Unser Haupt erheben.

    Darum sei der Eichenbaum unser Bundeszeichen:
    Daß in Thaten und Gedanken
    Wir nicht schwanken oder wanken,
    Niemals muthlos weichen."
    [Fn-461: Hoffmann von Fallersleben, Bundeszeichen, in: Demokratische Lieder, 1849, Nr. 24, 32.]

[Seite der Druckausg.: 136]

Die Eiche steht in den hier untersuchten Liedern allerdings nicht für „Verwurzelung im Boden" im Sinne einer „realistischen Dimension" der Deutschen, so wie Ute Gerhard und Jürgen Link es herausgearbeitet haben. [Fn-462: Ute Gerhard / Jürgen Link , 1991, 26/7.] Dies mag daran liegen, dass auch der gegensätzliche Partner, das „oberflächliche" und „unberechenbare" Frankreich, weitgehend fehlt.

Eine ähnliche Symbolfunktion wie die Eiche nimmt der Adler in den Liedern von 1848 ein. Wie in dem folgenden „Deutsche[n] Freiheitslied" so steht er auch sonst meist für Kraft und Mut:

    „Deutsche Kraft ist mächtig worden,
    Stark des Volkes Geist.
    Trag ihm Deutschlands Banner vor,
    Kühner Aar, steig' auf zum Fluge!
    Vorwärts, ohne Scheu,
    Deine Bahn ist frei!"
    [Fn-463: H.J. Frauenstein, Deutsches Freiheitslied, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 2, 4/5.]

Im Symbol der Eiche steckt stärker die Vorstellung von Beständigkeit und Treue, während der „Aar" - wie im eben zitierten Gedicht deutlich wird - 1848 eher das Vorwärtsdrängende und Himmelsstürmende verkörpert. Das Symbol des Adlers ist jedoch in diesen Liedern wesentlich seltener anzutreffen als das Bild der Eiche.

Ein Symbol ganz anderer Art ist die deutsche „Tricolore", die in vielen Gedichten von 1848 weht. Häufig wird die Fahne selbst gar nicht erwähnt, sondern es werden den Farben nur bestimmte Bedeutungen unterlegt. So heißt es in der „Deutschen Farbenlehre" Hoffmann von Fallerslebens:

    „Ueber unserm Vaterlande
    Ruhet eine schwarze Nacht,
    Und die eigne Schmach und Schande
    Hat uns diese Nacht gebracht.
    […]
    Und es kommt einmal ein Morgen
    Freudig blicken wir empor:
    Hinter Wolken lang verborgen
    Bricht ein rother Strahl hervor.
    […]

    [Seite der Druckausg.: 137]

    Und es ziehet durch die Lande
    Ueberall ein goldnes Licht,
    Das die Nacht der Schmach und Schande
    Und der Knechtschaft endlich bricht."
    [Fn-464: Hoffmann von Fallersleben, Deutsche Farbenlehre, in: Republikanische Lieder, 1849, Nr. 18 und in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 40, 60/1.]

Neben dieser Interpretation der Farben im Sinne der bereits dargestellten Naturmetaphorik werden die Farben auch im Kontext des Kampfes gesehen und stehen dann für Pulver, Blut und Flamme [Fn-465: Ferdinand Freiligrath, Schwarz-Roth-Gold, in: Republikanische Lieder, 1849, Nr. 4; Deutsche Lieder, 1849, Nr. 28, 44-46 und in: Republikanisches Liederbuch, 1848, Nr. 10, 25-29.] , oder sie symbolisieren den Bruderbund, dessen Zeichen golden wie Flammen, rot wie die Liebe und schwarz wie die Treue im Tod sei. [Fn-466: Hinkel, Wo Muth und Kraft in deutscher Seele flammen, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 16, 26-28.]

So dienen die in den hier untersuchten Liedern von 1848 formulierten Nationalstereotype im wesentlichen dazu, eine Identität als Volk in Abgrenzung zum Fürsten auszubilden; einen Sonderfall bilden die ursprünglich 1813 gedichteten Lieder. Von diesen abgesehen, gibt es nur außerordentlich wenige franzosenfeindliche Äußerungen. [Fn-467: Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Dieter Düding , 1991, 617.]

Neben diesen positiv besetzten Symbolen für Deutschland benutzen einige wenige Lieder auch Symbole, um die Deutschen zu kritisieren oder die nationale Emphase lächerlich zu machen. Am häufigsten werden die Deutschen in der Figur des verschlafenen bzw. naiv-braven deutschen Michel karikiert. In den meisten Gedichten wird jedoch die Hoffnung geäußert, dass Michel sich nicht wieder einschläfern lasse, sondern endlich das Licht hereinlassen möge. [Fn-468: Stolle, Michel erwacht!, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 27, 47-49. Ähnlich auch: Heinrich Heine, Erleuchtung, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 54, 91/2.] Gottfried Keller stellt mit seiner „Frau Michel" die Begeisterung der (weiblichen) Deutschen für die „Herzensangelegenheiten" der Fürstenhäuser bloß, die doch selber nur Herablassung und Verachtung für ihr Volk übrig haben. [Fn-469: Damit tritt in diesen Liedern Michel vor allem in der Funktion des „Philisters" und als „kleine[r], ohnmächtige[r] Michel" auf. In keinem Gedicht wurde jedoch das Bild des „gestrafte[n], geschundene[n] Michel" gefunden, das nach Karl Riha in den Dichtungen des Vormärz zu finden ist. Vgl. ders., 1991, 153.]
So beginnt er eines seiner Gedichte mit den Worten: „Frau Michel ist eine gute Frau, / wie liebt sie ihren König!", um dann neun Strophen lang darzustellen, wie Frau Michel sich trotz ihrer eigenen Not abmüht, ihr Haus

[Seite der Druckausg.: 138]

für die Hochzeit des Prinzen zu schmücken, dessen Wagen schließlich so schnell an ihrem Heim vorbeifährt, dass sie nicht einmal einen Blick auf das Prinzenpaar erhaschen kann. Darauf ruft Gottfried Keller in völlig verändertem Ton aus:

    „So schlage doch der Teufel d'rein!
    ich kann nicht mehr spassen und narren.
    Wie lang noch willst du, altes Kind!
    in deinem Dusel verharren?
    du dummes Weib, Frau Michel!"
    [Fn-470: Gottfried Keller, Frau Michel, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 49, 88/9.]

Einen ähnlichen „Dusel" klagt ein Lied an, das erst nach dem Scheitern der Revolution von 1848 gedichtet wurde. Hier fragt der Verfasser: „Deutschland schläfst du? […] Ist die Barbarossamähre / Immer noch nicht ausgeträumt? […] Alle Welt begreift die Lehre, / […] Nur mein Volk, nur Deutschland säumt." [Fn-471: K.H. Schnauffer, Ein Mahnruf an die Deutschen, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 75, 122-125.] Hier wird mit dem populären Mythos von Barbarossa, der im Kyffhäuser schlafen und eines Tages wiederkehren soll, um Deutschland zu neuer Größe zu führen, der Glaube der Deutschen an ihre Fürsten, Könige und Kaiser angegriffen. Dieser Mythos ist in den Augen des Dichters eine „Mähre". Damit wird ähnlich wie im Gedicht Kellers neben der „Verschlafenheit" auch auf die kindliche Unreife des deutschen Volkes angespielt, das sich von einem Märchen in den Schlaf wiegen lässt. Auch Heine stellt in einem Gedicht „Zur Beruhigung" die Harmlosigkeit der Deutschen dar, in dem er alle Nationalstereotype ironisiert. Er schreibt:

    „Wir sind Germanen gemüthlich und brav,
    Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf.
    Und wenn wir erwachen, pflegt uns zu dürsten,
    Doch nicht nach dem Blute unserer Fürsten.

    Wir sind so treu wie Eichenholz,
    Auch Lindenholz, drauf sind wir stolz;
    Im Land der Eichen und der Linden
    Wird niemals sich ein Brutus finden.

    […]

    [Seite der Druckausg.: 139]

    Wir haben sechsunddreißig Herr'n,
    (Ist nicht zu viel!) und einen Stern
    Trägt jeder schützend auf seinem Herzen,
    Und er braucht nicht zu fürchten die Ideen des Märzen.

    Wir nennen sie Väter, und Vaterland
    Benennen wir dasjenige Land,
    Das erbeigenthümlich gehört den Fürsten;
    Wir lieben auch Sauerkraut und Würsten."
    [Fn-472: Heinrich Heine, Zur Beruhigung, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 65, 149/150.]

Mit diesem Lied wird jedoch nicht das Nationale an sich lächerlich gemacht, sondern die Selbststilisierung zum Volk der kühnen Germanen und starken Eichen, die sich in der verbalen Emphase erschöpft und der darum niemals entsprechende Taten folgen.

Neben diesen Versuchen, mit den Liedern eine nationale Identität zu finden und zu festigen bzw. diese auch wieder zu hinterfragen, steht die Frage, wie das Verhältnis zu anderen Nationen aussehen könnte. Anstelle der „alten" Völkerfeindschaft wird im allgemeinen die Freundschaft bzw. Leidensgemeinschaft der Völker beschworen. So konstatiert Robert Prutz: „Ein gleicher Bund der Liebe schmückt / Des Erdballs freie Nationen" und wünscht sich, dass auch die, „die noch die Kette drückt, […] treu beisammen wohnen" sollen. [Fn-473: Robert Prutz, Polen an Deutschland, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 130, 211/2.] Vor allem Polen spielt darum in den Liedern eine große Rolle. Der gescheiterte Aufstand der Polen gegen die Russen im Jahr 1830 wird erzählt, um den Gedanken an Rache wachzuhalten. Manche dieser Lieder sind bereits unmittelbar im Anschluss an die Niederschlagung des Aufstandes entstanden und gehören damit zur Welle der sogenannten „Polenlieder". [Fn-474: Vgl. Andrea Schmidt-Rösler , „An der Weichsel fernem Strande...", in: Damals 3 (1998), 34-39.] August von Platen-Hallermünde (1796-1835), der einen ganzen Gedichtzyklus über dieses Thema verfasste, wendet sich in seinem „Vermächtniß der sterbenden Polen an die Deutschen" aus der Perspektive der Polen an die Deutschen mit den Worten: „Wir geh'n zu Grab erschöpft […] Und athmen unsern Russenhaß / In eure Seelen aus. […] Doch ihr, gewarnt durch uns're Qual, / Sei's morgen oder heut, / O, seid ihr nur noch ein einzig Mal, / Das alte Volk des

[Seite der Druckausg.: 140]

Teut!" [Fn-475: August von Platen-Hallermünde, Vermächtniß der sterbenden Polen an die Deutschen, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 127, 207/8.] Diese Verpflichtung, mit dem eigenen Kampf für Freiheit das von den Polen bereits vergossene Blut zu rächen, wird auch in einem im März 1848 gedichteten Lied formuliert, das zur Melodie der polnischen Hymne gesungen werden soll und die Worte dieser Hymne mit der Anfangszeile: „Nun ist Deutschland nicht verloren" aufgreift. [Fn-476: H.J. Frauenstein, Deutsches Freiheitslied, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 2, 4/5.] Aber nicht nur Rache ist das Ziel; die Nachricht vom gelungenen Freiheitskampf der Deutschen könnte - so Robert Prutz - zum Fanal für die Polen werden, so dass auch „Polens Aar sich wieder [erhebt]." [Fn-477: Robert Prutz, Polen an Deutschland, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 130, 211/2.]

Damit könnte Deutschland für Polen eine ähnliche Funktion einnehmen, wie sie Frankreich in bezug auf Deutschland in einigen Liedern zugeschrieben wird. So besingt Louise Otto in ihrem „Lied eines deutschen Mädchens" die französische Februarrevolution als Anstoß für die revolutionäre Emphase „aller Völker", besonders aber Deutschlands:

    „So ist in Frankreich Tag und Stunde kommen;
    Die Weltgeschichte hält ihr Weltgericht;
    Ein glorreich Volk hat sich sein Recht genommen,
    Ein Volk, das nicht allein mit Worten spricht,
    Von dessen Thaten alle Throne beben -
    Und alle Völker wagen diesen Ruf:
    Wir wollen frei, ein Volk von Brüdern leben,
    Tod ist die Zeit, die feige Sklaven schuf!"
    [Fn-478: Louise Otto, Lied eines deutschen Mädchens. März 1848, in: Republikanisches Lieder-Buch, 1848, Nr. 50, 114-117 und in: Republikanische Lieder, 1849, Nr. 106.]

So wie hier wird auch in anderen Liedern die Revolution – mit Recht - als ein gesamteuropäisches Phänomen beschrieben. [Fn-479: Vgl. z.B. Die Republik, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 71, 112-114.] Diese Beobachtung führt in vielen Liedern zur Erkenntnis, dass das Gemeinsame - der Freiheitskampf - mehr Bedeutung hat als das Trennende. Harro Harring stellt dazu fest: „Es ist in deutschen Liedern viel gesungen / Von Volkeshaß, der tief die Brust durchdrungen, / Von bitterm Hohn, der einem Volke gilt, […] Nicht blinder Volkshaß soll das Herz bethören!" Und er fordert darum die Völker auf,

[Seite der Druckausg.: 141]

„gemeinsam gegen Despoten und Fürstenknechte" zu kämpfen. [Fn-480: Harro Harring, Mag Haß und Groll die engen Herzen scheiden, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 57, 86/7. Ähnliche Anschauungen finden sich auch in folgenden Liedern: Ed. Schulte, Der Tag der Rache, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 57, 134-136; Gottfried Kinkel, Mein Vermächtnis. Rastatt, August 1849, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 68, 155-157; H. Semmig, Frühlingsruf. Leipzig. Gedichtet Ostern 1844, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 72, 162/3 und Die Republik, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 71, 112-114.]
Damit erscheint die Vision eines „Völkerbund[es]" am Himmel, der - im Gegensatz zum „Bund der Fürsten" - „gestützt auf Freiheit und Recht" der „einzig ächt[e]" „heil'ge Bund" sein würde. [Fn-481: R. Gottschall, Der heil'ge Bund, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 1, 1/2. Auch Walter Schmidt betont den „kosmopolitischen Zug" der nationalen Identität der in der „Arbeiterverbrü derung" organisierten Arbeiter und die daraus resultierende „demokratische Solidarität mit den Freiheitsbestrebungen der anderen Völker". Vgl. ders., 1994, 35.]

Einige Lieder gehen jedoch noch weiter und postulieren: „Der Himmel ist unser Vaterland, / Die Freiheit unsere Liebe!" [Fn-482: Adolph Glaßbrenner, General A., in: Republikanische Lieder, 1851 a, 145-147.] Diese Überzeugung findet ihren Niederschlag in einem in den „Deutsche[n] Liedern" des Hamburger Bildungs-Vereins für Arbeiter abgedruckten Lied, das eine deutliche Warnung vor zu viel nationaler Emphase mit den Worten ausspricht:

    „Keine Scholle darf uns binden,
    Wo wir Geistverwandte finden,
    Knüpfen wir das Bruderband.
    Nicht wie eitle Grillenfänger
    Machen wir den Kreis uns enger
    Durch den Traum vom Vaterland.
    […]
    Aber schöner wird es werden,
    Wenn die Menschen sich versteh'n,
    Wenn verbannt der Zwietracht Hyder
    Und als freie, gleiche Brüder
    Hand in Hand wir Alle gehn."
    [Fn-483: J. Brüning, Laßt uns schwärmen, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 129, 185/6.]

In einem anderen Lied, das demselben Liederbuch entnommen wurde, wird der Gedanke der deutschen Sprache als einigendes Band ausdrücklich angegriffen und dagegen die durch die Eigenschaft Gottes als Vater weltumspannende Kindschaft der Menschen gesetzt. So heißt es dort:

[Seite der Druckausg.: 142]

    „Des freien Mannes Vaterland
    Ist nur dem freien Mann bekannt.
    Der Sclave sperrt's in Grenzen ein,
    Um desto länger Knecht zu sein.
    […]
    Das scheidet mich vom Bruder nicht,
    Daß er nicht meine Sprache spricht.
    Die Welt regirt ein großer Herr
    […]
    Wie Kinder zu dem Vater auf,
    Blick alles Volk zu ihm hinauf."
    [Fn-484: Freimann, Umschling', o heilig Bruderband, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 22, 36.]

In diesem Lied kündet sich bereits ein Gedanke an, der in den späten sechziger und vermehrt in den siebziger Jahren von vielen Sozialdemokraten vertreten werden wird, dass nämlich der Völkerhass von den Fürsten geschürt wird, um ihre eigenen Völker zu unterdrücken, sie zu „Sclave[n]" und „Knecht[en]" zu machen. Interessant ist auch, dass in einem Lied, das in das Liederbuch eines Bildungs-Vereins für Arbeiter aufgenommen wurde, die Sprache als nationales Identitätsmerkmal abgelehnt wird. Möglicherweise ist dieses Lied - wie auch das vorhergehende - stärker von der Realität der europaweiten Gesellenwanderung geprägt, die in vielen Liedern des Liederbuches für Handwerker-Vereine von 1848 voll Fernweh erwartet und als Erfahrung von Freiheit besungen wird [Fn-485: Vgl. z.B. G. Vogel, Wird's zu eng im Haus, Nr. 28, 39/40; Justinus Kerner, Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein, Nr. 33, 45/6; Ludwig Tieck, Wohlauf! es ruft der Sonnenschein, Nr. 42, 56/7 und Zu Fuß bin ich gar wohl bestellt, Nr. 43, 58. Alle Lieder finden sich im Liederbuch für Handwerker-Vereine von 1848.] , als von der von bürgerlichen Intellektuellen formulierten Idee der „Sprach- und Kulturnation".

Die Mehrzahl der Lieder von 1848 ist dem Kampf um die deutsche Republik gewidmet. Deutschland wird im allgemeinen jedoch nicht territorial, sondern durch die Verknüpfung des Gedankens der Kultur- und Sprachnation mit der Idee der Freiheit definiert. Das „freie Wort" wird damit zum Zeichen der Deutschen, die sich nicht mehr wie 1813 gegen Frankreich abzugrenzen bemüht sind, sondern sich als „deutsches Volk" in Opposition zu den Fürsten begreifen. Die Fürsten „erben" darum Eigenschaften wie Dekadenz und „Weichlichkeit", die ursprünglich den französischen Gegner kennzeichneten. Darüber hinaus wird der „Tyrann" als grausam und manchmal auch pervers dargestellt. Das „deutsche Volk" wird ähnlich wie schon während der Befrei-

[Seite der Druckausg.: 143]

ungskriege als stark und kühn, offen und ritterlich gezeichnet. Auch 1848 steht das Opfer des eigenen Lebens manches Mal im Mittelpunkt; es fehlt jedoch die religiöse Verklärung des Kampfes, der bisweilen geradezu als „spielerisches Vergnügen" erscheint. Die Eiche als Symbol für Stärke und Treue ist ebenso präsent wie der Bezug auf die „germanische Vergangenheit" als identitätsstiftende Tradition. Daneben erscheint der Adler als Zeichen für Kraft und tatkräftige Zukunftszugewandtheit. Selten finden sich auch Ironisierungen der deutschen Stereotype; etwas häufiger steht dagegen „Michel" als Prototyp des deutschen Philisters bzw. als verschlafener Träumer auf der Bühne des Liedgeschehens.

In vielen Liedern tritt neben den nationalen Gedanken die Forderung nach Solidarität mit den anderen, um ihre Freiheit ringenden Völkern. Soll das Schicksal Polens durch den deutschen Freiheitskampf gerächt werden, so figuriert Frankreich häufig als Vorbild für die anderen Nationen einschließlich Deutschlands. Vereinzelt taucht auch eine Infragestellung des Nationalen an sich auf. Das Denken in den Kategorien des Nationalen wird so gelegentlich als Beschränkung dargestellt, die nur von „Sclaven" akzeptiert werden könne. Diese Lieder besingen die Welt als einzig mögliches Vaterland der Freien.

2.2.2 „Vaterlandslose Gesellen"? - Die Sozialdemokraten und die Nation

Die Etikettierung der Sozialdemokraten als „vaterlandslose Gesellen" diente lange Zeit dazu, ihre politischen Forderungen mit dem Argument ihrer „nationalen Unzuverlässigkeit" zu unterdrücken. Die Entstehung dieser Schmähung ist eng verknüpft mit der Gründung des deutschen Reiches im Jahre 1871. Das erste Mal fiel das unselige Wort von den „vaterlandslosen Gesellen", als die Sozialdemokraten sich nach dem Sieg der deutschen Truppen über die französische Armee des Marschalls Mac-Mahon und der Gefangennahme Napoleons III. öffentlich gegen eine Fortführung des Krieges aussprachen. Sofort wurde es von verschiedenen Seiten aufgegriffen und gehörte in der Folgezeit zum festen Vokabular der politischen „Auseinandersetzung". [Fn-486: Werner Conze / Dieter Groh , 1966, 116.] Das tatsächliche Verhältnis der Sozialdemokraten der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zum „Vaterland" und zur „Nation" ist jedoch keineswegs mit dem Begriff der „Vaterlandslosigkeit" umschrieben. Darum soll im folgenden versucht werden, dieses Verhältnis unter Zuhilfenahme der politischen Lieder und Gedichte der Sozialdemokraten zu analysieren, die

[Seite der Druckausg.: 144]

nach Wolfgang Hardtwig so deutlich „wie keine andere Quelle […] [verraten], wie überaus komplex die Beziehung […] der sozialistischen Arbeiterbewegung zu Nation, nationalpolitischer Überlieferung und Nationalstaat gewesen ist." [Fn-487: Wolfgang Hardtwig , Nationsbildung und politische Mentalität. Denkmal und Fest im Kaiserreich, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, 264-301, hier: 298.]

In den Gedichten und Liedern der Sozialdemokraten findet sich sowohl in den sechziger als auch in den siebziger Jahren mehr oder weniger ausgeprägt ein Denken in den Kategorien des Nationalen. [Fn-488: Diese Feststellung entspricht ganz der Haltung des in vieler Hinsicht für die Sozialdemokraten der sechziger Jahre so prägenden Lassalle zur „nationalen Frage", der bereits 1859 in einer Schrift mit dem Titel „Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens" „dem ‚Prinzip der freien, unabhängigen Nationalität‘ den absoluten, geschichtsphilosophisch begründeten Primat" einräumte, vgl. Werner Conze / Dieter Groh , 1966, 52.]
Man wendet sich im allgemeinen nicht an die internationale Arbeiterschaft, sondern es ist immer wieder die Rede von den „deutsche[n] Arbeits-Brüder[n]", vom „Volk der Arbeit deutscher Gau'n" oder vom „deutschen Proletariat". [Fn-489: Gesellschaftslied, in: SD 9.6.1865, Nr. 69, Beilage; Heinr. Schnabel, Prolog zum Stiftungsfest in Wüste-Waltersdorf, in: SD 30.6.1865, Nr. 78; Dr. G., An Deutschlands Arbeiter, in: NSD 3.8.1873, Nr. 88.]
Im Vergleich mit den Liedern und Gedichten von 1848 fällt jedoch sofort auf, dass nicht mehr das deutsche Volk an sich Adressat der Verse ist, sondern ganz eindeutig die Deutschen, die zum „Volk der Arbeit" zählen. Wie bereits gezeigt werden konnte, verstanden die Sozialdemokraten den „vierten Stand" immer mehr als das eigentliche Volk. Die Verbindung von „deutsch" und „Arbeitsvolk" bringt damit den Anspruch zum Ausdruck, als „deutsches Proletariat" einzig legitimer Träger des nationalen Gedankens zu sein. Dieser Anspruch blieb während der Einigungskriege und in den ersten Jahren nach der Reichsgründung unverändert. Was sich jedoch wandelte, war die Vorstellung, mit welchen Mitteln und mit welchen „Bundesgenossen" die auch von der Mehrzahl der Sozialdemokraten gewünschte nationale Einigung erreicht werden solle.

1865, im Jahr nach dem preußisch-österreichischen Sieg über Dänemark, als die Wogen der nationalen Begeisterung immer höher schlugen, wurde auf dem Stiftungsfest des ADAV in Berlin ein Prolog vorgetragen und mit „großem Beifall" aufgenommen, in dem die Verse standen: „Und unser armes deutsches Vaterland, / Zerrissen längst in, ach, so viele Fetzen, […]." [Fn-490: H. Roller, Prolog zum Stiftungsfest des ADAV in Berlin, in: SD 24.5.1865, Nr. 64.] Diese Klage über die Zerrissenheit Deutschlands hätte ebensogut einem Festprolog

[Seite der Druckausg.: 145]

des Deutschen Sängerbundes entnommen worden sein können. Anders aber als in diesen Kreisen forderte der vortragende Bevollmächtigte keine politische oder militärische Einigung Deutschlands, sondern fuhr fort: „Das wollt' er [Lassalle] durch ein sociales Band / Zur geist'gen Harmonie zusammensetzen." [Fn-491: Ebd.] Ganz ähnlich äußerte sich der Bevollmächtigte des ADAV von Wüste-Waltersdorf gut einen Monat später, indem er dichtete: „Ihn [Lassalle] trieb's, ein mächtig Band zu schlingen, / Um's Volk der Arbeit deutscher Gau'n, / Die Wohltat allen uns zu bringen, / Uns alle glücklich, froh zu schau'n." [Fn-492: Heinr. Schnabel, Prolog zum Stiftungsfest in Wüste-Waltersdorf, in: SD 30.6.1865, Nr. 78.] Diese Verse zeigen, dass man sich eine „innere Einigung" der deutschen Arbeiter durch die gemeinsame Überzeugung „im Geiste Lassalles" wünschte, da man sich von einem nationsweiten Kampf größere Erfolge versprach. In der Argumentation stützte man sich dabei auch auf Stereotype, die von der bürgerlichen Nationalbewegung benutzt wurden. So heißt es in einem „Gesellschafts-Lied", welches das Elend des „vierten Standes" beschreibt: „Sind dies [die Unterdrückung] des Menschen Freiheits-Rechte, / Die Freiheit der Germanier: / Daß selbst der ‚Freie‘ wird zum Knechte / Des Kapitals […]." [Fn-493: Gesellschaftslied, in: SD 9.6.1865, Nr. 69, Beilage.] Das in den sechziger Jahren weitverbreitete Stereotyp der „freiheitsliebenden Germanier" wurde also nicht abgelehnt oder ironisiert, sondern im Sinne der eigenen Ziele umgedeutet. Indem man den engen Freiheitsbegriff, Freiheit als Freiheit nach außen, stärker noch als 1848 auch als nach innen gerichtete politische und soziale Freiheit interpretierte, wollte man sich den nationalen Elan zu nutze machen und sich als die „wahren" Freiheitskämpfer darstellen. Sehr deutlich wird dieser Versuch einer „Okkupation" nationaler Symbole in einem Gedicht aus Böhmen, das mit seiner ersten Zeile auf die „Wacht am Rhein" anspielt. Es heißt dort:

    „Was brauset gleich dem Donnerklang
    Mit Sturmesmacht durch Wald und Auen?
    ‚Wacht auf, Ihr Männer! zu der Fahn!‘
    So hallt es durch die deutschen Gauen.
    Auf! Deutschland's würd'ge Söhne,
    Erglühet für das Schöne!
    Zum großen deutschen Arbeitsbund
    Reicht willig Hand und Herz und Mund!

    Und von den Alpen bis zum Belt
    Schaart eilig sich ein Heer von Brüdern,

    [Seite der Druckausg.: 146]

    Und fordert kühn das Recht der Welt;
    Wahrheit ertönt aus seinen Liedern.
    Vom Niemen bis zum Rheine,
    Durch deutsche Eichenhaine
    Erschallt ihr Ruf mit Zaubermacht
    Und bringet Licht in finst're Nacht.

    Was kann den deutschen Arbeitsmann
    Aus seinem Sklavenjoch erretten?
    Was ist's, was ihn erwecken kann
    Aus tiefem Schlaf in schweren Ketten?
    Lassalle's Geist nur kann befrei'n,
    Kann ihn zum Menschen weihn.
    […]

    Frei, wie des Adlers mächtiges Gefieder,
    Erhebet sich der deutsche Arbeitsmann!
    Muthig verlangt er seine Rechte wieder,
    Die Gott ihm gab und Niemand rauben kann.
    Hell strahlt sein Auge, treu und bieder,
    Und nicht zurück weicht je er wieder,
    Er kämpft für das, wozu er sich bekennt,
    Wenn auch die Bourgeoisie vor Zorn entbrennt."
    [Fn-494: Andreas Fischer, Was brauset gleich dem Donnerklang, in: SD 8.7.1865, Nr. 85.]

Das ganze Arsenal deutscher Nationalstereotype wird in diesem Lied aufgegriffen: von den wahren deutschen Liedern über die deutschen Eichenhaine, den deutschen Arbeitsmann in der Pose des schlafenden, in Ketten gehaltenen Michel, den deutschen Adler bis zur deutschen Treue und Biederkeit. Diese positiv besetzten Symbole und Eigenschaften werden eindeutig „dem deutschen Arbeitsmann" zugeordnet, so dass er als der Deutsche par excellence erscheint. Auf diese Weise wurden die nationalen Forderungen untrennbar mit den sozialen Anliegen der Sozialdemokraten verknüpft. Territorial wird Deutschland in diesem Lied durch die Grenzziehungen „von den Alpen bis zum Belt" und vom „Niemen bis zum Rheine" bestimmt. Damit wurde das Ziel eines großdeutschen Nationalstaates formuliert, wie es in den sechziger Jahren mehrheitlich von den Sozialdemokraten, aber auch vor 1866 von der bürgerlichen deutschen Sänger-, Turner- und Schützenbewegung vertreten wurde. [Fn-495: Werner Conze / Dieter Groh , 1966, 48 bzw. Andreas Biefang , 1995, 37.] Wilhelm Hasenclever stellte in seinem Gedicht „Freiheitskämpfer"

[Seite der Druckausg.: 147]

noch einmal unmissverständlich dar, dass die nationale Einheit nur zusammen mit der Freiheit zu erringen sei:

    „Frei sei mein deutsches Vaterland
    Vom Weichselstrome bis zum Rheine,
    Von Meeresstrand zu Meeresstrand. […]
    Frei von der Fürsten Machtgebot,
    Von allen Ketten, allen Banden.
    Die Freiheit wird uns doch zum Lohn,
    Trotz Kerker und trotz Eisenkette!"
    [Fn-496: Wilhelm Hasenclever, Freiheitskämpfer, in: SD 6.1.1866, Nr. 4. Auch Vernon L. Lidtke stellt heraus, dass in den sechziger Jahren „the dominant opinion [der Sozialdemokraten] favored a Germany unified on the basis of democratic principles.", vgl. ders., 1985, 112.]

Diese enge Verbindung von Freiheits- und Einheitsforderungen verweist auf eine Kontinuitätslinie zwischen den Demokraten von 1848 und den Sozialdemokraten der sechziger Jahre, die ja auch in personeller Hinsicht bestand. [Fn-497: Vgl. Werner Conze / Dieter Groh , 1966, 41.] Im Unterschied zu 1848 war die Freiheit jedoch noch stärker auch sozial bestimmt, und die fürstenfeindliche Spitze nahm sich im Vergleich recht stumpf aus. Dies ist vermutlich dadurch zu erklären, dass es in den Reihen der Sozialdemokratie im Vorfeld des deutsch-österreichischen Krieges durchaus umstritten war, ob man das Hegemoniestreben Preußens unterstützen müsse, um im Gegenzug politische Zugeständnisse zu fordern, oder ob die nationale Einigung nur im Rahmen einer demokratischen Revolution zu erringen sei. [Fn-498: Vgl. Werner Conze / Dieter Groh , 1966, 60-65.] Diese Auseinandersetzung findet ihren Widerhall in zwei Gedichten, die knapp zwei Monate vor Beginn der Kriegshandlungen im „Social-Demokrat" abgedruckt wurden. Hermann Semmig sieht die Zeit eines „Deutsche[n] Ostern" gekommen und ruft voller Begeisterung:

    „Wacht auf, der Himmel steht in Brand,
    Im Morgenwinde wehen
    Die Fahnen, und das Vaterland
    Soll endlich auferstehen.
    […]
    Kein Preußen und kein Oesterreich,
    Kein Bayern und kein Sachsen!
    Ein einig Volk, ein einig Reich
    Woll'n wir zusammen wachsen:

    [Seite der Druckausg.: 148]

    […]
    Die Zeit der Zwietracht sei vorbei,
    Greift einig All' zum Schwerte!
    Sobald wir einig, sind wir frei,
    […]
    So schweb' empor, du deutscher Aar,
    Flieg' uns voran zum Streite;
    Ihm nach, ihm nach, Du heil'ge Schaar,
    Die Schwerter aus der Scheide!
    Vorwärts, und uns're Losung sei:
    Ein einig Deutschland, groß und frei
    Und fest wie seine Berge!"
    [Fn-499: Hermann Semmig, Deutsche Ostern, in: SD 15.4.1866, Nr. 82.]

Nur zwei Ausgaben später richtete ein anonymer Dichter aus Hamburg folgende Verse „An Hermann Semmig in Orleans":

    „Wo giebt es Vaterland für uns Heloten?
    Was würde uns für solchen Kampf geboten,
    Die wir die Haut zu Markte tragen müßten?

    Kein Fleckchen Erde eigen unsern Todten!
    Will's uns nach eig'nem Vaterland gelüsten,
    Nennt man uns hirnverbrannte Communisten!"
    [Fn-500: -f., An Hermann Semmig in Orleans, in: SD 20.4.1866, Nr. 84.]

Auf der einen Seite also die Hoffnung, dass durch einen Krieg mit Österreich die deutsche Einheit und damit dann auch die Freiheit erkämpft werden könne, auf der anderen Seite die Überzeugung, dass die Freiheitsversprechungen nicht eingelöst werden würden, dass darum ein „Vaterland" nur durch eine Änderung der sozialen und politischen Verhältnisse errungen werden könne. Den Gedichten nach zu urteilen, scheinen die Hoffnungen größer als das Misstrauen gewesen zu sein. [Fn-501: Cora Stephan stellt ebenfalls fest, dass die norddeutschen Sozialdemokraten „nach anfänglichem Zögern" die Meinung vertreten hätten, man könne für die Kriegsbereitschaft der Arbeiter das allgemeine Wahlrecht „einhandeln", vgl. dies., 1977, 100/101.]
Im Mai 1866 erschien ein Gedicht Hoffmann von Fallerslebens, das betonte: „Recht und Freiheit immerfort / Unser erst und letztes Wort! // Dann ist nichts zu lieb, zu theuer, / Gilt's der Freiheit, gilt's dem Recht, / Mit der Liebe heil'gem Feuer / Zieh'n wir willig in's Ge

[Seite der Druckausg.: 149]

fecht." [Fn-502: H. v. Fallersleben, Recht und Freiheit - Deutschlands Hort!, in: SD 6.5.1866, Nr. 91.] Während des Krieges von 1866 wird der Anspruch des Volkes auf „Freiheit" und „Recht" noch einmal drohend gegenüber „jenen, die da Scepter halten", mit den Worten vertreten:

    „Weh', wer in Deutschland, tief zerspalten,
    Aus Selbstsucht heut' zu kämpfen wagt!
    Im Volke murrt's mit dumpfen Grolle: -
    Nur der ist Sieger im Gefecht,
    Der Freiheit giebt, die ganze, volle,
    Dem Volk die Freiheit und sein Recht!"
    [Fn-503: Emil Rittershaus, Dem Volk die Freiheit und sein Recht, in: SD 29.6.1866, Nr. 114.]

Nach Beendigung des Krieges verweist Robert Prutz in einem langen Gedicht auf die Leiden und Opfer, die das Volk gebracht hat, und stellt fest:

    „Der Jagdhund läßt sich hetzen nach Gefallen, […]
    Wenn aber Männer heut zum Schwerte greifen,
    So woll'n sie wissen auch, um wessentwillen, […]
    Wir haben, da der Krieg einmal beschlossen,
    Nicht gern und doch wie Männer uns geschlagen. […]
    Ihr selber wißt ja, wer den Kampf entschieden,
    's ist eine Schuld, ihr werdet sie bezahlen. […]
    Laßt über Deutschland Eine Sonne scheinen […]
    Der Freiheit Sonne ist es, die wir meinen -
    Denn nur die Freiheit darf die Einheit gründen!"
    [Fn-504: Robert Prutz, Juli 1866, in: SD 5.8.1866, Nr. 130.]

Mit dem Begriff des „Mannes" im Gegensatz zum Jagdhund wird in diesem Gedicht - ähnlich wie in manchen Kreisen bereits 1813 - die politische Mündigkeit des kämpfenden Mannes herausgestellt [Fn-505: Vgl. Ute Frevert , 1996 b, 77/8.] , der sich nicht mehr wie ein Jagdhund für das Vergnügen seines Fürsten instrumentalisieren lässt. Damit wurde auch die Unterscheidung zwischen einem rein dynastischen Krieg und einem (Verteidigungs-)Krieg im Interesse des Volkes getroffen, die bereits 1848 vereinzelt zu finden war und besonders während des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 eine Rolle spielen sollte. Interessanter-

[Seite der Druckausg.: 150]

weise findet sich in den Gedichten von 1866 nicht der Gedanke, der Krieg gegen Österreich sei ein „brudermörderischer" Krieg, wie er beispielsweise von Johann Philipp Becker für die IAA formuliert worden war. [Fn-506: Werner Conze / Dieter Groh , 1966, 62.] Auch wenn, wie im eben zitierten Gedicht, betont wurde, dass man den Krieg nicht gewollt habe, so standen doch die eigenen Leiden und Opfer im Vordergrund, die zur Legitimation der eigenen politischen Forderungen herangezogen werden konnten.

Bereits im November 1866 wurde in einem Gedicht zum „Todtenfeste" der Enttäuschung über die unerfüllte Hoffnung auf Freiheit mit den Worten Ausdruck gegeben: „Das Vaterland bedarf der Streiter viel, / Noch immer lebt es nur in unser'n Träumen, / Und mit der Freiheit treibt ein freches Spiel, / Der Knechte Schaar, so lang' die Freien säumen!" [Fn-507: Albert Traeger, Am Todtenfeste, in: SD 28.11.1866, Nr. 179.] Das „Vaterland" blieb also weiterhin das erträumte Ziel. Die Zuversicht, die Freiheit vom preußischen König als Gegenleistung für den Einsatz im Krieg zu bekommen, war jedoch dahin. Dies veranschaulicht eine weitere Strophe des zitierten Gedichtes, in der es heißt:

    Gedenkt der Todten! Nicht das Schlachtfeld nur
    Hat die verklärten Opfer sich gefodert,
    Im Kerker, auf dem Richtplatz ohne Spur
    Viel edle Herzen ruhmlos sind vermodert;
    Für Vaterland und Freiheit litten sie, […]."
    [Fn-508: Ebd.]

Mit diesen Versen wurde der Kampf für „Vaterland und Freiheit" als ein Kampf gegen die Staatsmacht dargestellt; vermutlich sollte damit auf die Revolution von 1848 und die anschließende Zeit der Unterdrückung freiheitlicher Bestrebungen hingewiesen werden. Die Opfer werden nun nicht mehr den Herrschenden gegenüber als Verpflichtung bezeichnet, sondern - so formuliert der Dichter - das Volk selber ist es diesen Toten gegenüber schuldig, den „Traum des Vaterland's" wahrzumachen. [Fn-509: Ebd.] Dass dieser „Traum vom Vaterland" nicht durch den Kampf mit anderen Völkern verwirklicht werden sollte, zeigt sich dadurch, dass in der Folgezeit die Idee eines Völkerbundes in einigen Gedichten und Liedern auftaucht. [Fn-510: Vgl. z.B. Carl Klein, An das deutsche Volk, in: SD 4.1.1867, Nr. 2.]

Sehr deutlich wurden zunächst auch Gedanken an einen Krieg mit Frankreich zurückgewiesen, als es durch die unerfüllt gebliebenen Kompensationswün-

[Seite der Druckausg.: 151]

sche Napoleons III. nach dem preußisch-österreichischen Krieg zu Spannungen kam. Zum ersten Mal war davon die Rede, dass Krieg bedeute, „den Mordstahl gegen Brüder" zu tragen, und es wurde gefragt:

    „Und ist's denn nöthig dieses Blutvergießen?
    Ist's heilsam für der Menschen Wohlergeh'n?
    Ist's gleich, ob wir als Deutsche hungern müssen,
    Ob als Franzosen wir zu Grunde geh'n!"
    [Fn-511: G. Oehlmann, Willkommensgruß zur Generalversammlung, in: SD 5.6.1867, Nr. 66.]

Zumindest in der Form einer Frage werden hier bereits Zweifel laut, ob die nationenübergreifende Solidarität der „Hungernden" nicht stärker sein sollte als die nationale Identität in einem als „unnöthig" erkannten Krieg.

Als am 19. Juli 1870 Napoleon III. als Reaktion auf die von Bismarck verfasste „Emser Depesche" den Krieg erklärte, wurden weder im Social-Demokrat noch im Volksstaat Gedichte oder Lieder abgedruckt, die diesen Krieg positiv darstellen. Dies mag überraschen, da in der Forschungsliteratur Einhelligkeit darüber besteht, dass dieser Krieg bis zur Schlacht bei Sedan am 2. September 1870 in weiten Teilen der Sozialdemokratie als gerechter Verteidigungskrieg gegen Napoleon III. gesehen wurde, der „die Einheit und Selbstbestimmung des deutschen Volkes" habe angreifen wollen. Außerdem sei der Krieg als Möglichkeit begriffen worden, „die nationalstaatliche Vereinigung Nord- und Süddeutschlands" herbeizuführen. [Fn-512: Vgl. Werner Conze / Dieter Groh , 1966, 86/7.] Tatsächlich schwiegen die Poeten beider Zeitungen bis zum 31. August 1870. Über die Gründe kann man nur spekulieren. War man vielleicht doch nicht so überzeugt davon, dass dieser Krieg ein gerechtfertigter Verteidigungskrieg war? Oder war von vorneherein das Misstrauen, ein weiteres Mal in seinen Hoffnungen getäuscht zu werden, stärker, als bisher angenommen? Verhinderten die Auseinandersetzungen um die ablehnende Haltung Bebels und Liebknechts eine poetische Stellungnahme?

Fest steht, dass das erste „Lied vom Kriege" nach den Anfangserfolgen der deutschen Armee, aber noch wenige Tage vor der entscheidenden Schlacht bei Sedan am 31. August 1870 im Volksstaat erschien. Der Autor, der sein Lied mit der Zeile „Den Kriegsmoloch, ach! hungert sehr" beginnen lässt, hatte sich offensichtlich schon längst von der Vorstellung verabschiedet, dieser Krieg sei ein Verteidigungskrieg - wenn er sie je geteilt haben sollte. Er stellt dar, dass der Krieg vom „Knecht" begrüßt werde, weil er diesen von

[Seite der Druckausg.: 152]

seiner Sorge um das Brot ablenke, vom „Philister", weil dieser dem Größenwahnsinn verfallen sei, und schließlich vom „Vorrecht", weil dieses sich finanziellen Gewinn verspreche - „ob seinem Sohn [auch] die Kugel dräut". Über seine eigenen Gefühle schreibt der Dichter: „In Trauer aber pocht mein Herz, / Warum? / Am Baum der Menschheit niederwärts / Hängt Zweig auf Zweig, voll Gram und Schmerz, […]." [Fn-513: G..., Das Lied vom Kriege, in: VS 31.8.1870, Nr. 70.] Damit wurden aus der Sicht der Sozialdemokraten die „Kriegsprofiteure" benannt: die Armen, die sich noch knechten lassen, weil sie das befreiende Potential der sozialdemokratischen Idee noch nicht erkannt haben, und die im Krieg Ablenkung suchen; die Philister, d.h. heuchlerischen Bürger, die sich an ihrer angeblichen nationalen Überlegenheit berauschen, und die berechnenden Adligen, die für ihren finanziellen Vorteil auch gerne ihren eigenen Sohn opfern. Diesen Gruppen der Gesellschaft, die als selbstsüchtig und verblendet charakterisiert werden, stellt sich der Dichter gegenüber, der als einziger nicht an sich, sondern an die „Menschheit" denkt und erkennt, dass dieser Krieg nur Elend und Schmerz bringen werde. Auf diese Erkenntnis folgt die Aufforderung an seine Zuhörer: „Die rothe Mütze, setzt sie auf, / Warum? / Schaut her, wie trieft des Schwertes Knauf, / Das Blut ist billig jetzt in Kauf, / Trum, trum!" [Fn-514: Ebd.] Die einzige Möglichkeit, diesen Krieg noch zum Guten zu wenden, bestand nach Meinung des anonym gebliebenen Dichters demnach darin, die kriegerische Situation zur sozialistischen Revolution zu nutzen, wie es mit dem Symbol der „roten Mütze" zum Ausdruck kommt, das sich sowohl auf die Ereignisse von 1848 als auch von 1789 bezieht. Ein anderes, noch vor der Schlacht bei Sedan verfasstes Gedicht, das aber erst im Oktober 1870 veröffentlicht wurde, zielt in die gleiche Richtung. Dort heißt es:

    „Zwei Heere ruhn nach blut'gem Kampf,
    doch nochmals die Entscheidung droht.
    Hoch wehn die Fahnen in der Luft,
    hie schwarzrothgold, dort blauweißroth.

    O taucht die Fahnen in das Blut,
    das hier bei eurer Freunde Tod
    Für eurer Fürsten Purpur floß,
    so wird die einz'ge Farbe: Roth.

    [Seite der Druckausg.: 153]

    Ein ander Roth bekämpfet dann,
    - - - - - - - -
    Und überall pflanzt siegreich auf,
    das rechte und allein'ge Roth."
    [Fn-515: E.K., Roth. Vor der Schlacht von Sedan gedichtet., in: VS 1.10.1870, Nr. 79.]

Das Wort „schwarzrothgold" ist mit einem kleinen Sternchen versehen, das auf die Erklärung verweist: „Das ist eine kleine licentia poetica (dichterische Freiheit). Wir haben's in Wirklichkeit noch nicht einmal zum Schwarzrothgold gebracht." [Fn-516: Ebd.] Besonders diese Erklärung deutet an, dass der Kampf unter der „roten Fahne" nicht als Aufgabe der eigenen nationalen Identität gedacht war. Das Ziel, die nationale Einheit unter der schwarzrotgoldenen Fahne zu erringen, bestand weiterhin; so werden die nationalen Fahnen ja auch nicht beiseite geworfen, sondern nur umgefärbt. Unter der roten Farbe bleiben die ursprünglichen nationalen Farben erhalten. Die internationale Solidarität der Völker im Zeichen der sozialistischen Farbe Rot sollte lediglich den „Volkskrieg" beenden, der einzig im Interesse der Herrscher geführt worden sei. In diesen beiden Gedichten, die gut ein halbes Jahr vor der Pariser Kommune verfasst wurden, deutet sich damit bereits das Muster der „doppelten Loyalität" der Arbeiterbewegung an, deren Entstehung Werner Conze und Dieter Groh wesentlich durch die Pariser Kommune bestimmt sehen, die von März bis Mai 1871 spontane Solidaritätskundgebungen der deutschen Arbeiterbewegung ausgelöst hat. [Fn-517: Werner Conze / Dieter Groh , 1966, 105.] Das Modell der „doppelten Loyalität" beschreibt nach Conze und Groh das Verhalten der Arbeiterbewegung, die, wenn sie als Klasse angegriffen worden sei, klassensolidarisch reagiert habe, im Falle einer nationalen Notsituation jedoch national. Tatsächlich ist diese „doppelte Loyalität" der deutschen Arbeiterbewegung nicht erst im Zusammenhang mit der blutigen Niederschlagung der Pariser Kommune entstanden, wie die eben zitierten Gedichte beweisen. Die Wurzeln dieses Verhaltensmusters reichen viel weiter zurück. Die Erklärung eines Krieges als „dynastischer Krieg", der den Interessen der beiden beteiligten Völker zuwiderläuft, zeigt in Ansätzen eine doppelte Identität und darum auch Loyalität als Volk im Sinne von Nation und als Volk in Opposition zum Herrscher und seiner Stütze, dem Adel. Diese Form der Wahrnehmung des Krieges konnte im vorangehenden Kapitel in einigen Liedern von 1848 nachgewiesen werden. Im Unterschied zu 1870/71 konnten die beiden Identitäten 1848 noch mehr oder weniger zur Deckung gebracht werden, weil der Herrscher selber nicht mit dem Begriff der Nation operierte. Das, was durch den deutsch—

[Seite der Druckausg.: 154]

französischen Krieg neu hinzukommt, ist die Spannung, die von dieser Zeit an zwischen den beiden Loyalitäten bestand, weil die Kriegführenden bzw. später die „reichstragenden Schichten" nun selber Anspruch auf die „Nation" erhoben.

Um diese Spannung zu durchbrechen, versuchen viele Gedichte, die während des deutsch-französischen Krieges entstanden sind, die „Volksfeindlichkeit" der Herrscher zu entlarven und den Mythos der Gleichheit im Kriege zu zerstören. Eine sehr deutliche Sprache sprechen zum Beispiel die Gedichte, die die „Freundschaft" zwischen Napoleon III. und Wilhelm bzw. Bismarck darstellen. So schildert ein Gedicht die erste Begegnung zwischen Bismarck und Napoleon nach dessen Gefangennahme in der Schlacht bei Sedan am 2. September 1870. Dem erstaunten Napoleon erklärt Bismarck:

    „Das französische Volk bekämpfen wir;
    Da kochen so Freiheitsideen,
    Die könnten im Lauf der Jahrhunderte
    Bis Deutschland herüber wehen.

    […]
    Sie [so Bismarck an Napoleon] können, wenn unsere Waffen gesiegt,
    Nur um so sicherer thronen.

    Napoleon fiel ihm in den Arm:
    Erlaube, daß ich Dich dutze!
    Du bist mein Bruder, Du bist mein Freund,
    Verbündet zu Schutz und Trutze.

    […]
    Und nun bekämpfen wir Arm in Arm
    Das Volk, das verdammte Luder." [Fn-518: Der „Floh", Freundschaft, in: VS 5.11.1870, ähnlich: Undemokratisches Soldatenlied, in: VS 14.1.1871, Nr. 5; E., Die Wacht am Rhein, in: VS 5.11.1870, Nr. 89; Befreiungs-Lied, in: VS 22.7.1871, Nr. 59.]

Anschaulich wird in diesem und anderen Gedichten das machtpolitische Kalkül Bismarcks „entlarvt", der für die tatsächlichen Interessen des Volkes nur Verachtung übrig hat und dem der Krieg dazu dient, die Freiheitsbestrebungen des fremden und des eigenen Volkes zu unterdrücken. Unterstrichen wird die Falschheit der Herrscher gegenüber ihren Völkern auch durch das Bild

[Seite der Druckausg.: 155]

der luxuriösen Haft Napoleons III. auf Wilhelmshöhe, die im scharfen Gegensatz zu der Situation des Volkes gezeichnet wird, dessen Elend und Not durch den Krieg nur verschärft worden sei. [Fn-519: Friedr. Stoltze, Wilhelmshöhe, in: VS 8.10.1870, Nr. 81, Theobald Kerner, Unsere große Zeit, in: VS 4.1.1871, Nr. 2.]

So hatte der Krieg entgegen den Versprechungen Arm und Reich nicht gleich gemacht. Noch immer werde - so ein Gedicht - der Tod der Offiziere sofort bekannt gegeben, während die Mütter der „einfachen" Soldaten lange auf eine Nachricht warten müssten. [Fn-520: Man weiß es immer allsogleich, in: SD 14.9.1870, Nr. 107.] Die Soldaten - so dichtet H. Zilger - müssen auch nach Sedan für die Eroberung Elsaß-Lothringens weiterkämpfen und „[a]uf eisigem Schnee […] in brennenden Schmerzen" sterben, der Feldherr dagegen kehrt unversehrt heim - „[g]eschmückt mit des Helden ruhmglänzendem Sterne." [Fn-521: H. Zilger, Vor Belfort 1871, in: VS 22.2.1871, Nr. 16.] Den Armen hat der Krieg nur Tote, Krüppel und ein Bettlerdasein beschert. „[R]iesengroß", so heißt es, „schreitet von Land zu Land / Das Leid im Bettler- und Trauergewand, / Und Hunger grinset und Typhus." [Fn-522: Theobald Kerner, Unsere große Zeit, in: VS 4.1.1871, Nr. 2; Moritz Hartmann, Ein Kaiserlied, in: VS 28.12.1870, Nr. 104.] Das Bild des verkrüppelten Soldaten diente damit zum einen der Anklage des Staates, der sich nicht ausreichend um die Kriegsinvaliden und Kriegswitwen gekümmert habe, die doch um den Preis ihrer Gesundheit oder des Lebens ihres Ernährers die so hoch gepriesene Reichseinheit erkämpft hätten. Dieses Reich, in dem man dem Volk zum Dank höhnisch die „Freiheit" zugestehe, „[a]uch baarfuß noch betteln zu gehen", kann darum dem Volk kein Vaterland sein. [Fn-523: O deutsches Volk, in: VS 26.4.1871, Nr. 34.] Im Anblick des schwachen Krüppels wird zum anderen das Bild des starken und stolzen, kriegsbegeisterten Soldaten sichtbar und auf diese Weise lächerlich gemacht: „Dafür als Krüppel trag' ich Band und Orden, / Und hungernd ruf' ich dann: ‚Ich bin Soldat!‘„ [Fn-524: Soldatenlied, in: VS 30.3.1870, Nr. 26.] Besonders deutlich wird dies durch die ironische Darstellung des sicher alltäglichen Bildes vom Kriegsinvaliden, der sich durch den „Dienst an der Leyer", durch das Abspielen der „Wacht am Rhein" auf dem Leierkasten, sein tägliches Brot zu verdienen sucht: „Es ächzt wie schriller Todesklang / Die Leyer und der heis're Sang: / ‚Dort draußen über'm deutschen Rhein, / Da blieb mein Glück, da ruht mein Bein.‘„ [Fn-525: K. Wiegleb, Der Dienst an der Leyer, in: VS 4.10.1871, Nr. 80, Beilage; ebenso: O deutsches Volk!, in: VS 26.4.1871, Nr. 34.] Hinter diesem Bild steht offensichtlich eine grundsätzliche Kritik des deutschen Militarismus. In die gleiche Richtung zielt auch ein Gedicht, das sich über die aus französischen Geschützen gegos-

[Seite der Druckausg.: 156]

sene Kaiserglocke mokiert, die nicht klingen will, weil sie den Sieg über Frankreich, das Herzeleid und die Toten, nicht besingen möchte. [Fn-526: Die Kaiserglocke, in: NSD 8.9.1875, Nr. 106.]

Nach der französischen Niederlage bei Sedan und der zwei Tage später erfolgenden Ausrufung der Republik in Frankreich wandte sich die deutsche Sozialdemokratie geschlossen gegen eine Fortführung des Krieges. [Fn-527: Werner Conze / Dieter Groh , 1966, 94.] Mit diesem Datum beginnt in den sozialdemokratischen Gedichten und Liedern eine vorwiegend ironische Auseinandersetzung mit nationalen deutschen Symbolen und ihrer Instrumentalisierung durch die weitgehend bürgerliche Nationalbewegung. Zunächst richtete sich die Kritik vor allem gegen das Lied „Die Wacht am Rhein", wie es bereits im eben erwähnten Zitat deutlich wurde und wie es noch einmal exemplarisch durch folgendes Lied zur Melodie des Trinkliedes „Crambambuli, das ist der Titel" demonstriert werden kann:

    „Die Wacht am Rhein, das ist der Titel,
    Des Liedes, das im Schwange geht.
    Es ist ein ganz probates Mittel
    Für einen, der sonst nichts versteht.
    Darum bei Mond- und Sonnenschein
    Sing ich nur stets die Wacht am Rhein, [...]
    Ihr könnet nichts als kläglich schrein
    Das blöde Lied, die Wacht am Rhein,
    Die Wi-Wa-Wacht am Rhein, die Wacht am Rhein."
    [Fn-528: E., Die Wacht am Rhein, in: VS 5.11.1870, Nr. 89.]

Hinter dieser Ironisierung steht die Anklage derjenigen, die „sonst nichts versteh[en]" oder nicht verstehen wollen, d.h. die sich am Völkerhass berauscht haben oder berauschen ließen. So heißt es in einem mit „Friede!" überschriebenen Gedicht, das drei Tage nach der Proklamation Wilhelms zum deutschen Kaiser im Volksstaat erschien:

    „Wie war so schön es erst gelungen,
    Die Leidenschaften wach zu schrei'n!
    Der Kriegsgesang, ‚die Wacht am Rhein!‘
    Der Taumelkelch, gefüllt zum Rande,
    Ward ihm kredenzt ohn' Unterlaß -
    Zu seiner namenlosen Schande
    Berauschte sich das Volk in Haß."
    [Fn-529: Richard E., Friede!, in: VS 21.1.1871, Nr. 7.]

[Seite der Druckausg.: 157]

Der Krieg gegen das französische Volk und die daraus resultierende Reichsgründung werden damit als Folge eines nationalistischen Hasses dargestellt, der mit Hilfe „nationaler Symbole" wachgerufen wurde, aber dem deutschen Volk tatsächlich nur Schande gebracht hat. Mit diesem Hass ist das deutsche Volk - so sieht es der Dichter - seinem eigentlichen Charakter untreu geworden, denn:

    „Den Zug, den man am deutschen Wesen
    Als seine schönste Blüthe pries,
    Wenn man das deutsche auserlesen
    Vor allen andern Völkern hieß -
    Daß brüderlich wir gegen Alle
    Als Bürger uns der Welt gefühlt:
    Er ward vom trüben Wogenschwalle
    Der wüsten Rauflust weggespült."
    [Fn-530: Ebd.]

So sind es nicht die nationalen Stereotype an sich, von denen man sich zum Teil ironisch, zum Teil ernsthaft abzugrenzen sucht, sondern vor allem jene, die im Zuge der Reichseinigung „Konjunktur" haben. Neben der „Wacht am Rhein" ist dies vor allem der Kyffhäuser-Mythos. So heißt es in einem noch im Dezember 1870 verfassten „Kaiserlied":

    „Ist doch der germanische Jammer
    Durch Gottes Fügung in Jubel verkehrt.
    Wir holen aus staubiger Rumpelkammer
    Den Kaiser hervor mit Szepter und Schwert.
    Die kindliche Sehnsucht vom Kyffhäuser
    Wird endlich dem Volke der Träumer gestillt;
    In hundert Schlachten wird für den Kaiser
    Das Volk der Denker zur Garde gedrillt."
    [Fn-531: Moritz Hartmann, Ein Kaiserlied, in: VS 28.12.1870, Nr. 104; ähnlich: Barbarossa's Auferstehen, in: VS 4.10.1871, Nr. 80, Beilage und Fr.W.Gr..., Gruß zum Neuen Jahr, in: VS 10.1.1872, Nr. 3.]

Diese Zeilen sind vor allem eine Kritik an denen, die in der Reichseinigung die Erfüllung ihrer nationalen Träume erblicken und dabei die „flammende Blume der Freiheit" [Fn-532: Ebd.] vergessen. Gleichzeitig distanziert sich der Dichter sehr deutlich von diesem „Volk der Träumer", das nicht erwachsen werden

[Seite der Druckausg.: 158]

will. Durch die Verwendung des Stereotyps des „Volkes der Denker" in Verbindung mit dem „zur Garde Drillen" wird anschaulich dargestellt, wie sich die national und reichsdeutsch gestimmten Bürger von ihren eigenen Ansprüchen entfernt haben, indem sie der Fortführung des Krieges und dann der unter preußischer Führung erfolgten Reichseinigung zugestimmt haben. Ob sich der Verfasser des Gedichtes selber als „Deutscher" oder sogar als „besserer Patriot" [Fn-533: Vgl. Werner Conze / Dieter Groh , 1966, 102.] versteht, bleibt unklar.

Diese Auseinandersetzung mit bestimmten nationalen Stereotypen setzt sich auf anderer Ebene fort: Zum einen kann man auf der Stilebene den Einsatz von Ironie als bewusste Opposition gegen den pathetischen Stil der „nationalen" Gedichte und Lieder interpretieren. [Fn-534: Dies gilt jedoch nur für die Lieder und Gedichte, die sich mit Krieg und Militarismus auseinandersetzen. Eigene „Kampflieder", wie sie im Kapitel 2.1.2 dargestellt wurden, waren meist genauso pathetisch wie die nationalen Lieder.]
Zum anderen fassen die Dichter ihre Kritik an Krieg und Nationalismus manches Mal in Lieder auf die Melodie der „Wacht am Rhein". Dieses Lied, von Max Schneckenburger 1840 als Reaktion auf die Rheinkrise gedichtet und 1854 von Karl Wilhelm vertont, wurde erst mit dem deutsch-französischen Krieg 1870 populär und war in der Folgezeit das beliebteste Lied des kaiserlichen Deutschland. [Fn-535: Axel Körner , 1997, 288/9.] Körner verweist auf sechs verschiedene Parodien dieses Liedes, eine siebte sei nur namentlich aus den Polizeiakten bekannt. [Fn-536: Axel Körner , 1997, 288. Es handelt sich um: Hermann Greulich, Arbeiterfeldgeschrei, in: Freisinnige Gedichte, 1872; August Geib, Mailied, in: Proletarier-Liederbuch, 1872, Nr. 18, 33-35; Entweder schweigen, oder - freies Quartier, in: VSE 30.8.1874, Nr. 38; Friedrich Polling, Deutsche Arbeiter-Reveille, in: ders. (Hg.), Lieder und Gedichte, 1864, 6; Wacht am Rhein - Kehrseite, in: Freisinnige Gedichte, 1872, Nr. 12, 12 und Wiegleb, Der Dienst an der Leyer, in: Freisinnige Gedichte, 1872, Nr. 13, 12/3.]
Neben diesen bereits bekannten Parodien konnten in den untersuchten Zeitungen noch drei weitere gefunden werden. [Fn-537: Andreas Fischer, Was brauset gleich dem Donnerklang, in: SD 8.7.1865 (zwar ohne Melodieangabe, läßt sich aber auf die „Wacht am Rhein" singen); H. Eckern, Arbeiterlied, in: NSD 30.6.1872, 74; Maximilian Schlesinger, Es tönt durch alle deutsche Gau'n, in: NSD 27.8.1873, Nr. 98.]
Nach Körners Meinung handelt es sich lediglich bei drei der ihm bekannten Parodien um textliche Kontrafakturen der „Wacht am Rhein", da nur sie „bewußt den im ursprünglichen Text gesetzten Werten" widersprechen würden. [Fn-538: Axel Körner , 1997, 298. Das Zitat bezieht sich auf „Wacht am Rhein - Kehrseite", entspricht aber den Ergebnissen Körners zu Pollings „Deutscher Arbeiter-Reveille" und Wieglebs „Dienst an der Leyer", 296-301.]
In diesem Sinne ist keines der neuentdeckten Lieder eine Kontrafaktur der „Wacht am Rhein". Eine direkte inhaltliche Auseinandersetzung

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mit diesem Lied geschieht demgegenüber - wie bereits erwähnt - in anderen Gedichten. [Fn-539: Vgl. z.B. E., Die Wacht am Rhein, in: VS 5.11.1870, Nr. 89; Richard E., Friede!, in: VS 21.1.1871, Nr. 7 und Auch eine Wacht am Rhein, in: VS 31.5.1871, Nr. 44.]
In den weiteren, bisher bekannten Parodien der „Wacht am Rhein" wird der Befreiungskampf der Arbeiter an die Stelle des nationalen Kampfes gesetzt. Körner sieht in diesem „Übersetzungsprozess" keine inhaltliche Kontrafaktur, da keine thematische Auseinandersetzung mit dem Original erfolge. Dadurch erscheine - wie er besonders im Hinblick auf Geibs „Mailied" betont - die „Wacht am Rhein" „indirekt sogar in positivem Licht." [Fn-540: Axel Körner , 1997, 294/5.] Diese Erklärung Körners greift jedoch zu kurz. Wenn es 1872 im „Arbeiterlied" des nicht näher bekannten H. Eckern heißt:

    „Es braus't ein Ruf wie Donnerhall,
    Durch Deutschlands blüh'nde Marken all',
    Vom Alpenland zum Ostseemeer:
    Auf, auf, zum Kampf, Arbeiterheer!
    Lieb' Weib und Kind, mög't ruhig sein,
    Wir kämpfen für den Heerd allein."
    [Fn-541: H. Eckern, Arbeiterlied, in: NSD 30.6.1872, 74.]

so werden in der Tat textliche Versatzstücke aus dem Original übernommen, ohne dass sie ausdrücklich kritisiert würden; die Kampfmetaphern ähneln sich sogar stark. Das Original war jedoch in den siebziger Jahren weithin bekannt. Darum war es gar nicht notwendig, diesen Text explizit in Frage zu stellen. Jedes Lied zur Melodie der „Wacht am Rhein" wurde automatisch auf der Folie des ursprünglichen Textes gelesen. Der Vergleich ergibt dann für die eben zitierte Parodie, dass anstelle eines gegen Frankreich gerichteten Krieges der Kampf der Arbeiter für gleiches Recht innerhalb eines großdeutschen Wunschstaates tritt, statt für das „Vaterland" den Rhein zu bewachen, kämpfen die Arbeiter für ihre Familien. Auch die Parodie ist also insofern national, als sie von einem Kampf der deutschen Arbeiter spricht. Der Feind wird jedoch im eigenen Land lokalisiert, damit wird die Feindschaft zu Frankreich unausgesprochen abgelehnt. Die Betonung der eigenen Identität als „freies, deutsches Arbeits-Chor", wie es in der zweiten Strophe heißt, wendet sich deutlich gegen eine reichsnationale Vereinnahmung. So erscheint es, auch ohne dass ausdrücklich auf das Original Bezug genommen wird, möglich, von einer „indirekten" textlichen Kontrafaktur zu sprechen. Ähnlich läßt sich im Hinblick auf die anderen Parodien der „Wacht am Rhein" argumentieren, wobei in Greulichs „Arbeiter-Feldgeschrei" die nationale Identität sogar völ-

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lig hinter der Solidarität mit den „Armen" aller Länder zurücktritt. [Fn-542: Hermann Greulich, Arbeiter-Feldgeschrei, in: Freisinnige Gedichte, 1872, Nr. 11, 11.] Dass besonders dieses Lied, das am 1. Januar 1871 erstmals in der Zürcher „Tagwacht" abgedruckt [Fn-543: Axel Körner , 1997, 292.] und überaus schnell in sozialdemokratischen Kreisen populär wurde, sowohl von Sozialdemokraten als auch von „Reichstreuen" als Herausforderung des neuen deutschen Reiches verstanden wurde, zeigt seine Geschichte in den siebziger Jahren. Bereits am 11. Mai 1872 berichtete der Volksstaat, dass der Gesang dieses Liedes auf einer Volksversammlung verboten wurde. [Fn-544: VS 11.5.1872, Nr. 38.] Über einen Festzug der Sozialdemokraten im selben Jahr wurde mit heimlichem Stolz vermerkt:

    „[…] es wird wohl Manchem beim Anblick der rothen Fahne, diesem Symbol der Liebe und Freiheit, und dem Gesang des Arbeiterliedes ‚Arbeitend leben oder kämpfend sterben‘ [das ist der Refrain des ‚Arbeiter-Feldgeschreis‘] ein Gruseln angekommen, und wohl unwillkührlich die ‚Kommune‘ in Erinnerung gekommen sein."
    [Fn-545: Bericht über Volksfest in Crimmitschau, in: VS 6.7.1872, Nr. 54.]

Auch der preußische Staatsanwalt Tessendorf äußerte 1874 im Prozess gegen den Schriftsetzer August Heinsch, der wegen des Abdrucks des „Arbeiter-Feldgeschreis" auf einem Festprogramm angeklagt worden war, dass „dieses Lied zur Zeit der Pariser Commune aus Antipathie gegen Deutschland entstanden" sei. [Fn-546: Vgl. den Bericht über den Prozeß gegen Heinsch in: VS 18.1.1874, Nr. 7. In diesem Bericht ist vom Schriftsetzer Wilhelm Heinsch die Rede, bei Körner , 1997, 292/3 findet sich dagegen der Vorname August, ebenso bei Eduard Bernstein , 1990, 19. Es handelt sich also vermutlich im Volksstaat-Bericht um einen Irrtum.]
Tatsächlich ist das Lied bereits wenige Monate vor der Kommune verfasst worden. Von beiden Seiten wird es jedoch als Zeichen der Solidarität mit den Communards und damit eindeutig als Kontrafaktur der „Wacht am Rhein" interpretiert, die zu dem Symbol des deutsch-französischen Krieges und der daraus erwachsenen Reichseinigung geworden war.

Anders verhält es sich bei Parodien patriotischer Lieder, die aus den Befreiungskriegen oder aus der Nationalbewegung des Vormärz stammen. Manche dieser Lieder wurden besonders in den sechziger Jahren als Originalversion in der Sozialdemokratie gesungen, da sie den eigenen nationalen Zielen, wie sie bereits dargelegt wurden, völlig entsprachen bzw. in dieser Weise interpretiert werden konnten. Zu diesen Liedern gehörte zum Beispiel Arndts „Was

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ist des Deutschen Vaterland?", dessen franzosenfeindliche Spitze vermutlich wie schon 1848 überhört wurde. [Fn-547: Vgl. dazu auch Kapitel 2.1.1 der vorliegenden Arbeit.] Dementsprechend finden sich diese Lieder auch in den sozialdemokratischen Liederbüchern. [Fn-548: Vgl. z.B. die Auswahl in: Der Lassalleaner. Sammlung sozialdemokratischer Lieder und Gedichte. Zusammenge stellt und hrsg. v. Julius Röthing, Leipzig 1870 (künftig zitiert als: Der Lassalleaner, 1870). Dort findet sich Wilhelm Hauffs „Morgenroth, Morgenroth" (Nr. 2) von 1824, sein im selben Jahr gedichtetes sentimentales Soldatenlied „Steh' ich in finstrer Mitternacht" (Nr. 14), „Schleswig-Holstein meerumschlungen" von 1844 (Nr. 8) und schließlich auch „Was ist des Deutschen Vaterland?" (Nr. 15). Trotzdem erscheint die Feststellung übertrieben, dass „zahlreiche Texte aus den Liedersammlungen der patriotischen deutschen Turnervereine [stammten] und [] nur ganz geringfügig verändert [wurden].", vgl. Wolfgang Hardtwig , 1990, 298.]
Neue, zur Melodie dieser patriotischen Lieder gedichtete Gesänge knüpften darum oftmals direkt an den nationaldemokratischen Gehalt der Vorlage an. [Fn-549: Vgl. Vernon L. Lidtke , 1985, 126.] Dichtete ein Sozialdemokrat Verse über Lassalle zur Melodie des Andreas-Hofer-Liedes von 1831 [Fn-550: So z.B. Der Mann des Volkes, in: Der Lassalleaner, 1870, Nr. 37, 56/7.] , so konnte Lassalle damit problemlos in die Tradition des 1810 auf Befehl Napoleons hingerichteten Tiroler Freiheitskämpfers gestellt werden. Nicht ohne Grund ist die Melodie des Andreas-Hofer-Liedes die nach der Marseillaise am häufigsten von den frühen Sozialdemokraten benutzte Melodie. [Fn-551: Vernon L. Lidtke , 1985, 122/3.] Nach 1871 tauchen die Originalversionen dieser patriotischen Lieder nicht mehr in den sozialdemokratischen Liederbüchern auf. Vermutlich war der Gesang dieser Lieder problematisch geworden, weil sie von den Reichsnationalen vereinnahmt worden waren und dadurch in ihrer vorher diffus nationalen Aussage auf den Reichspatriotismus festgelegt wurden. [Fn-552: Ähnlich argumentieren Werner Conze und Dieter Groh , indem sie den sozialdemokratischen Einsatz von anti- oder übernationalen Symbolen nach 1871 mit dem verstärkten Abhebungs bedürfnis gegenüber die reichstragenden Schichten erklären, die sich die Nation und das Vaterland zu ihren Hauptsymbolen gewählt hätten, vgl. dies., 1966, 113.]
Parodien dieser Lieder finden sich jedoch nach wie vor; manche könnten allerdings auch als „indirekte" textliche Kontrafakturen gelesen werden. [Fn-553: So z.B. August Geib, Das Recht der Arbeit, in: Proletarier-Liederbuch, 1872, Nr. 20, 36/7, das zur Melodie des um 1840 von Carl Rinne verfassten Liedes „Und hörst du das mächtige Klingen" gesungen werden sollte.]

Mit der Niederschlagung der Pariser Kommune durch General Mac-Mahon im Mai 1871, die etwa 30 000 Menschen das Leben kostete, wurde die Kluft zwischen den Sozialdemokraten und denjenigen, die die Bismarcksche

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Reichsgründung bejubelten, weiter vertieft. Die Kommune fand ein breites Echo in den Gedichten und Liedern der Sozialdemokraten. Der Kampf der „Communards" wurde als eine Art Stellvertreterkampf begriffen, der die deutschen Arbeiter zum Kampf für die Freiheit verpflichte. So heißt es in einem Gedicht, das zwei Jahre nach der Kommune entstanden ist:

    „Doch: fiel der Sieg an jenem Tage [der Niederlage der Kommune, d.V.]
    Als für das Volk der Kampf erwacht,
    Dem Feind auch zu, drum keiner zage,
    Hoch geht der Pulsschlag eurer Macht!
    Verbrüdert steht in Süd und Norden,
    Ob Deutschland euer Heimatland,
    Ob fern ihm eure Wiege stand!
    Der Menschheit gilt's an allen Orten!".
    [Fn-554: G..., Zur Erinnerung an die Pariser Commune, in: VS 12.4.1873, Nr. 30; ebenso: Ein deutscher Soldat, An Euch, Pariser Brüder!, in: VS 14.6.1871, Nr. 48; August Geib, 1871, in: VS 17.6.1871, Nr. 49; K., Die Kommune, in: VS 26.8.1871, Nr. 69; Das füsilirte Weib, in: VS 15.11.1871, Nr. 92.]

Die nationale Identität tritt hier ganz eindeutig hinter der Solidarität mit den um Freiheit kämpfenden Völkern, mit der „Menschheit" zurück. Damit setzt sich, befördert durch die spontane Solidarität mit den Kommunekämpfern, fort, was bereits vorher mit der Ironisierung der nationalen Stereotype begonnen hat: Da man sich mit dem deutschen Reich in seiner bestehenden Form nicht identifizieren kann, dieses aber nationale Symbole für sich in Anspruch nimmt, wird es schwierig, die eigene nationale Identität zu formulieren und sich gleichzeitig abzugrenzen. Darum tritt die internationale Solidarität immer stärker hervor, wie es zum Beispiel folgende Zeilen zeigen:

    „Und so soll es wieder züngeln,
    In der heil'gen Völkerhalle:
    Gehet hin in alle Welt und
    Lehrt und heilt die Völker alle.
    Heilt sie von dem alten Dünkel
    Und der Lüge und dem Hasse,
    Lehrt sie, daß die Kreaturen
    Brüder all' und eine Race!"
    [Fn-555: E. Schatzmeyer, Pfingsten, in: NSD 19.5.1872, Nr. 58.]

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So finden sich seit diesem Zeitpunkt auch Gedichte, die - ähnlich wie bereits 1848 - den Gedanken des Vaterlandes auf die ganze Welt ausweiten und im wesentlichen durch die Freiheit bestimmt sehen. [Fn-556: E. Schatzmeyer, Zu Neujahr 1872, in: NSD 31.12.1871, Nr. 78.] Die immer wieder vertretene Idee eines „Völkerbundes" deutet jedoch auch an, dass die Hoffnung auf ein „nationales" Vaterland, das sich mit den anderen freien Ländern verbünden könnte, noch nicht aufgegeben worden ist. [Fn-557: Jean Pierre Béranger, Die heilige Allianz der Völker, in: VS 6.9.1871, Nr. 72; G..., Zur Erinnerung an die Pariser Commune, in: VS 12.4.1873, Nr. 30; Jean Pierre Béranger, Reicht euch die Bruderhand!, in: NSD 28.10.1874, Nr. 125; Paul Lossau, Kein Krieg!, in: NSD 31.5.1876, Nr. 62.]

Ein Blick auf die von den Sozialdemokraten der sechziger Jahre gesungenen Lieder zeigt deutlich, wie stark nationaldemokratische Traditionen aus dem Vormärz und der Revolution von 1848 in ihren Reihen noch wirksam waren. Zum einen finden sich in den sozialdemokratischen Liedsammlungen Gesänge aus den Befreiungskriegen und dem Vormärz wieder, die die Forderung nach Freiheit und Einheit der Nation erheben. Zum anderen sind aber auch die neuverfassten Texte, die häufig zu den alten patriotischen Melodien gesungen wurden, stark von nationalen Vorstellungen und Bildern geprägt. Durch die Wortverbindung „deutsches Arbeits-Volk" wird der Anspruch formuliert, als Arbeiter das eigentliche deutsche Volk zu vertreten. Schon 1848 geläufige nationale Stereotype wie die Charakterisierung der Deutschen als „freie Germanen" werden benutzt, um die eigene Vorstellung von politischer und sozialer Freiheit argumentativ zu stärken. Mit dem Krieg gegen Österreich 1866 verbindet sich zunächst vor allem die Hoffnung, als Gegenleistung für die eigene Kriegsbereitschaft „Recht und Freiheit" zu erlangen. Die Leiden und Opfer des Volkes werden im Anschluss an diesen Krieg bildreich dargestellt, um der Forderung nach Freiheit Nachdruck zu verleihen. Sehr bald spricht aus den Versen der Sozialdemokraten die Enttäuschung über die andauernde politische und soziale Benachteiligung. Der Kampf um die Einheit der Nation erscheint darum immer mehr als ein Kampf gegen die bestehenden Staaten. Der Krieg gegen Frankreich 1870/71 bringt einen tiefgreifenden Wandel mit sich. Schweigen die Poeten in den ersten Kriegsmonaten, so deuten die frühesten, kurz vor der Schlacht bei Sedan am 2. September 1870 verfassten Dichtungen bereits auf eine zunehmende Spannung zwischen nationaler Identität und der Solidarität mit dem französischen Volk. Der Krieg gegen Frankreich wird als „dynastischer Krieg" dargestellt, der im geheimen Bündnis zwischen Napoleon III. und Bismarck die Freiheitsbestrebungen des französischen und deutschen Volkes brechen soll. Besonders seit der Proklamation Wilhelms zum deutschen Kaiser am 18. Januar 1871 wer-

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den nationale Symbole verstärkt von den reichstragenden Schichten in Anspruch genommen. Das neugegründete deutsche Reich gilt denen, die die Fortführung des Krieges gegen Frankreich nach Sedan befürworteten, als Verwirklichung ihrer nationalen Träume. Für die Sozialdemokraten wird es damit immer schwieriger, ihre zweifache Identität als deutsches Volk und als Volk der Arbeiter in Abgrenzung zu den Reichsnationalen zu formulieren. Auf der einen Seite wird darum versucht, die Volksfeindlichkeit und -verachtung der deutschen Reichsgründer zu entlarven, indem die unterschiedliche Behandlung von Offizieren und Soldaten, das Elend der Kriegerwitwen und -waisen und die Verhöhnung des Volkes durch die unzureichende Versorgung der Invaliden dichterisch nachgezeichnet werden. Auf der anderen Seite setzt in den im Frühjahr 1871 verfassten „Friedens"-Liedern und -Gedichten eine teils ironische, teils ernsthafte Auseinandersetzung mit denjenigen nationalen Symbolen ein, die besonders stark mit der Reichsgründung assoziiert werden. So wird die „Wacht am Rhein" als „Kriegsgesang" denunziert und der Kyffhäuser-Mythos lächerlich gemacht. Ein ähnliches Ziel verfolgen die Parodien der „Wacht am Rhein", die zum einen mit dem Mittel der direkten textlichen Kontrafaktur arbeiten, zum anderen dem nach außen gerichteten Krieg den innerhalb Deutschlands und zum Teil auch grenzüberschreitend verfochtenen Kampf um die gerechte Arbeitersache gegenüberstellen. Der endgültige Bruch zwischen der Sozialdemokratie und dem national gestimmten Bürgertum vollzieht sich in der Reaktion auf die Niederschlagung der Kommune. Während die bürgerliche Presse den Kampf der Kommune fast ausnahmslos als Terrorherrschaft kennzeichnet, begreifen die Sozialdemokraten ihn in ihren Gedichten und Liedern als eine Art Stellvertreterkampf. Hinter der auch in den folgenden Jahren bis 1878 immer wieder beschworenen Solidarität mit den „Pariser Brüdern" verschwindet die eigene nationale Identität beinahe vollständig. Patriotische Lieder werden in die Neuauflagen der sozialdemokratischen Liedersammlungen nicht mehr aufgenommen. Trotzdem findet man ab und an noch die Bezeichnung „deutsches Arbeits-Volk", und auch die Idee eines Völkerbundes deutet an, dass die internationale Solidarität immer noch als eine Solidarität zwischen verschiedenen, national bestimmten Völkern verstanden wird. Die „doppelte Loyalität" der Sozialdemokraten - das machen ihre Lieder und Gedichte deutlich - kann im Rahmen des bestehenden deutschen Reiches nicht mehr zur Deckung gebracht werden.

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2.2.3. Alldeutschlands Siegeslieder": Die nationale Einheit aus liberaler und konservativer Sicht

1863, im Jahr der Gründung des ADAV und des VDAV, wurde in den deutschen Staaten das fünfzigjährige Jubiläum der Befreiungskriege feierlich begangen. Sowohl die Vossische als auch die Kreuz-Zeitung veröffentlichten eine Vielzahl an Gedichten und Liedern, in denen überlebende Veteranen oder deren patriotische Enkel „der Jugend große Zeit" besangen. [Fn-558: Es naht der Mai. Einladung zum Erinnerungsfest der Freiwilligen in Breslau, in: VZ 19.4.1863, Nr. 91, 2. Beilage.] In der konservativen Kreuz-Zeitung knüpften die Erinnerungsgedichte meist an die „landespatriotische Lyrik" der Befreiungskriege an. [Fn-559: Vgl. Karen Hagemann , 1996, 60-62.] So steht in vielen Gedichten die Treue zu „Thron und Heerd" [Fn-560: Vgl. z.B. Lied des Preußischen Volksvereins in Waldenburg, in: KrZ 25.1.1863, Nr. 21, Beilage.] im Vordergrund, während der Begriff der Befreiung eher gemieden wird. Die Ereignisse von 1813 wurden den Kreuz-Zeitungs-Lesern zumeist als Kampf zur Verteidigung des preußischen Vaterlandes gegen die „Wälschen" dargestellt. [Fn-561: Ebd.] Dieser Kampf wird - wie schon in bestimmten Gedichten von 1813 - als „Jagd" auf „Franzosenwild" hingestellt. Mit diesem Bild wird die Gefahr für die eigenen Soldaten heruntergespielt, während die Problematik des Tötens dadurch ausgeblendet wird, dass den „Feinden" die menschlichen Züge geraubt werden. In einem anderen Gedicht wird Frankreich als „böser Wurm" bzw. „giftgeschwollner Molch" gezeichnet, der durch seiner „Zunge Dolch" den deutschen „Edelbaum" Preußen gestochen und vergiftet habe. [Fn-562: Ein Edelbaum, in: KrZ 27.3.1863, Nr. 73, Beilage.] Frankreich erscheint damit nicht nur als äußerer Feind, sondern auch als „schlangengleiche", listige Nation, die den „starken Baum" Preußen mit ihren „giftigen" Ideen von innen heraus geschwächt habe. So wird in der Erinnerung an 1813 die Verbindung zwischen äußerer Niederlage und innerer Schwäche hergestellt - eine innere Schwäche, die im wesentlichen der Beeinflussung durch die aus Frankreich herübergekommenen freiheitlich-demokratischen Gedanken geschuldet ist. Auf der Grundlage dieses Geschichtsbildes wurde der Kampf gegen die Demokraten und „fortschrittlichen Rechtsverdreher" geführt, der 1863, ein Jahr nach Beginn des preußischen Verfassungskonfliktes, von besonderer Härte gekennzeichnet war. [Fn-563: Vgl. Kapitel 2.1.3 der vorliegenden Arbeit.] Das Bild Frankreichs als „böse Schlange" deutet jedoch auch auf eine religiöse Dimension dieses Krieges. In der Tat taucht in

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manchen Gedichten die Bezeichnung „heilige[r] Krieg" auf. [Fn-564: Des Königs Tafelrunde, in: KrZ 15.3.1863, Nr. 63, Beilage.] Militärischer Geist und Religion durchdringen sich schließlich derart, dass der Himmel selbst als „himmlische Garnison" erscheint, in dem die Ritter „zum Rapport vor des Himmels Thron" gerufen werden. [Fn-565: Friedrich von Gaudy, Zum Festmahl der Ritter des Eisernen Kreuzes am 17. März 1863, in: KrZ 18.3.1863, Nr. 65.]

Auch in der Vossischen Zeitung finden sich Gedächtnisgedichte, die an den Kampf für König und (preußisches) Vaterland erinnern, selten fehlt allerdings der Hinweis darauf, dass dieser Krieg gleichzeitig ein Kampf für Deutschlands Freiheit gewesen sei. [Fn-566: Vgl. z.B. Fest-Lied zur 50jähr. Jubel-Feier von König Friedrich Wilhelm's III. „Aufruf an mein Volk" am 3. Febr. 1813, in: VZ 7.2.1863, Nr. 32, 2. Beilage.]
In der großen Mehrzahl der Gesänge erscheint Deutschland - und nicht Preußen - als Vaterland. Der Gedanke der Befreiung von der „Franken-Willkür" bzw. vom „Joch" der fremden Herrschaft dominiert. [Fn-567: F.W.S.K.-n., Der 3. Februar 1813, in: VZ 3.2.1863, Nr. 28, 1. Beilage bzw. Gustav, Freiwilliger Jäger von 1813, Die freiwilligen Jäger von 1813, in: VZ 15.3.1863, Nr. 62, 2. Beilage.]
„Bei Leipzig unterm Donner der Kanonen", so heißt es in einem „Deutsche[n] Turnerlied", „Ist wiederum nach dunkler Grabesnacht, / Getauft vom Schweiß und Blut der Nationen, / Das deutsche Volk vom Todesschlaf erwacht. / Um's Leben rang dort mit Napoleon / Die auferstand'ne deutsche Nation." [Fn-568: Julius Mosen, Deutsches Turnerlied, in: VZ 4.8.1863, Nr. 179, 1. Beilage.] Die „Völkerschlacht" bei Leipzig vom Oktober 1813 wird also nicht nur als entscheidende Schlacht zur Befreiung vom „französischen Joch" gedeutet, sondern geradezu als „Wiederauferstehung" des deutschen Volkes gefeiert. Trotz dieses religiös geprägten Begriffs spielt der Bezug auf Gott in der Vossischen Zeitung im allgemeinen eine wesentlich geringere Rolle als in der Kreuz-Zeitung. Viele, besonders von Frauen oder Mädchen verfasste Gedichte sind statt dessen dem Gedächtnis Theodor Körners gewidmet, der zum Idealbild des „reinen" Freiheitshelden verklärt erscheint: „kühn", und doch „so still, so fromm und rein." [Fn-569: Hedwig, Leidgesang der Vergißmeinnicht auf Theodor Körner's Grab (Von einem 14jähr. Mädchen gedichtet. 1813 in einer Berliner Z. erschienen), in: VZ 29.8.1863, Nr. 201, 1. Beilage. Allerdings erinnert auch ein Gedicht der Kreuz-Zeitung an Körner, vgl. Theodor Körner und Garibaldi, in: KrZ 26.8.1863, Nr. 198.]
Damit erscheint er als Modell des Soldaten, der gleichzeitig männlich-kühn sowie in moralischer und sexueller Hinsicht „rein", d.h. auch frei von der Beeinflussung durch Frauen sein sollte. Der durch die Realität des ausschließlich männlichen Soldaten vorgegebene Ausschluss der Frauen im Krieg wird mit dem häufig verwandten Bild des Schwertes als „Eisenbraut" [Fn-570: Vgl. z.B. Theodor Körner und Garibaldi, in: KrZ 26.8.1863, Nr. 198.] verfestigt. Das Kämpfen im Krieg wird damit

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als männlich-erotische Bewährungsprobe dargestellt, von der die wirkliche Frau ausgeschlossen bleibt. [Fn-571: Auch Ute Frevert betont, dass „die patriotische Lyrik der Befreiungskriege […] ebenso wie die Vaterlandsgesänge der 1830er und 1840er Jahre oder die Kriegsgedichte von 1870/71 fast ausschließlich von Männern und ihrer libidinösen Beziehung zum Vaterland" sprechen; vgl. dies., 1996 a, 158.]
Darüber hinaus wird eine Verbindung zwischen männlicher Gewalt und dem „Freien um eine Braut" hergestellt, die nicht ohne Auswirkungen auf die Geschlechterbeziehungen geblieben ist. Mit der Erinnerung an Theodor Körner wird außerdem noch einmal besonderes Gewicht auf die Darstellung der Ereignisse von 1813 als Kampf um die Freiheit gelegt. [Fn-572: Vgl. z.B. auch Karl Weise, Am fünfzigjährigen Todestage Theodor Körner's, den 26. August 1863, in: VZ 26.8.1863, Nr. 198, 1. Beilage.]

Auch in den 1864 als Reaktion auf den preußisch-österreichischen Krieg gegen Dänemark entstandenen Gedichten der Vossischen Zeitung ist der Gedanke der Befreiung vorherrschend. Mit Metaphern wie „Märzensturm" und „Frühlingsgrün" wird dieser Krieg als Fortführung des „Frühlings" von 1848 interpretiert. [Fn-573: K.v.Th., Winter 1863, in: VZ 24.1.1864, Nr. 20, 1. Beilage bzw. H. Oderberg, Jubelnd schwingt die Lerche sich empor, in: VZ 17.4.1864, Nr. 92, 3. Beilage.] Tatsächlich hatten sich die Schleswig-Holsteiner im Verlauf der Revolution von 1848 gegen den dänischen König erhoben und für ihre Unabhängigkeit mit Hilfe preußischer Truppen gekämpft, bis Preußen sich 1850 mit dem Frieden von Berlin dem russisch-französischen Druck beugte. Daraufhin war im Londoner Protokoll von 1852 die Personalunion der beiden Herzogtümer mit Dänemark vereinbart worden. Insofern war es also keineswegs abwegig, den Krieg gegen Dänemark von 1864 als Fortführung des Kampfes von 1848 zu verstehen. Wie schon 1848 so war auch 1864 nicht die gesamte Bevölkerung Schleswig-Holsteins für einen Krieg gegen Dänemark, da sich viele - vor allem die sogenannten Eiderdänen - eher als Dänen denn als Deutsche fühlten. [Fn-574: Vgl. Thomas Nipperdey , Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, 770.] Wenn es also in einem Gedicht heißt: „Wir kämpfen ja für deutsche Erde, / Für Schleswig-Holstein diesen Streit! / Wir nehmen es den Dänen wieder, / Der es so lang mit Füßen trat" [Fn-575: Wilhelm Petsch, Füsilier im 60. Regiment, Der Preis des Kampfes, in: VZ 13.4.1864, Nr. 88, 1. Beilage.] , so entspricht dies nicht den Tatsachen. Die Problematik der verschiedenen Nationalitäten und Sprachen der Schleswig-Holsteiner wurde in den Gedichten und Liedern der Vossischen Zeitung jedoch völlig ausgeklammert. „Daß

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Schleswig-Holstein gänzlich gleich / Möchte kommen zum deutschen Reich" [Fn-576: J. Umlauft (Neustadt-E. / W., im März 1864), Für Schleswig-Holstein nicht allein, in: VZ 31.3.1864, Nr. 77, 2. Beilage.] , wurde nirgendwo angezweifelt.

Neben dem Verweis auf 1848 wird in den Gedichten der Vossischen Zeitung viel Wert auf folgende Feststellung gelegt:

    „Du trotz'ger Däne, heut sollst Du erfahren,
    Daß ungestraft Verträge man nicht bricht!
    Geknechtet hast Du schamlos unsre Brüder,
    Heut halten blutig wir das Strafgericht!

    Zu lange nur hat Deutschland sich geduldet,
    Sein Zaudern hat Dich mehr und mehr erfrecht;
    Der heut'ge Tag soll es der Welt beweisen,
    Wie Preußens Adler deutsche Schande rächt!"
    [Fn-577: G.B., Der 18. April 1864, in: VZ 28.4.1864, Nr. 101, 1. Beilage.]

In diesem und anderen Gedichten ist man bemüht, den Krieg gegen Dänemark als berechtigte „Strafaktion" hinzustellen. Dies entsprach ungefähr dem historischen Ablauf: Der im November 1863 gekrönte dänische König Christian IX. hatte unmittelbar nach seiner Thronbesteigung eine Verfassung gebilligt, die die Einverleibung Schleswigs vorsah und damit eindeutig die Londoner Verträge gebrochen hätte. Dies war der Auslöser für den Einmarsch der preußisch-österreichischen Truppen in Schleswig und damit für den Krieg gegen Dänemark. [Fn-578: Vgl. zu den Hintergründen des Krieges und der Politik Bismarcks, durch eine strikt legalistische Haltung im Konflikt mit Dänemark eine kriegerische Auseinandersetzung nach seinen Vorstellungen billigend in Kauf zu nehmen, wenn nicht sogar zu provozieren: Thomas Nipperdey , 1983, 770-773 und Hans-Ulrich Wehler , 1995, 283-285.]
In den Gedichten und Liedern begnügte man sich nun aber nicht mit der Darstellung dieser Ereignisse, sondern es wurden „dem Dänen" entsprechende Nationaleigenschaften zugewiesen. So wie im eben zitierten Gedicht wird „der Däne" - manchmal heißt es auch der „Danske" [Fn-579: F.W. Plath, Soldatenlied. Anno 1864, in: VZ 29.6.1864, Nr. 152, 1. Beilage.] - als trotzig und frech charakterisiert. Diese beiden Eigenschaften - Trotz und Frechheit - fordern geradezu zu einer „Erziehungsmaßnahme" heraus, will man nicht, dass sich „der Däne", so wie es im Gedicht beschrieben wird, „mehr und mehr erfrecht". Die kriegerische Auseinandersetzung wird damit auf die Ebene eines Erziehungskonflikts transponiert und auf diese Weise verharmlost. In der Bezeichnung „trotzig" steckt jedoch auch der Blick der

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„Autorität" auf den Unterlegenen, der mit Trotz das zu erreichen sucht, was er durch seine eigenen Kräfte nicht bekommen würde. Darum ist es nicht weiter überraschend, dass die Preußen in anderen Gedichten als weit überlegen dargestellt werden, während die Dänen als schwächlich und feige erscheinen. Ein preußisches „Soldatenlied" drückt diese Einschätzung voller Überheblichkeit aus:

    „Und als wir bei Missunde
    Unser Kruppzeug bloß probirt.
    Da ward dem Danske bange,
    Daß er bald retirirt.
    […]
    Hui! welch' ein Reiterrasseln
    In eis'ger Winternacht!
    Wie ging hinab nach Flensburg
    Die wilde Dänenjagd!
    Doch hatte sich gesputet
    Der Danske wundersam,
    Daß in die Düpp'ler Schanzen
    Er noch vor Thorschluß kam,
    Hurrah!"
    [Fn-580: F.W. Plath, Soldatenlied. Anno 1864, in: VZ 29.6.1864, Nr. 152, 1. Beilage.]

In diesem Gedicht trifft man außerdem auch wieder auf das von 1813 bereits bekannte Bild des Krieges als lustige Jagd, in anderen ist sogar die Rede vom „lustigen Tanze" [Fn-581: F.W. Plath, Berliner Düppler, in: VZ 30.4.1864, Nr. 103, 1. Beilage.]. Im Ton sehr ähnlich schildert ein preußischer Stabsoffizier seine im Kampf erlittene Verletzung mit den Worten: „Floh der Däne vor uns her; - / That sich hier noch einmal setzen, - / Hui! Da flog mein Rock in Fetzen! / Kugel in der linken Brust / Für den König - eine Lust!" [Fn-582: Antwort eines preuß. Stabsoffiziers auf den Gruß seiner Kameraden, „Rolf Krake" hatte schlecht geschossen, in: VZ 10.7.1864, Nr. 162.] Selbst der Soldatentod, der wie in allen Soldatenliedern als „ehrenvoll[er]" oder sogar „schönste[r] Tod" [Fn-583: G.B., Gedanken beim ersten Gefecht, in: VZ 17.3.1864, Nr. 67, 1. Beilage bzw. Wilhelm Petsch, Füsilier im 60. Regiment, Pionier Klinke, in: VZ 17.6.1864, Nr. 142, 1. Beilage.] gilt, erscheint im Rahmen dieses lustigen Reiterlebens wenig tragisch. Der dichtende Füsilier Wilhelm Petsch schreibt so zum Beispiel vor dem Sturm auf die Düppeler Schanzen: „So Mancher ward des Dienstes quitt, / Der jung sein Blut vergossen." [Fn-584: Wilhelm Petsch, Füsilier, Vor Düppeln, in: VZ 12.3.1864, Nr. 63, 2. Beilage.] Die Schmerzen der Solda-

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ten und das Grauen des Krieges werden außerordentlich selten geschildert. In der Vossischen Zeitung findet sich nur 1866 ein Gedicht, das den Anblick eines toten Soldaten mit den Worten schildert: „Das Aug' von Jenem da, / […] Ein Schmerz lag d'rin unsäglich, […]." [Fn-585: R.G., Dem Andenken unseres Eduard Becker. Ein Gefall'ner, in: VZ 13.7.1866, Nr. 160, 2. Beilage.] Dieses trostlose Bild wird mit den letzten Zeilen des Gedichtes jedoch versöhnlich als sinnvolles Opfer gedeutet, und so heißt es: „Dann sprießt gewiß die Rose / Aus seinem Blut hervor." Ein einziges Gedicht, das 1871 in der Kreuz-Zeitung erschien, beschreibt in ergreifenden Worten die „Entdeckung" eines Soldaten, dass er in dem feindlichen französischen Soldaten einen Menschen erschoß, der genau wie er selbst liebte und hoffte. [Fn-586: Robert Bartholomäi, Sergeant im 30. Regiment, Zum Andenken an den in der Schlacht bei Belfort am 17. Jan. 1871 gefallenen Zuaven-Sergeanten François Dubort, in: KrZ 10.3.1871, Nr. 59, Beilage.] Dieses Gedicht ist allerdings sowohl im Ton als auch in der Thematik absolut einzigartig unter der Vielzahl der anderen Soldatenlieder und -gedichte.

Die preußischen Männer, die auf diese Weise im dänischen Krieg ihr Blut vergießen, werden als „bied're Preußendegen" geschildert, über die der entfernte Verwandte Otto von Bismarcks, Hermann von Bismarck [Fn-587: Es ist nicht mit letzter Sicherheit zu klären, wer der Dichter war, da zwei erwachsene Mitglieder der Familie Bismarck 1864 den Namen Hermann trugen. Vermutlich handelt es sich um den preußischen Oberstleutnant a.D. Hermann von Bismarck, 1812-1870. Es käme aber auch der gleichnamige Steuerrat und Leutnant a.D., 1810-1876, in Frage. Beide waren nur sehr entfernt mit Otto von Bismarck verwandt.] , schreibt: „Jedweder Zoll ein Mann! / Jetzt tollkühn und verwegen, / Naiv und harmlos dann." [Fn-588: Hermann von Bismarck, Zu Lande und zu Wasser, in: VZ 22.7.1864, Nr. 172, 2. Beilage.] Dieses Bild des preußischen Soldaten passt sich gut in die Schilderung des Krieges als Jagd ein. Darüber hinaus sind die „preußischen" Eigenschaften das genaue Gegenteil der „dänischen". Dem Trotz und der Frechheit der Dänen wird die Biederkeit und naive Harmlosigkeit der Preußen gegenübergestellt, der dänischen Feigheit im Kampf die preußische Tollkühnheit.

Die antagonistischen Bilder von Preußen und Dänen sind in den Gedichten und Liedern der Kreuz-Zeitung ähnlich, allerdings liegt der Akzent dort noch stärker auf dem „Soldatischen". So erscheinen die Dänen nicht nur als schwächlich, sondern sie wagen angeblich auch kein „offenes männliches Gefecht" [Fn-589: Bornemann, Die Königsgräber zu Zelling in Jütland, in: KrZ 11.8.1864, Nr. 186, Beilage.] . Diese Anklage suggeriert, dass es noch „offene Gefechte", d.h. den Kampf Mann gegen Mann mit dem Schwert in der Hand, geben würde. Diese Beschuldigung der Dänen ist also im Grunde ebenso unsinnig wie die

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Rede vom „tückischen Dänenblei" oder dem „verrätherisch[en] Geschoß". [Fn-590: G.B., Nachruf an den Avantageur im Brandenburg. Füsilier-Regiment Nr. 35, Adolf v. Hake, in: KrZ 15.5.1864, Nr. 112 bzw. Baehr, Premierlieutenant, Genommen Alsen, in: KrZ 12.8.1864, Nr. 187.]
Historischer Hintergrund für diese Charakterisierung der Dänen sind offensichtlich die Ereignisse zwischen 1848 und 1852, als die preußischen Truppen die dänischen besiegt und Schleswig-Holstein damit von der dänischen Herrschaft „befreit" hatten, sich aber auf einen Waffenstillstand einließen, der es der dänischen Regierung ermöglichte, Preußen mit Unterstützung der anderen europäischen Großmächte auf diplomatischem Wege zur Annahme des Friedens von Berlin und schließlich 1852 des Londoner Protokolls zu bewegen. Im dichterischen Rückblick nehmen sich diese Begebenheiten dann wie folgt aus: „Doch weniger mit Thaten, als mit Worten / Kämpft dieser Dänen trügerisches Geschlecht. […] die fremden Diplomaten / Sie raubten uns den Lohn der Waffenthaten." [Fn-591: Bornemann, Die Königsgräber zu Zelling in Jütland, in: KrZ 11.8.1864, Nr. 186, Beilage.] Hier wird der äußere Feind also ähnlich wie der politische Gegner als betrügerischer „Wortklauber" diskreditiert. Die preußischen Soldaten werden dagegen als „wortkarg" dargestellt, sie „rede[n] nur in Thaten". [Fn-592: Aus der Ostsee, in: KrZ 27.3.1864, Nr. 73, Beilage.] Dieses Bild des soldatisch verschlossenen, äußerlich harten Mannes entspricht dem allgemeinen Ideal des Mannes, der „von unverbrüchlicher Stärke und Härte" sein sollte. [Fn-593: Gunilla-Friederike Budde , 1994, 157.] Damit korrespondiert das soldatische Attribut der „Eisenhand" und die Aussage: „Im Dienste meines Königs / Küßt ich die Eisenbraut." [Fn-594: F.v. Köppen, Aus Schleswig, in: KrZ 23.2.1864, Nr. 45, Beilage bzw. E.v.P.G., Der Kanonier von Missunde, in: KrZ 17.2.1864, Nr. 40, Beilage.]
Besonders im Begriff der „Eisenbraut" gehen das Ideal der äußeren Härte und des im Innern verborgenen Gefühls eine enge Verbindung ein. Darüber hinaus deutet diese Metapher, die bereits 1813 weit verbreitet war und in den Gedichten und Liedern der sechziger Jahre immer wieder zu finden ist, an, dass der Krieg auch als eine Art männlich-erotischer Bewährung gesehen wird, so wie es schon zuvor beschrieben wurde. Wie stark in dieser Vorstellung Lust und Gewalt, auch als Gewalt gegen die eigene Person, sich verschränken, wird in einem Gedicht von 1871 deutlich, in dem der aussichtslose und todbringende Kampf zum Schutz der preußischen Fahne in der Sprache der „Brautwerbung" dargestellt wird. Dieses Gedicht endet mit den Versen:

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    „Ricciotti Garibaldi [der auf seiten der Franzosen kämpfende italienische „Freiheitsheld"],
    Als kaum der Morgen graut,
    Steht sinnend vor den Todten,
    Den Freiern und der Braut [der preußischen Fahne].
    Beschauend die Trophäe
    Spricht er zu sich gekehrt:
    ‚Du hast die preußischen Siege
    Mir ohne Wort erklärt.‘„
    [Fn-595: A.v. Witzleben, Die Fahne bei Dijon, in: KrZ 3.3.1871, Nr. 53.]

Diese Beschwörung des aufopferungsbereiten Soldaten entspricht darüber hinaus dem „Tugendbild des ‚deutschen Mannes‘ im Sinne eines dem nationalen Kollektiv treu ergebenen Kriegers", in dem Dietmar Klenke das „gewichtigste[] Integrationselement" eines „Nachzügler- und Selbstbehauptungs-Nationalismus" sieht. [Fn-596: Dietmar Klenke , 1994, 208.] Dieses Idealbild wurde sowohl in der Vossischen als auch in der Kreuz-Zeitung am liebsten in der Person eines herausragenden Offiziers verkörpert gesehen. Besondere Bewunderung erregte der Neffe Wilhelms I., Prinz Friedrich Karl (1828-1885), dem eine Vielzahl an Gedichten gewidmet wurde. Der Kampf und die Leiden des „einfachen Soldaten" entzogen sich dagegen offenbar dem Interesse der Laienpoeten. Dies blieb auch in den Gedichten und Liedern über die Kriege von 1866 und von 1870/71 unverändert.

Das spezifisch soldatische Ethos dieser preußischen Kämpfer wird in der Kreuz-Zeitung besonders betont. Der „Feind" ist nur so lange zu bekämpfen, wie er sich wehren kann. Im Tode muss dagegen auch ihm Ehre erwiesen werden, ja, Freund und Feind erscheinen sogar im Tode versöhnt als Brüder. [Fn-597: J., Zwei Gräber in Düppel, in: KrZ 27.3.1864, Nr. 73, Beilage.] Die „Feindesliebe der Preußen" geht in den Gedichten so weit, dass „sie […] voll Erbarmen, - / Gottes Mauer schützet sie, / - Auf der Feindesliebe Armen / Ihren [verletzten] Feind zur Batterie [tragen]." [Fn-598: Eduard Kluge, P., Feindesliebe der Preußen, in: KrZ 17.4.1864, Nr. 90, Beilage.] Damit wird das soldatische Ethos der Ehrfurcht vor dem verletzten Feind zusätzlich religiös motiviert. Indem den Dänen aber diese Form der „Bruderliebe" abgesprochen wird [Fn-599: Ebd.] , erscheint es auch folgerichtig, dass Gott mit den wahrhaft christlichen, d.h. preußischen, Streitern ist, die mit der „Waffe" des „heil'ge[n] Abendmahl[s]" gegen die Dänen, die sich der Todsünde des „Hochmuths"

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schuldig gemacht haben, kämpfen. [Fn-600: E.B., geb. v.C., Wie möcht ich knien, in: KrZ 12.5.1864, Nr. 109 bzw. F.H.v.F., Bundeslied. In Gottes Namen drauf!, in: KrZ 28.7.1864, Nr. 174.] Dieses schon 1813 vorhandene Motiv des „heil'gen Krieges" durchzieht alle konservativen Soldatenlieder und -gedichte; sehr oft wird es durch das eigentlich alttestamentarische Bild des kriegerischen Gottes verstärkt, „der in der Feuerwolke / Voran uns [d.h. „seinem" Volk, den Preußen bzw. Deutschen] zog im Krieg." [Fn-601: Emanuel Geibel, Am Tage der Friedensfeier ( 18. Juni 1871), in: KrZ 28.6.1871, Nr. 147, Beilage. Wolfgang Hardtwig weist darauf hin, dass „das deutsche nationale Bewußtsein […] stärker als die Nationalismen der westlichen Nachbarstaaten die Verschmelzung von Christlichkeit und Nationalität anstrebte." Vgl. ders., 1990, 279. Nach den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit trifft diese Feststellung im Hinblick auf die sechziger Jahre vorwiegend für den konservativen und weniger für den liberalen Nationalismus zu.]

Mit dieser Gegenüberstellung von christlichen und unchristlichen (Un-) Tugenden von Preußen und Dänen erscheint es fast überflüssig, den Krieg noch weiter zu begründen. Tatsächlich heißt es in Anspielung auf den Aufruf Friedrich Wilhelms III. vom Februar 1813 lediglich: „Kein Preuße fragt: weshalb der Krieg? - / Mein König ruft! für ihn zum Sieg." [Fn-602: A.v.M., Was regt sich heut in jedes Preußen Brust?, in: KrZ 10.2.1864, Nr. 34, Beilage.] Hier wird also, ganz wie beim Jubiläum der Befreiungskriege 1863, die landespatriotische Lyrik fortgeführt. Die Ereignisse von 1848 werden nun nicht etwa verschwiegen, sondern in diese Tradition eingegliedert. So lobt das offizielle Geburtstagsgedicht der Kreuz-Zeitung Wilhelm 1864 mit den Worten: „Du hast ein Jüngling für Dein Volk gefochten, / Du hast als Mann den Aufruhr kühn zertreten, / Als er im Badnerland sein Haupt erhob." [Fn-603: An des Königs Majestät, in: KrZ 22.3.1864, Nr. 69.] Der Krieg erscheint in gewisser Weise als eine Fortführung der „Aufstandsbekämpfung" mit anderen Mitteln, da er ein starkes emotionales Band zwischen Königs-Vater und Volks-Söhnen schafft, das in der Trauer des Königs um seine „Kinder" augenfällig wird. Ein Gedicht über „König Wilhelm I. und sein Heer" beschreibt dies mit den Worten: „Heil Euch! die Ihr den König / So um Euch weinen seht! // Der Blutsverwandtschaft Bande, / Umschlingen Fürst und Heer, / Die, o ihr Volksverräther, / Zerreißt Ihr nimmermehr!" [Fn-604: König Wilhelm I. und sein Heer, in: KrZ 8.5.1864, Nr. 106, Beilage.] Diese Beschwörung der Einheit von König und Volk gegen die sogenannten „Volksverräther" ist ganz eindeutig vor dem Hintergrund des seit 1862 schwelenden Verfassungskonfliktes zu sehen, der Wilhelm vor der Berufung Bismarcks zum Ministerpräsidenten im September 1862 beinahe zur Abdankung veranlasst hatte. Der Begriff „Volksverräther" macht deutlich, dass man besonders angesichts des Krieges bemüht war, die politischen Gegner als national unzu-

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verlässig hinzustellen. [Fn-605: Nach Dietmar Klenke gehen „die geistigen Wurzeln dieser Denkhaltung […] auf das Zeitalter der Befreiungskriege zurück"; vgl. ders., 1994, 208.] Aber noch eine andere Verbindung wird 1864 in der Kreuz-Zeitung immer wieder besungen: die „alte Waffenbrüderschaft" zwischen Österreich und Preußen. [Fn-606: Fedor von Köppen, Hauptmann im 4. Gardegrenadier-Regiment Königin, Waffenbrüdergruß, in: KrZ 13.8.1864, Nr. 188.] Das Zusammenwirken des „stolze[n] Adlerpaar[es]" [Fn-607: Ebd.] , d.h. der beiden deutschen Großmächte, wird in vielen Gedichten als Garant Deutschlands dargestellt [Fn-608: Vgl. z.B. Eine Stimme aus Schleswig-Holstein, Oestreich, Preußen wahlverwandt, in: KrZ 19.2.1864, Nr. 42, Beilage.] , während in den Gedichten und Liedern der Vossischen Zeitung völlig verschwiegen wurde, dass Österreich an der Seite Preußens kämpfte. Dies hängt offensichtlich damit zusammen, dass man dort im Krieg um Schleswig-Holstein die „‚deutsche Mission‘ Preußens" verwirklicht und damit die kleindeutsche Lösung nähergebracht sehen wollte [Fn-609: Vgl. Hans-Ulrich Wehler , 1995, 285.] , während die Konservativen noch weitgehend für das Zusammenwirken der konservativen Regierungen Preußens und Österreichs im Rahmen der bestehenden Staaten eintraten. [Fn-610: Thomas Nipperdey , 1983, 776.] Die so gut wie ausschließlich positive Darstellung des Krieges gegen Dänemark auch in der liberalen Vossischen Zeitung macht deutlich, wie schnell der „nationale" Erfolg die ursprünglich beklagte „Vergewaltigung des Selbstbestimmungsrechtes der Schleswig-Holsteiner" vergessen machte. [Fn-611: Vgl. Thomas Nipperdey , 1983, 774.]

Die Eintracht der beiden deutschen „Adler" währte nicht lange. Der Versuch, Schleswig-Holstein gemeinsam zu verwalten, führte zu unausgesetzten Spannungen, so dass 1865 im Vertrag von Gastein ein neues Provisorium festgelegt wurde, nach dem Österreich Holstein verwalten sollte, während Preußen die Verantwortung für Schleswig übernahm. Aber die Auseinandersetzungen konnten mit dieser Regelung nicht beendet werden; beide Staaten hatten im Grunde genommen auch wenig Interesse an der Beilegung des Konflikts. Preußen beantragte im April 1866 eine Bundesreform, nach der die Bundesversammlung in ein aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgehendes Parlament umgewandelt werden sollte. Diese Veränderung hätte Österreich mit Sicherheit ausgeschlossen. Im Juni 1866 erklärte Österreich entgegen den Bestimmungen des Gasteiner Vertrages, es wolle die Erbfolge in Holstein dem Urteil des Deutschen Bundes unterwerfen. Daraufhin marschierten preußische Truppen in Holstein ein. Der Deutsche Bund mobilisierte als Antwort auf die preußische Aggression einen Teil seiner Bundesarmee, Preußen er-

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klärte die Bundesakte für gebrochen und trat aus dem Deutschen Bund aus. Damit begann der Krieg um die Vorherrschaft in Deutschland, in dem Preußen im Verein mit den norddeutschen Staaten gegen Österreich, Bayern, Württemberg, Sachsen, Hannover und acht andere süddeutsche Staaten kämpfte. [Fn-612: Vgl. dazu auch Hans-Ulrich Wehler , 1995, 292/3 und Thomas Nipperdey , 1983, 774-782.]

Die preußische Öffentlichkeit reagierte keineswegs mit Begeisterung auf diesen Krieg, der in weiten Kreisen - von den Nationalliberalen bis zu den Konservativen, erst recht bei den Katholiken - als „Bruderkrieg" galt. Einige wenige Nationalliberale wie Sybel begrüßten dagegen den Krieg, während sich manche konservative Bismarck-Anhänger eine innenpolitische Stabilisierung davon versprachen. [Fn-613: Hans-Ulrich Wehler , 1995, 293.] Ähnlich gespalten zeigen sich die Dichter der beiden großen liberalen und konservativen Zeitungen vor Beginn des Krieges am 15. Juni 1866. In beiden Zeitungen finden sich Warnungen vor dem „Bruderzwist". Aus Anhalt erhält die Kreuz-Zeitung im Mai 1866 ein Gedicht, in dem es heißt:

    „Germania weint, verhüllt ihr Angesicht,
    […]
    Die Kämpfer treten auf, zwei Löwen gleich,
    Zwei edle Brüder, stammverwandt,
    Die schönsten Heere, so die Welt geseh'n,
    Unüberwindlich Hand in Hand,
    Nun messen sie als Feinde sich zum Tod -
    Kyrie eleison, barmherz'ger Gott!"
    [Fn-614: A.v.K., Aus Anhalt, in: KrZ 18.5.1866, Nr. 113, Beilage.]

Damit wird dieser Krieg eindeutig als Unglück für Deutschland gesehen, gleichzeitig aber auch als Kampf der „Giganten" dargestellt, der wegen der unvergleichlichen Stärke der beiden Kämpfer eigentlich nur in der Katastrophe der beiden enden kann. Darauf verweist auch die Anrufung Gottes am Schluss der Verse. In der Zeile „unüberwindlich Hand in Hand" klingt dagegen die durchaus nicht abwegige Furcht an, dass die deutsche Zwietracht die anderen Nationen zum Schlag gegen Deutschland herausfordern könne. [Fn-615: Während des gesamten Krieges blieb die Frage für Österreich und Preußen ein Unsicherheitsfaktor, ob und auf welcher Seite Napoleon III. intervenieren würde. Eine französische Intervention hätte unter Umständen kriegsentscheidend wirken können; vgl. Thomas Nipperdey , 1983, 779-781 und 786/7.]
Diese Befürchtung war bereits in einem Anfang April erschienenen Gedicht

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mit den Worten ausgedrückt worden: „Und so lange diese währen [die deutschen Streitigkeiten] / Wird die ersehnte Einigkeit in Deutschland nie einkehren. / Die Nachbarvölker rüsten sich / Schon jetzt, um Krieg zu spielen, […]." [Fn-616: Radis, Zur Rüstung, in: KrZ 8.4.1866, Nr. 81, Beilage.] So dominiert in den vor Juni 1866 in der Kreuz-Zeitung erschienenen Gedichten der Wunsch nach „Bruderfrieden". [Fn-617: E.v.W., Unmöglich ist's, in: KrZ 20.5.1866, Nr. 115, Beilage.] Aber auch die Vossische Zeitung berichtete am 12. Juni 1866 über eine Theatervorstellung, bei der „den längsten stürmischen [Applaus] folgende Strophe [hervorrief], die wie unmittelbar aus dem Herzen Aller gesprochen schien":

    „Wenn zwei Nationen sich bekriegen,
    So wenden sie sich himmelan:
    ‚O lieber Vater, hilf uns siegen!‘
    - Wem macht's der Vater recht alsdann?
    Es wendet sich mit trübem Blicke
    Der Gott der Liebe ab und spricht:
    Zur Eintracht schuf ich euch, zum Glücke, -
    Wenn ihr euch würgt, so ruft mich nicht!"
    [Fn-618: Bericht über eine Theater-Vorstellung in Wallner's Theater, in: KrZ 12.6.1866, Nr. 133, 1. Beilage.]

Neben diesen friedfertigen Tönen, aus denen man geradezu eine allgemeine Friedenssehnsucht herauszuhören meint, gab es jedoch auch andere Stimmen. In einem Gedicht der Kreuz-Zeitung wird Wilhelm als „König Weißbart" zum Nachfolger des mythischen Reichseinigers Barbarossa erhoben, und es ergeht an ihn die Aufforderung: „Laß Deine rasselnden Geschwader / Sich stürzen in den heil'gen Krieg, / Daß dieser tausendjähr'ge Hader / Verstummen muss vor Deinem Sieg." [Fn-619: G.W.L., Gehadert ist genug geworden, in: KrZ 20.5.1866, Nr. 115, Beilage.] Hier erscheint der Sieg über Österreich als notwendiger Schritt, damit Preußen seine „Sendung für's ganze Deutschland" erfüllen und Deutschland unter seiner Herrschaft einigen kann. [Fn-620: Orkane ziehn zusammen, in: KrZ 5.6.1866, Nr. 127, Beilage.] Diese Argumentation wird unmittelbar nach Kriegsbeginn einhellig in den Gedichten beider Zeitungen vertreten. In der Vossischen Zeitung klagt die „Mutter Germania": „So lange mir Oestreich im Herzen wühlt, / […] So lange auch werde ich weinen und wimmern!", und sie fährt fort: „Und wer mir den deutschen Bund sprengt und vernichtet, / Der hat sich ein ewiges Denkmal errichtet! / […] Germanische Brüder, / Und werfet den Erbfeind Oesterreich nieder!" [Fn-621: Heinrich Divenow, Klage der Mutter Germania, in: VZ 16.6.1866, Nr. 137, 1. Beilage.]

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Von der liberalen Hoffnung auf Freiheit durch Einheit ist hier nichts mehr zu spüren. Die nationale Einheit ist zum alleinigen Ziel geworden, und da Preußen sie am ehesten erkämpfen kann, so werden auch die großdeutschen Vorstellungen ohne Bedauern fallengelassen. Während in der Vossischen Zeitung mit dem Bild der über Österreich klagenden „Mutter Germania" suggeriert wird, dass alle deutschen Staaten für einen Krieg gegen „das fremde Joch" [Fn-622: Adalbert Beysell, einjähr. Freiwilliger im mobilen Kaiser Franz Garde-Grenadier-Regiment No. 2, Drebkau, den 15. Juni 1866, auf der Feldwache, in: KrZ 17.6.1866, Nr. 138, 2. Beilage.]
Österreichs seien, so zeigt ein Gedicht der Kreuz-Zeitung, dass die durch den Krieg gegen Österreich errungene „Hochzeit" Germanias mit Preußen nicht ohne Gewalt gegen die Braut vollzogen werden wird. So wendet sich der Dichter an Germania, „die schöne Schläferin":

    „Wach auf! und schmücke Dich für ihn [den Bräutigam Preußen],
    Der Hochzeitsmorgen graut;
    Bald glühen roth der Berge Höh'n,
    Dann holt er seine Braut.

    Und bebst Du auch und sträubst Dich bang,
    Wenn Dich umfängt sein Arm,
    Was thut's, sein eigen wirst Du doch,
    Er faßt Dich fest und warm.

    […]

    Und Trommelwirbel, Hörnerruf
    Und Schlachttrompetenklang,
    Kanonendonner, Kampfgeschrei, -
    Das ist der Brautgesang."
    [Fn-623: Heinrich Beer, Wach auf!, in: KrZ 15.6.1866, Nr. 136, Beilage.]

Abgesehen davon, dass dieses Gedicht einiges über das von Gewalt geprägte zeitgenössische Geschlechterverhältnis und die Realität der bürgerlichen Hochzeit verraten mag, macht es deutlich, dass nun auch die konservativen Dichter der Kreuz-Zeitung die Einigung Deutschlands erstreben - allerdings unter preußischer Herrschaft und nach preußischen Vorstellungen. Dies ist insofern ein etwas überraschender Befund, als sich die sogenannten Altkonservativen, die mit den Brüdern Gerlach die Leitung der Kreuz-Zeitung be-

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stimmten, gegen die „antiösterreichische Zerreißung Deutschlands" wandten. [Fn-624: Vgl. Thomas Nipperdey , 1983, 798.] Diese Frage vor allem war es gewesen, die zu einer Spaltung der Konservativen in die bismarckkritische altkonservative und die regierungstreue freikonservative Partei geführt hatte. Offensichtlich - die Gedichte zeigen es - waren die Bruchlinien aber zumindest in der Presse nicht so eindeutig. So heißt es nun zum Beispiel auch über den ehemaligen österreichischen „Bruder": „Was Oestreich that, bedenk' und sprich', / War das denn etwa brüderlich?" [Fn-625: Hans Paul v. Wolzogen-Neuhaus, Unser Heer, in: KrZ 7.7.1866, Nr. 155, Beilage.] Damit wird natürlich auf den Bruch des Gasteiner Vertrages durch Österreich angespielt; viele zeitgenössische Beobachter erkannten aber auch damals schon, dass dieser Krieg nicht von den Österreichern, sondern von Bismarck „angezettelt" worden sei. [Fn-626: Vgl. Hans-Ulrich Wehler , 1995, 293. Auch Hagen Schulze betont, dass es Preußen gewesen sei, das aus der „europäischen Friedensordnung ausgeschert" sei, vgl. ders., Kleine deutsche Geschichte, München 1996, 118/9.]
Mit Ausnahme des Verweises auf „Oesterreichs arge[n] Trug" [Fn-627: Bicking, Die Schlacht vor Königgrätz,in: KrZ 12.8.1866, Nr. 186, Beilage.] werden Österreich in den Gedichten und Liedern beider Zeitungen kaum negative Eigenschaften zugeschrieben. Es häufen sich im Gegenteil die Mahnungen, dem soldatischen Ethos gemäß „die Feinde weiter nicht [zu hassen]" [Fn-628: Ida v. Düringsfeld, Schlagt zu!, in: KrZ 21.6.1866, Nr. 141, Beilage. Ähnlich: Ein nicht bestätigter Bürgermeister, Herzens-Wunsch eines großen Theils des preußischen Volkes, in: VZ 11.8.1866, Nr. 185, 1. Beilage.] , und es wird dem „alten Austria" kriegerischer Respekt gezollt. [Fn-629: G.v.F., Soldat, Cantonnement Boitsbrunn bei Nicolsburg, Vom Felde, in: KrZ 5.8.1866, Nr. 180, Beilage.] Darin zeigt sich, dass der Krieg gegen Österreich zwar als Schritt auf dem Weg zur deutschen Einigung verstanden wurde, die Feinde aber schwerlich zu nationalen Feinden stilisiert werden konnten und der Krieg somit vor allem in den Kategorien einer rein militärischen Auseinandersetzung wahrgenommen wurde.

Nach dem „unerwartete[n] und glänzende[n] Sieg" [Fn-630: Hagen Schulze , 1996, 118.] der preußischen Armee am 3. Juli 1866 bei Königgrätz und dem Friedensschluß von Prag im August 1866 unterscheiden sich die Gedichte der Vossischen und der Kreuz-Zeitung kaum noch in ihren Erwartungen an Preußens „deutsche Mission". Heißt es in der Kreuz-Zeitung voll Zukunftsgewißheit: „Germania wird durch Deinen [Preußens] Arm erstarken, / […] unter Deinem Fittig, Königsaar, / Wird bald erwachsen sie zur Riesengröße, / Sich mächtig zeigen, wie sie nie es war" [Fn-631: F.G. Ewen, Aus Ostfriesland, in: KrZ 16.10.1866, Nr. 241, Beilage.] , so ertönt in der Vossischen Zeitung der Ruf: „Auf Preußen! schaff' uns unsre Weltmacht wieder! / Die Segel schwellen; auf zum großen Werke! / ‚Sieg!‘

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jauchzt der Sturm in brausenden Akkorden!" [Fn-632: O. Meißner, Probe aus „Geharnischte Sonette", in: VZ 28.10.1866, Nr. 252.] Diese in den Gedichten der liberalen Vossischen Zeitung beobachtbaren Tendenzen imperialen Machtstrebens waren, wie Dietmar Klenke betont, „geeignet, die liberalen Anteile der Nationalbewegung von innen her auszuhöhlen […]." [Fn-633: Dietmar Klenke , 1995 a, 144.] Keine zwei Wochen nach dem preußisch-österreichischen Friedensschluss von Prag stimmten die Hälfte der Abgeordneten der liberalen Fortschrittspartei und zwei Drittel des linken Zentrums der Indemnitätsvorlage im preußischen Landtag zu. Damit war der seit 1862 geführte Verfassungskonflikt beendet. [Fn-634: Thomas Nipperdey , 1983, 798.]

Vier Jahre später erhielt Preußen die Gelegenheit, sich diesen hochgesteckten Erwartungen noch einmal „gewachsen" zu zeigen. Als das spanische Parlament im Frühjahr 1870 den vakanten Thron dem Erbprinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen, einer Nebenlinie der preußischen Hohenzollern, anbot, wurden alte französische Ängste vor einer Einkreisung neu angefacht. Nachdem der Vater Leopolds im Namen seines Sohnes auf die spanische Thronkandidatur verzichtet hatte, schickte Napoleon III. seinen Botschafter Benedetti zu Wilhelm I. nach Bad Ems, um eine in aller Zukunft gültige Verzichtserklärung des Hauses Hohenzollern zu fordern. Wilhelm verweigerte diese Erklärung und telegraphierte einen Bericht an Bismarck nach Berlin. Dieser veröffentlichte die sogenannte „Emser Depesche" in stark verkürzter und zugespitzter Form, so dass der unter starkem innenpolitischen Druck stehende Napoleon III. kaum anders als mit einer Kriegserklärung an Preußen reagieren konnte. Als diese am 19. Juli 1870 erfolgte, stellten sich erwartungsgemäß die Staaten des Norddeutschen Bundes, aber auch alle süddeutschen Staaten an die Seite Preußens, während die deutschen Nachbarn Neutralität wahrten. In der Schlacht bei Sedan am 2. September 1870 wurde nicht nur die französische Armee unter General Mac-Mahon vernichtend geschlagen, sondern Napoleon III. konnte gefangengenommen werden; damit schlug die letzte Stunde des französischen Second Empire. Danach wurde der Krieg gegen die Armeen der französischen Republik mit dem Ziel weitergeführt, Elsaß und Lothringen zu erobern. Als Folge des nationalen Hochgefühls trug man Wilhelm die deutsche Kaiserkrone an. Am 18. Januar 1871 wurde er im Spiegelsaal des Versailler Schlosses zum deutschen Kaiser proklamiert. Der Friedensschluss mit Frankreich erfolgte am 10. Mai 1871 in Frankfurt. Frankreich musste Elsaß und Lothringen an das neugegründete Deutsche Reich abtreten. [Fn-635: Vgl. zum genauen Ablauf des Krieges und der Frage, inwieweit Bismarck den Krieg seit der ersten Diskussion um die spanische Kronkandidatur des Hauses Hohenzollern-Sigmaringen bewusst provoziert habe, die in vielen Punkten unterschiedlichen Positionen von Thomas Nipperdey , Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, zweite, durchgesehene Auflage, München 1993, 56-66 und Hans-Ulrich Wehler , 1995, 316-327.]

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Mit dem Krieg gegen Frankreich tritt in beiden Zeitungen die deutsche Identität der Dichter hervor, während das Selbstverständnis als Borussen immer mehr zu verschwinden scheint. Dies ist insofern naheliegend, als dieser Krieg ja tatsächlich das erste Mal von allen deutschen Staaten (mit Ausnahme Österreichs) gemeinsam geführt wurde. Genauso wie ehedem die Preußen so halten nun die deutschen Soldaten „das Eisen mit nerviger Faust". [Fn-636: Albr. Gerstell, Am Vogesenpaß, in: KrZ 15.2.1871, Nr. 39, Beilage.] Neben dem Adler, der als Wappentier von den Preußen übernommen wird, findet sich vor allem in der Vossischen Zeitung das Symbol der deutschen Eichen, die - wie schon 1848 - für Einigkeit, Treue und Recht stehen. Germania erscheint in den Liedern und Gedichten von 1871 nicht mehr als klagende Mutter oder gewaltsam heimgeführte Braut, sondern sie steht, „den Eichenkranz im lockigen Haar, […] hehr und hoch", die „Kaiserbraut im Siegeskranze". [Fn-637: G. Kinder, Tret' ich hinaus, in: VZ 18.6.1871, Nr. 146, 4. Beilage bzw. E. Nauck, geb. Hellwig, Zum 18. Januar 1871, in: KrZ 26.1.1871, Nr. 22, Beilage.] In diesem Wandel des Germania-Bildes von der passiven, etwas schwächlichen Frau zur stolzen Kriegerin spiegelt sich deutlich das durch Krieg und Reichsgründung neugewonnene deutsche Selbstbewusstsein. [Fn-638: Friedemann Schmoll verfolgt den Wandel der Germania-Darstellungen in Bildern und Denkmälern. Auch er sieht einen engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung eines „militante[n] Germania[-Bildes]" und der aggressiven Haltung gegenüber Frankreich. Erste Ansätze zu diesem Wandel beobachtet er bereits in den um 1860 geschaffenen Germania-Darstellungen; vgl. ders., Individualdenkmal, Sängerbewegung und Nationalbe wußtsein in Württemberg. Zum Funktions wandel bürgerlicher Erinnerungskultur zwischen Vormärz und Kaiserreich, in: Friedhelm Brusniak / Dietmar Klenke (Hg.), „Heil deutschem Wort und Sang!", Augsburg 1995, 71-94, hier: 90.]

Frankreich wird demgegenüber mit den bereits bekannten Bildern vom „welsche[n] Tand" und der „giftige[n] Brut" belegt. [Fn-639: Albr. Gerstell, Am Vogesenpaß, in: KrZ 15.2.1871, Nr. 39, Beilage bzw. J.E. Arndt, Zum Gebet!, in: KrZ 3.3.1871, Nr. 53.] Besonders ausgemalt werden diese Bilder während der Belagerung und nach der Kapitulation von Paris. Einen Tag nach dem Fall von Paris schreibt ein ungenannt bleibender Poet folgendes Gedicht, in dem das ambivalente Frankreich-Bild vieler Deutscher dieser Zeit sehr deutlich hervortritt:

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    „Schön liegt sie da, die stolze Seinestadt,
    Obschon besiegt mit Zauber übergossen;
    Doch blickt ihr Auge hohl und wüst und matt
    Ihr Leib erbebt, vom Schmerzgewand umflossen.
    […]
    Paris, vor dem die Schwäche knieend lag,
    Ein Löwe, schüttelnd seine starken Mähnen,
    Hat Deutschlands Macht mit scharfem Schwerterschlag
    Entwaffnet, trotzend seinen Tigerzähnen.
    Die Purpurhülle ist in Staub zerfallen,
    Krank ist der Leib und fratzenhaft sein Spiel:
    Frei soll fortan Germania's Banner wallen,
    Da Frankreichs Zaubermaske endlich fiel
    Voll Eitelkeit und Lüge.
    Du, schönes Frankreich, bist durch uns befreit
    Von den pygmäenhaften Götzenbildern,
    Vor denen Ehrsucht und Erbärmlichkeit
    In prunkhaften Gewändern sclavisch schildern.
    Wir reichen Dir die Hand zum wahren Frieden,
    Und ohne Groll im Herzen rufen wir:
    Ruhm, Glück und Segen seien Dir beschieden!
    Nur bleibe fern dem deutschen Hauptquartier
    Die Eitelkeit und Lüge."
    [Fn-640: O.A., Vor Paris. Capitulation vom 28. Januar 1871, in: KrZ 4.2.1871, Nr. 30, Beilage.]

In diesem Gedicht mischen sich widerspruchsvoll Faszination, Neid und Zerstörungslust. In dem Begriff der „Zaubermaske" verbirgt sich das Geständnis, dass man selber verzaubert war vom Anblick und Leben dieser Stadt bzw. dieses Landes. Darauf deutet auch die Beschreibung von Paris als einer schönen, aber kranken Frau. Diese Schönheit ist jedoch als Maske entlarvt, die zerfallende Purpurhülle gibt den Blick frei auf die innere Verdorbenheit. Diese Bilder wecken Assoziationen, die ganz bewusst auf eine geschlechtskranke Prostituierte hinweisen. [Fn-641: Auch Ute Gerhard und Jürgen Link weisen auf die Verbindung von Krankheitssymbolik und sexueller Symbolik im deutschen Frankreichbild des späten 19. Jahrhunderts hin; vgl. dies., 1991, 29. Ute Frevert beschreibt die Stilisierung Frankreichs zur „‚ruchlose[n]‘ femme fatale "; vgl. dies., 1996 a, 157.]
Diese Assoziation wird durch den Satz „vor dem die Schwäche knieend lag" verstärkt. Mit dem Bild der „Frau" und „Hure" wird die „Unterwerfung" von Paris in doppelter Weise gerechtfertigt. Darüber hinaus erscheint die „Hure Frankreich" geradezu auf den starken

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deutschen Löwen angewiesen, da ihr selber die innere Stärke zur moralischen Läuterung fehlt. Nur das deutsche „Volk von Trug und Falschheit rein" [Fn-642: J.G. Dönitz, Gärtner aus Halle a.S., „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern!", in: KrZ 12.3.1871, Nr. 61, Beilage.] kann Frankreich von den Todsünden der Eitelkeit und Lüge „befrei[en]". Wie gewalttätig diese Befreiung gedacht ist und in welche „Lebensgefahr" Frankreich dadurch geraten kann, wird in diesem Gedicht mit den ersten Zeilen angedeutet, potentiell ist diese Befreiung also auch als Zerstörung angelegt. In den letzten zwei Zeilen des Gedichtes wird auf die „Ansteckungsgefahr" dieser faszinierenden französischen „Krankheit" hingewiesen. Wegen dieser Gefahr kann die deutsche Reichsgründung nur vollendet werden - so legen einige Gedichte der Kreuz-Zeitung im Frühjahr und Sommer 1871 nahe -, wenn Gott die Kraft gebe, „auch aus dem [deutschen] Herzen / Der Lüge finstre Saat, / Das Wälschthum auszumerzen / In Glauben, Wort und That." [Fn-643: Emanuel Geibel, Am Tage der Friedensfeier (18. Juni 1871), in: KrZ 28.6.1871, Nr. 147, Beilage, ähnlich schon: J.E. Arndt, Zum Gebet!, in: KrZ 3.3.1871, Nr. 53.]
Die Erinnerung an die eigene Faszination für Frankreich soll offensichtlich getilgt werden, wenn ein anonymer Dichter sich an den neuen Kaiser nach dem Vorfrieden von Versailles mit der Bitte wendet:

    „Gieb den Führern, Aemtern, Würden,
    Statt des gall'schen Redelaut,
    Deutsche Namen, die vertraut,
    Nicht das deutsche Herz bebürden!

    Stolz sind wir ob uns'rer Sprache,
    Und verachten fremden Tand,
    Der sich eingestohlen fand
    Nur in uns'rer eignen Schwäche!"
    [Fn-644: L. Stz., Am 2. März 1871, in: KrZ 30.3.1871, Nr. 76, Beilage.]

Derart weitgehende Forderungen finden sich in der Vossischen Zeitung nicht. Bald werden aber in den Gedichten der liberalen Zeitung erste Äußerungen laut, die auf den Kulturkampf verweisen, der in gewisser Weise auch als ein Kampf gegen das „welsche" Christentum, nämlich den Katholizismus mit seinen „transnationalen Aspekten" [Fn-645: Hagen Schulze , 1996, 135.] interpretiert werden könnte. So heißt es in einem Nachruf auf Hoffmann von Fallersleben im Jahre 1874: „Doch Dein

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Deutschland sollt' nicht feiern, / Sollt' nicht rasten nach dem Sieg, / Führt nun mit den röm'schen Geiern / Geisteskampf im grimmen Krieg." [Fn-646: Ernst Scherenberg, Hoffmann von Fallersleben †, in: VZ 23.1.1874, Nr. 19, 2. Beilage.]

Wenn auch die „innere Reichsgründung" in manchen Gedichten als noch nicht vollendet angemahnt wird, so erscheint das Deutsche Reich in seiner „äußeren Statur" doch als „erfülltes Sehnen und Träumen" [Fn-647: Eine Lübeckerin, Aus freier Reichsstadt, in: KrZ 11.1.1871, Nr. 9, Beilage.] . Frankreich konnte sein „alter Raub" „abgejagt" werden: „Das Elsaß und das Lotharin-gen, / Dann Straßburg, altersgraue Stadt; / Wo deutsche Zungen uns umklingen, […]." [Fn-648: Eduard von Labunski, Dem deutschen Kaiser, in: VZ 10.3.1871, Nr. 65, 2. Beilage; ähnlich: J.E. Arndt, Zum Gebet!, in: KrZ 3.3.1871, Nr. 53.] Damit findet sich auch 1871 noch das „alte" Argument der Sprach- und Kulturnation, obwohl man sich doch gerade mit dem Krieg gegen Österreich und der deutschen Reichsgründung ohne Österreich gegen eine Einheit aller deutschen Sprachgebiete entschieden hatte und man den preußischen Polen den Bezug auf dieses sprachlich-kulturell verstandene Nationalitätenprinzip verweigerte. Darüber hinaus wird mit dem Begriff „alter Raub" auf die Tatsache verwiesen, dass Elsass und Lothringen zweihundert Jahre zuvor von Ludwig XIV. erobert worden waren - ein ebenso zweifelhaftes Argument wie das sprachlich-kulturelle, das das französische Selbstverständnis der meisten Bewohner von Elsaß und Lothringen bewusst ignorierte. [Fn-649: Vgl. Hans-Ulrich Wehler , 1995, 324.] Die Forderung nach Annexion der „alten Reichsgebiete" Elsaß und Lothringen, die vermutlich gegen Bismarcks ursprüngliche Intention seit Mitte Juni 1870 von weiten Teilen der Bevölkerung (und auch vom Militär) mit den eben dargelegten Argumenten erhoben wurde, ist vor dem Hintergrund der rückwärtsgewandten Utopie vom „alten Reich" zu sehen. So häufen sich 1871 in den Gedichten und Liedern die Stimmen, die mit dem Jubelruf: „Erwacht ist Barbarossa!" [Fn-650: A.v.B., freiwillige Pflegerin im Kriege vor Paris, Deutsches Lied, in: KrZ 4.1.1871, Nr. 3, Beilage.] im neugegründeten Deutschen Reich eine „Wiederauferstehung" des mittelalterlichen Heiligen römischen Reiches deutscher Nation sehen wollen.

Seit dem Sieg der preußischen Armee bei Königgrätz am 3. Juli 1866 scheinen sich die liberalen und konservativen Dichter von Vossischer und Kreuz-Zeitung in ihren nationalen Zielen und Bildern stark zu ähneln. Während der Landespatriotismus der Konservativen hinter ihrer nationalen Identität immer mehr zurücktritt und die deutsche Einigung unter preußischer Führung als Ziel erscheint, verabschieden sich die Liberalen von den großdeutschen

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Träumen, die ein Teil von ihnen hegte. Statt Einheit und Freiheit steht nun immer öfter der Wunsch nach Einheit und nationaler Größe auf ihre Fahnen geschrieben. Ein genauer Blick auf die vor 1866 verfassten Gedichte und Lieder macht jedoch deutlich, dass das, was als Bruch erscheint, keineswegs so unvorbereitet geschah. Obwohl in den 1863 und 1864 in der Vossischen Zeitung erschienenen Dichtungen der Gedanke der Befreiung noch eng mit dem Kampf um nationale Einheit verknüpft und mit den Metaphern von „März" und „Frühling" auf bestimmte Bilder von 1848 zurückgegriffen wurde, verstand man sich doch hauptsächlich als Deutsche in Abgrenzung zu fremden Nationen, in diesem Fall zu den Franzosen und Dänen. Darin zeigt sich - besonders im Vergleich zu den zuvor analysierten republikanisch-demokratischen Gedichten von 1848 - die Dominanz des nationalen Gedankens über die Idee der Freiheit. Dies erklärt auch, warum das Ergebnis des deutsch-dänischen Krieges - die Verwaltung Schleswig-Holsteins durch Österreich und Preußen - in den Gedichten nicht kritisiert wurde, obwohl dies eigentlich dem ursprünglichen Ziel von nationaler Selbstbestimmung und Freiheit im Rahmen eines von Herzog Friedrich (VII.) von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg regierten Doppel-Herzogtums widersprach und sogar zu einer faktischen Teilung beider Herzogtümer führte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die 1866 von den Liberalen in ihren Gedichten eingenommene Haltung kaum mehr als Bruch dar, sondern eher als konsequente Fortsetzung eines schon vorher eingeschlagenen Weges.

Erstaunlicher erscheint es dagegen, dass die konservativen Dichter sich seit 1866 immer stärker als Deutsche darstellen und für einen Kampf um „Germania" eintreten. Zuvor wurde in ihren Gedichten besonders auf die Treue zum Thron und zum preußischen Vaterland verwiesen, der Krieg von 1813 wurde mit der Begründung hingenommen, dass der König zum Kampf gerufen habe. Eventuell ist hier der Schlüssel für den 1866 erfolgten Wandel zu finden. Mit dem Eintreten für eine deutsche Einigung unter preußischer Führung änderte sich nichts an der Loyalität dieser Preußen zu ihrem König. Da der König - mit Bismarcks „Unterstützung" - nun aber zum Krieg gegen Österreich und für „Deutschland" rief, übernahm man diese Begründung, die sich darüber hinaus in die bereits vorher angelegten Muster der eigenen Identität in Abgrenzung zu anderen Nationen problemlos einfügen ließ.

Wenn sich damit die nationale Annäherung von liberalen und konservativen Dichtern im Jahre 1866 durch ihre Vorgeschichte erklären läßt, so wurde sie doch für die zeitgenössischen Beobachter erst in diesem Moment wirklich sichtbar. In den Gedichten der Sozialdemokraten zeigt sich so Ende 1866 erstmals Enttäuschung darüber, dass man als Gegenleistung für den eigenen „nationalen Einsatz" nicht das ersehnte allgemeine Wahlrecht bekommen und eine Verbesserung der sozialen Lage erreicht habe. In der Folgezeit zeichnet

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sich in den Gedichten und Liedern eine rapide Auseinanderentwicklung der nationalen Vorstellungen von Sozialdemokraten einerseits und Liberalen andererseits ab. Die Sozialdemokraten versuchten zunächst, die Einheit ihrer doppelten Identität als Arbeits-Volk und nationales Volk zu wahren, indem sie die „volksverachtende" Nationalität der regierungstreuen Schichten kritisierten. Durch die Erfahrungen des deutsch-französischen Krieges und die Tatsache der „preußischen" Reichseinigung befördert, stellten sie dann jedoch immer stärker ihre Identität als Arbeiter-Volk in den Vordergrund und griffen gleichzeitig die nationale Stilisierung der Reichspatrioten durch die Ironisierung der von ihnen benutzten nationalen Stereotype an.

Liberale und konservative Dichter sahen dagegen in der durch den deutsch-französischen Krieg erreichten Reichsgründung die Erfüllung des Traumes von der Wiederherstellung des „alten Reiches". Kaiser Wilhelm I. wird als „Kaiser Weißbart" zum Nachfolger Barbarossas stilisiert, Germania tritt den Zuhörern in den Gedichten und Liedern nun als selbstbewusste, siegesgewisse Frau entgegen. Wenn also aus den liberalen und konservativen Dichtungen weitgehend Zufriedenheit und Stolz über die Form der Reichsgründung herausklingt, so gibt es auf konservativer Seite Stimmen, die dafür eintreten, die französischen Prägungen der deutschen Kultur „auszumerzen", während die liberalen Dichter den „Kulturkampf" gegen die katholische Kirche einläuten. Gegen diese Tendenzen der „Nationalisierung" der deutschen Kultur setzen die sozialdemokratischen Dichter immer vernehmbarer ihr Bekenntnis zur internationalen Solidarität.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2002

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