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TEILDOKUMENT:
- Lieder und Gedichte als Schlüssel zur Weltsicht von Arbeitern und Bürgern zwischen 1848 und 1875 [Seite der Druckausg.: 72 (Fortsetzung]
Jedes Lied hat eine konformierende Wirkung, es kann Gesinnungen prägen, soziale Kontakte stiften, Überzeugungen festigen, Wertbewußtsein bilden und Opferbewußtsein fördern", so hält eine Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung über Das Politische im Lied" fest.
[Fn-223: Das Politische im Lied . Politische Momente in Liedpflege und Musikerziehung (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 76), Bonn 1967, 40.]
[Seite der Druckausg.: 73] und Entstehungsbedingungen der Lieder und Gedichte wirft. Immer dann, wenn Ereignisse bzw. die Erinnerung an bestimmte Ereignisse die Menschen in ihrer Existenz oder in ihrem Selbstverständnis berühren und sie auf Veränderung hoffen, greifen sie zu Feder und Papier. Das war 1848 / 49 so, als die Lyrikproduktion sprunghaft anstieg und (fast) alle - vom Gesellen über den Meister bis zum liberal gesinnten Bürger - ihre Klagen und Forderungen in Reime kleideten. Das blieb auch in den bewegten sechziger bzw. frühen siebziger Jahren so: Jeder der sogenannten Einigungskriege wirft in den bürgerlichen Zeitungen seine lyrischen Schatten voraus, das Kampfgetümmel findet seinen Widerhall in einer Flut von Gedichten, die mit den Siegesfeierlichkeiten jedoch recht bald verebbt.
[Fn-224: Eine regelrechte lyrische Sturmflut entfesselte dann viele Jahre später der Erste Weltkrieg, der allein im August 1914 in eineinhalb Millionen Gedichten besungen wurde, vgl. Peter Schleuning , „Die Wacht am Rhein": Deutsche Soldatenlieder; Typen, Traditionen und Inhalte an Einzelbeispielen, in: Der Geist von 1914: Zerstörung des universalen Humanismus?, Rehburg-Loccum 1990, 77-117, hier: 81.]
Trotz dieser unterschiedlichen Gewichtungen geben Gedichte und Lieder aller Gruppen darüber Auskunft, wie man die gegenwärtige politische und soziale Verfasstheit der Gesellschaft wahrnahm und welche Visionen man - wenn man überhaupt welche hatte - für die Zukunft hegte. Eine große Bedeutung wird auch der nationalen Frage" zugemessen: Verschiedene Bilder der deutschen und anderer Nationen werden entworfen; dementsprechend unterscheiden sich auch die Einstellungen zu Krieg und Frieden. Ob nun der Soldat oder der Arbeiter auf der Bühne des Reimgeschehens auftritt - immer kommen dabei auch bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit zur Sprache. Weiblichkeit ist häufig die andere, unsichtbare Seite der männlichen Medaille, Weibischheit" dient oft zur Denunzierung des jeweiligen Gegners. Diesen Bildern von Gesellschaft und Nation, aber auch von Geschlechtscharakteren sowie deren Konstruktion in den Liedern und Gedichten von 1848 bzw. von 1863-1875 soll in den folgenden zwei Kapiteln nachgegangen werden. [Seite der Druckausg.: 74]
2.1.Und endlich wird ein Lied uns singen, dass nun die Welt erlöset sei!" - Bilder und Visionen von Gesellschaft
Sowohl in der Revolution von 1848 als auch im Verlauf des preußischen Verfassungskonfliktes, der sich 1861 an der Frage des auch für den Militäretat zuständigen Budgetrechts des preußischen Landtages entzündet hatte und bis zur Annahme der Indemnitätsvorlage im Jahre 1866 schwelte, war die politische Verfassung Preußens bzw. eines zukünftigen deutschen Reiches eine heftig umstrittene Angelegenheit. Die Proklamation des deutschen Reiches am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles machte dieser Diskussion ein vorläufiges Ende, wenngleich das Verhältnis von (katholischer) Kirche und Staat sowie die Haltung zu den angeblichen sozialdemokratischen Reichsfeinden" weiterhin im Brennpunkt der Auseinandersetzung standen. Daneben war es vor allem die sogenannte soziale Frage", die die Gemüter erhitzte. Obwohl 1849 beispielsweise in Preußen erst 4,9 % der Erwerbstätigen in der großgewerblichen Produktion tätig waren
[Fn-225: Hans-Ulrich Wehler , Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: 1849-1914, München 1995, 141.],
spürte man die Auswirkungen der Industriellen Revolution mit ihrer Tendenz zur Auflösung der alten handwerklichen Strukturen und der Zerstörung der Produktionsweise des ganzen Hauses" bereits sehr deutlich.
[Fn-226: Hans-Jörg Zerwas , Arbeit als Besitz. Das ehrbare Handwerk zwischen Bruderliebe und Klassen kampf 1848, Reinbek bei Hamburg 1988, 228.]
[Seite der Druckausg.: 75] setz" bestimmt; unter den Bedingungen der Lohnarbeit werde den Arbeitern niemals ein weit über das Existenzminimum hinausgehender Lohn zugebilligt werden. Abhilfe - und hier greift Lassalle ein bereits von der Arbeiterverbrüderung" entwickeltes Konzept auf - könne nur in Form von Produktivassoziationen mit Unterstützung des Staates geschaffen werden. Das allgemeine, direkte und gleiche (Männer-)Wahlrecht sei das einzige Mittel, um die Wahrung der legitimen Interessen der Arbeiter zu gewährleisten. So schafft Lassalle eine enge Verbindung zwischen politischen und sozialen Forderungen der Arbeiter, die in dieser Weise in der Revolution von 1848 noch nicht ausgeprägt war. Für die Legitimation bzw. Abwehr der politischen und sozialen Forderungen der verschiedenen Gruppen war es entscheidend, mit welchen Formulierungen und Metaphern die bestehende Gesellschaft beschrieben wurde, wie man zentrale Begriffe wie etwa Volk", Arbeiter", Fürst", Bürger" definierte und mit welchen emotional wirksamen Konnotationen man sie versah. Den Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser Konstruktionen soll im folgenden nachgespürt werden.
2.1.1 1848 - Der Kampf um die Ehre der Arbeit und die heil'gen Rechte" des Volkes
Und daß wir Männer sind, das kannst du sagen, / Und daß wir Einer für den Andern steh'n; / Denn unser Bund vereinet alle Stände, / Und im Panier steh'n die verschlung'nen Hände." So wird einem in die Ferne ziehenden Bruder" 1849 in einem vom Hamburger Bildungs-Verein für Arbeiter herausgegebenen Liederbuch nachgerufen.
[Fn-229: E. Brachvogel, Auf's Neue geht ein Bruder in die Ferne, in: Deutsche Lieder, hrsg. vom Bildungs-Verein für Arbeiter in Hamburg, Hamburg 1849, Nr. 91, 137/8 (künftig zitiert als: Deutsche Lieder, 1849).]
In diesem kurzen Abschiedsgruß klingen bereits die wichtigsten Elemente der Selbstdefinition von Handwerkern aus dem Umkreis der Arbeiterverbrüderung an, zu deren Gründungsmitgliedern der Hamburger Bildungs-Verein für Arbeiter zählte: Brüderlichkeit, Männlichkeit, gegenseitige Hilfe. Als Fundament von Freiheit und Gleichheit, ja der menschlichen Beziehungen überhaupt wurde die Brüderlichkeit angesehen
[Fn-230: Hans-Jörg Zerwas, 1988, 242.],
als deren Symbol die Verbrüderungshände" gewählt wurden, die von dieser Zeit an fester Bestandteil der sozialdemokratischen Ikonographie bis zum Ende des Ersten Weltkrieges blieben.
[Fn-231: Gottfried Korff , Rote Fahnen und geballte Faust. Zur Symbolik der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, in: Dietmar Petzina (Hg.), Fahnen, Fäuste, Körper. Symbolik und Kultur der Arbeiterbewegung, Essen 1986, 27-60, hier: 28. Die Verbrüderungshände waren bereits vorher ein Symbol der Freimaurer. Nach 1945 bemühte die SED dieses Symbol für die (z.T. unter Zwang erfolgte) Vereinigung von KPD und SPD zur SED.]
[Seite der Druckausg.: 76] Brüderlichkeit oder auch Bruderliebe sollte alle äußeren Schranken überwinden helfen, darum auch sollten alle Stände im traulichen Verein" willkommen sein
[Fn-232: L. Klopstech, Heil dem schönen Handwerksbunde, in: Liederbuch für Handwerker-Vereine, 2. vermehrte Auflage, hrsg. v. Berliner Handwerker-Verein, Berlin 1848, Nr. 2, 7/8 (künftig zitiert als: Liederbuch für Handwerker-Vereine, 1848).],
und doch schloss das Konzept der Brüderlichkeit so manche(n) aus. Natürlich war dort, wo die Bruderliebe hochgehalten wurde, kein Platz für Frauen. Aber auch die Brüder mussten bestimmte Eigenschaften mitbringen, um als solche anerkannt zu werden. So heißt es in einem Lied von 1848, dass nur der unser Mann" sei, der denken, fühlen, schweigen kann / Und sich zu freuen weiß", wohingegen man den nicht achte, den Kratzfuß, Titel, Rang und Geld / Zum großen Manne macht."
[Fn-233: Bonterweck, Wer nie im Freundeskreis sich freu'n, in: Liederbuch für Handwerker-Vereine, 1848, Nr. 17, 26/7.]
[Seite der Druckausg.: 77] ge unsrer Welt."
[Fn-236: L. Klopstech, Heil dem schönen Handwerksbunde, in: Liederbuch für Handwerker-Vereine, 1848, Nr. 2, 7/8.]
Ein letztes, wesentliches Kriterium für die Gemeinschaft der Brüder" ist die Arbeit. Die Arbeit [
] zeigt des Mannes Werth", heißt es in einem von einem Mitglied des Berliner Handwerkervereins gedichteten Lied
[Fn-237: E. Röder, Rüstig und munter, in: Liederbuch für Handwerker-Vereine, 1848, Nr. 25, 35/6.],
sie ist die freie Mannesthat", die es dem Mann erlaubt, voller Verachtung auf die Laffen", Stutzer" und reichen Schlemmer" herabzusehen.
[Fn-238: Nur durch die Arbeit wird man frei! in: Republikanische Lieder und Gedichte, zweiter Theil, hrsg. v. J.C.J. Raabé, Kassel 1851, Nr. 56, 133/4 (künftig zitiert als: Republikanische Lieder, 1851 a) bzw. W. Steinhäuser, Zur Arbeit, zur Arbeit mit frischem Muth!, in: Liederbuch für Handwerker-Vereine, 1848, Nr. 24, 34/5 und E. Röder, Rüstig und munter, in: a.a.O., Nr. 25, 35/6.]
[Seite der Druckausg.: 78] Dampfers, der das preußische Königspaar auf dem Rhein nach Bieberach bringt: Wie mahnt dies Boot mich an den Staat! Licht auf den Höhen wandelst Du!
Sowohl von der Begrifflichkeit als auch von der Argumentation vermeint man in diesem Lied schon Herweghs berühmt gewordene Verse von 1863 zu vernehmen: Mann der Arbeit, aufgewacht! / Und erkenne Deine Macht! / Alle Räder stehen still, / Wenn Dein starker Arm es will." [Fn-241: Georg Herwegh, Arbeiterlied, in: VS 26.3.1870, Nr. 25.] Im Unterschied zu Herweghs kämpferischem Aufruf der Schlußstrophe: Brecht das Doppeljoch entzwei! / Brecht die Noth der Sklaverei! / Brecht die Sklaverei der Noth! / Brod ist Freiheit, Freiheit Brod!" begnügt sich Freiligraths Heizer jedoch noch mit der Erkenntnis seiner Macht und der vagen Drohung: Heut, zornig Element, noch nicht!" Auffällig ist, dass sich die Lieder äußerst selten an die Arbeiter" richten, sondern zumeist die weitaus unspezifischere Anrede als Brüder" oder Männer" gewählt wird. Dies kann als Indiz dafür gelten, dass die zünftige Deutungswelt noch weitgehend in Kraft war, nach der der Begriff Arbeiter" den unterständische[n], tendenziell unqualifizierte[n] Gelegenheitsarbeiter [ ] und [den] Beschäftigten in zentralisierten Großbetrieben" bezeichnete. [Fn-242: Vgl. Thomas Welskopp , 2000, 66.] Dass aber auch die Selbstbezeichnung als Handwerker bzw. Geselle und [Seite der Druckausg.: 79] Meister nicht gewählt wird, deutet an, dass man nach Überwindung der alten Hierarchien innerhalb der Zünfte, aber auch der Beschränkungen nach außen strebte. Die Verwendung der Begriffe Männer" bzw. Brüder" zeigt also in diesem Zusammenhang, dass die Lieder in einer Zeit des Umbruchs entstanden sind, in der die Vorstellungen und Begriffe noch stark vom alten Handwerk" geprägt sind, während gleichzeitig bereits antizünftige Tendenzen um sich greifen. Neben diesen Vereinsliedern", in denen Arbeit weitgehend positiv konnotiert ist, finden sich in den Liederbüchern von 1848 eine Reihe von Balladen, die anhand eines Einzelschicksals bzw. des Loses einer kleinen Gruppe anklagend auf die bedrückten Lebensverhältnisse der Armen" hinweisen. Diese Lieder gruppieren sich um den Dualismus arm" versus reich". Das arme Volk", das hier zumeist aus der mitleidigen Distanz eines Erzählers besungen wird, begegnet uns im allgemeinen in der Figur von Frauen und Kindern, manchmal auch in der Person des ungelernten Arbeiters. Diese Veilchenverkäuferinnen, Weberinnen oder Perlentaucher unterscheiden sich sehr deutlich vom eben skizzierten Bild des arbeitenden Mannes, der sich seines Wertes für die Gesellschaft überaus bewusst ist. Das arme Volk" ist ganz eindeutig unschuldiges und wehrloses Opfer der Reichen, die abwechselnd als hartherzig, dekadent oder auch nur als gedankenlos gezeichnet werden. Damit reihen sich diese Lieder in die jahrhundertealte Tradition der Sozialklage ein, als deren Hauptthemen Grausamkeit, Rücksichtslosigkeit und Hartherzigkeit gelten und die häufig durch den Vorwurf der Lüge und des Wankelmutes bzw. das Motiv der Feigheit und Ausschweifung ergänzt werden.
[Fn-243: Vgl. Ernst Klusen , Das sozialkritische Lied, in: Rolf-Wilhelm Brednich u.a. (Hg.), Handbuch des Volksliedes, Bd. 1, München 1973, 737-760, hier: 748/9.]
In diesen Balladen wird sehr deutlich der Luxus der Reichen als unmittelbare Folge der Ausbeutung der Armen dargestellt. So stellt Anastasius Grün eine in Seide gewandete, perlengeschmückte Ballschönheit vor, der unsichtbar ein wüst Gefolg unheimlicher Gestalten" hinterherschwebt - die Schar jener, die für ihren Schmuck gelitten haben und gestorben sind. Und so wendet sich der Sänger zum Schluss an die ahnungslos grausame junge Frau: Zerstört, geknickt, entweiht so viele Leben, / Daß du ein Stündchen magst im Reigen schweben, / O, Jungfrau, unschuldsvoll und seelenrein!"
[Fn-244: Anastasius Grün, Ungebetene Gäste, in: Socialistisches Liederbuch, 1851, Nr. 22, 119-122.]
[Seite der Druckausg.: 80] dem Schicksal der Weberin auf. Damit wurde zum einen auf die Tradition der im Zusammenhang mit dem schlesischen Weberaufstand von 1844 entstandenen Weberlieder zurückgegriffen, zum anderen war den Zeitgenossen das Bild der Textilarbeiterin vertraut, da die Textilindustrie zu den klassischen Frauenbranchen zählte.
[Fn-245: Jürgen Kocka , Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, 466.]
Schaffen, daß die Sinne schwinden,
Im Unterschied zum zuvor zitierten Lied ist hier keine unschuldige Jungfrau ahnungslos schuldig geworden, sondern die englische Weberin verdankt ihr hartes Los einem Wucherer", der sie aus Selbstsucht um den gerechten Ertrag ihrer Arbeit bringt. Hinter dieser Anklage des Wucherers", für den das Geld zum Gott wurde, steht die Kritik an den allein durch den Faktor Geld bestimmten Arbeitsverhältnissen und damit der Wunsch nach Verfügung über das eigene Arbeitsvermögen, so wie Zerwas es als Forderung der Arbeiterverbrüderung in die prägnante Formel Arbeit als Besitz" gefaßt hat. [Fn-248: Hans-Jörg Zerwas, 1988, 225/6.] Damit reiht sich die Autorin in die Reihe derjenigen ein, die die menschlichen Be- [Seite der Druckausg.: 81] ziehungen durch das Verlangen nach Geld bestimmt sehen und den Verlust an Gemeinschaft und Mitmenschlichkeit bitter beklagen. Besonders deutlich wird dies im Bild des Armen, der ohne die Hilfe und den Zuspruch von Arzt und Priester sterben muss, denn: Hilfe bringt man nur um Geld, / Also wollen's die Gesetze der civilisirten Welt."
[Fn-249: Nachtwache, in: Republikanische Lieder und Gedichte, hrsg. v. J.C.J. Raabé, 2., sehr vermehrte Auflage, Kassel 1851, Nr. 33, 56-58 (künftig zitiert als: Republikanischse Lieder, 1851 b).]
Hört ihr, wie sie Geld schreien von einem Winkel der Erde bis zum andern?
Die meisten der Lieder, die sich dem Missverhältnis von Arm und Reich widmen, belassen es bei der Schilderung der Ungerechtigkeit und fordern nicht direkt dazu auf, die Situation zu ändern. Einige wenige Lieder enden mit verhüllten Drohungen an die Adresse der Reichen oder rufen mehr oder weniger deutlich dazu auf, die passive Haltung gegenüber dem eigenen Unglück aufzugeben. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist Karl Becks Warum sind wir arm?", das sich in vielen Liederbüchern um 1848 findet und auch in den sechziger und siebziger Jahren noch populär gewesen zu sein scheint. Dort heißt es, nachdem in mehreren Strophen der Gegensatz von reichem Müßiggang und der täglichen Qual des Armen dargestellt wurde: [Seite der Druckausg.: 82] Denn - warum sind wir arm?
Konkreter oder kämpferischer wird der Aufruf zu einer Änderung der sozialen Verhältnisse in den Liedern von 1848 nicht. Wesentlich revolutionärer klingen hingegen die Töne, die in den Liedern über die politische Ordnung angestimmt werden. Mit blut'gem Banner zieht hernieder
Einen Kampf der Kräfte der Finsternis gegen das Gute scheinen die Sänger von 1848 ihren Zuhörern zu schildern, wenn sie das Volk auf der Bühne des historischen Geschehens gegen den Tyrannen" und seine Schergen" antreten lassen. Es sind zwei sehr ungleiche Gegner, die dort gegeneinander kämpfen. Das Volk", wie es meist umstandslos heißt, ist stolz" und kühn", es bevorzugt die offene That" und zeichnet sich durch sein redliches Herz" [Seite der Druckausg.: 83] aus. Der Tyrann" hingegen erscheint als Inbegriff des Lasters und der Willkür, darum wird die neutrale Bezeichnung Fürst" auch selten gewählt. Eine friedliche Verständigung der beiden Parteien scheint von vorneherein ausgeschlossen. Diese manichäische Darstellung der politischen Welt nimmt jedoch nicht nur auf die universell gültigen Muster von Gut und Böse Bezug, sondern versucht, die Legitimität der Fürsten historisch und moralisch zu hinterfragen. Als historischer Bezugspunkt dienen der Verweis auf den Einsatz des Volkes" für den König in den Befreiungskriegen und das uneingelöste Versprechen des preußischen Königs, seinem Volk eine Verfassung zu geben. In den Liedern wird allerdings weniger auf das verbreitete Argumentationsmuster zurückgegriffen, nach dem die allgemeine Wehrpflicht die politische Partizipation der für das Gemeinwohl kämpfenden Bürger zur Folge haben müsste.
[Fn-254: Vgl. Ute Frevert , Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit, in: Thomas Kühne (Hg.), Männergeschichte - Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, 69-87, hier: 77ff.]
Ein Sockel war's, den du anfingst zu bauen
Hier wird das Opfer der Männer und Frauen des Volkes, die ihr Wertvollstes - ihr Leben bzw. ihr Haar - für die Freiheit und die Ehre - das deutsche Monument - gaben, dem Wortbruch der Fürsten gegenübergestellt. Damit wird deutlich, dass das Volk mit seiner Existenz für sein Wort einzustehen bereit war, während das Wort der Fürsten sich als völlig wertlos herausgestellt hat. Dies führt zu einer generellen Entwertung des Kaiser- und Fürstenwort[es]", wie es im nur" der letzten Zeile zum Ausdruck kommt. Das Vertrauen zwischen Volk und Fürsten - und damit in den rechtlichen Charakter der Herrschaft - ist zerstört, dies ist aber eine der wesentlichen Voraussetzungen der freiwilligen Unterwerfung des Volkes dem Souverän gegenüber. Von da an [Seite der Druckausg.: 84] kann Herrschaft nur noch Gewalt-Herrschaft sein; der Fürst wird folgerichtig zum Tyrannen. Auf moralischer Ebene diskreditierte sich der König dadurch, dass er das 1813 gegebene Verfassungsversprechen nicht einlöste und sich damit nicht dem allgemeinmenschlichen Gebot der Treue und Dankbarkeit entsprechend verhielt. Dieses Motiv wird in einer Tierfabel mit dem Titel Der Lohn des Helden" ausgeführt. Es wird eine Dogge gezeigt, die den Löwen um den Preis ihres Lebens aus dem Rachen von zwei Tigern rettet. Die Undankbarkeit des Löwen gipfelt in dem Satz: Weg mit dem Aas! es braucht kein Grab! / Nur zieh' mir ja die Haut ihm ab - / Es läßt sich gut d'rauf schlafen." Diese menschenverachtende Arroganz veranlaßt den anwesenden Bären zu dem bitteren Fazit: Stirb für dein Weib, für deinen Freund - / Für's Vaterland, für deinen Feind - / Nur stirb für keinen Fürsten!"
[Fn-256: Gottfried Konrad Pfessel, Der Lohn des Helden, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 89, 141/2.]
Doch auf, ihr Völker! schüttelt eure Ketten!
Und weis't man euch zurück, reicht euch die Hände,
Die hier formulierte leise Hoffnung auf den guten" König inmitten der bösen" Berater ist in den der Untersuchung zugrundeliegenden Liedern von [Seite der Druckausg.: 85] 1848 eher selten zu finden. Diese Feststellung ist jedoch nicht weiter überraschend, da die ausgewählten Liederbücher dem demokratisch-republikaischen Spektrum zuzurechnen sind. [Fn-258: Vgl. die Einleitung dieser Arbeit.] Freiheit und Recht gehen in der Argumentation der Lieder zumeist eine enge Verbindung ein. Dies läßt sich nicht nur durch den Rückbezug auf die historische Konstellation von 1813 erklären, wo der Kampf um Freiheit und die getäuschte Hoffnung auf eine Verfassung miteinander verknüpft waren. Das Begriffspaar Freiheit" und Recht" zielt häufig auch auf eine Infragestellung der göttlichen Legitimation der Fürsten. So beschloss die preußische Nationalversammlung bereits im Hochsommer 1848, den monarchischen Titel von Gottes Gnaden" abzuschaffen.
[Fn-259: Rüdiger Hachtmann , Revolution von 1848 in Berlin, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.), 1848/49. Revolution der deutschen Demokraten in Baden, Baden-Baden 1998, 291/292.]
[Seite der Druckausg.: 86] spendet Segen aus, du raubst, / Du nicht von Gott, Tyrann!"
[Fn-265: G.A. Bürger, Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 83, 133/4.]
Von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis aus dem von Gott eingesetzten Fürsten in der völligen Umkehrung der herrschenden Legitimation der Herrscher der Finsternis wird, so wie es in dem schon zuvor zitierten Freiheitsgesang"
[Fn-267: Vgl. Anmerkung 253.]
aufscheint. Typische Kennzeichen dieses dunklen" Herrschers sind das Laster und die Lust an der Grausamkeit als Gegenkräfte der göttlichen Ordnung. Er ist der babylonische Herrscher
[Fn-268: Deutsche Jugend an die Menge, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 4, 7.]
, nur vergleichbar mit Nero, dessen Name Synonym für Grausamkeit und Perversität geworden ist.
[Fn-269: Alfred Meißner, An Friedrich Wilhelm IV., von Gottes Gnaden König von Preußen, in: Republikanisches Lieder-Buch, 1848, Nr. 58, 134/5.]
Er schlürft begierig,
[Seite der Druckausg.: 87] Die Helfershelfer dieses teuflischen Herrschers sind seine Knechte" und Sklaven", d.h. diejenigen, die sich ihrer göttlichen Freiheit berauben ließen und damit selber das Menschenrecht beugten und sich gegen den Gott Natur vergingen.
[Fn-271: Frei sei das Wort, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 53, 129/30.]
In den meisten Liedern erscheint das Volk demgegenüber als homogene und nicht näher bestimmte Masse, die für ihre heil'gen Rechte" streitet. Politische Unterscheidungen werden nicht getroffen. Ein besonderes Kennzeichen dieses Volkes ist in vielen Liedern die Jugendlichkeit, da in der Jugend die Kraft zum Kampf vermutet wird.
[Fn-277: Ludwig Pfau, Aufruf an die Jugend 1848, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 11, 176/7.]
In den Ende 1848 bzw. 1849 entstandenen Liedern zeigen sich bereits Brüche im Bild des einigen Volkes. Nicht alle, die die Freiheitshelden bei vollem [Seite der Druckausg.: 88] Humpen" ehrten, standen später im Kampf ihren Mann".
[Fn-280: Sulzer, Das Heckerlied, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 12, 23/4.]
Die alten Deutschen" noch einmal sehr deutlich ausgedrückt. Dort heißt es: Doch Schwatzen ohne Sinn und End'
Dieses Misstrauen gegenüber der Frankfurter Nationalversammlung griff in den Reihen der Arbeiterverbrüderung bereits im Spätherbst 1848 um sich und führte dazu, dass man nicht mehr nur - wie zuvor - die sozialen Forderungen, sondern nun auch die politischen Forderungen selbst vertrat. [Fn-284: Walter Schmidt , Arbeiterverbrüderung, soziale Emanzipation und nationale Identität 1848/49, in: BZG 36 (1994), 2, 20-36, hier: 29.] Was aber die Liedersänger erreichen wollten, bleibt in den meisten Liedern unbestimmt. Neben dem hehren Eintreten für Freiheit und Recht stand die Republik bei vielen auf dem Panier". Manchmal scheint die Jagd auf das Kronengethier"
[Fn-285: Kölner der Saure, Hallo! zum wilden Jagen, in: Deutsche Lieder, 1849, Nr. 75, 114-116.]
bereits Ziel und Zweck des Liedes zu sein; die Abschaffung der Krone wird zum Garanten einer glücklicheren Zukunft so wie in einer Ballade Uhlands, in der eine ländliche Idylle beschrieben wird und dann der Blick auf die in einem Teich versunkene Krone mit den Worten gelenkt wird: Sie liegt seit grauen Jahren, / Und niemand sucht nach ihr."
[Fn-286: Ludwig Uhland, Die versunkene Krone, in Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 55, 92/3.]
[Seite der Druckausg.: 89] tere Vorstellungen kommen nur in oft erst nach dem Scheitern der Revolution gedichteten Visionen eines zukünftigen Staates zur Sprache. Dieser Staat sollte entsprechend den Vorstellungen, die vornehmlich von der liberal-demokratischen Bürgerbewegung artikuliert wurden, von der Freiheit des Einzelnen geprägt sein. [Fn-287: Vgl. Jürgen Kocka , 1998, 24-26.] So malt sich ein fröhlicher Zecher im Kreis seiner Freunde aus, wie die Welt aussehen könnte, wenn ich sollte tragen der Herrschaft Last", und erzählt: Die Presse zuerst und die Wahlen frei,
Mit der Forderung nach Pressefreiheit und allgemeinem Wahlrecht, Selbstverwaltung und Wirtschaftsliberalismus sind einige der wichtigsten Ansprüche der Liberalen genannt. Der Dichter ironisiert den Enthusiasmus des vom Wein beseelten Träumers jedoch sehr offen, indem er zeigt, dass der mutige" Freiheitskämpfer bereits vor der Hausmacht seiner eigenen Ehefrau kapituliert. So endet der Traum von der Freiheit hier auf privater Ebene ähnlich beschämend, wie er in der Sicht vieler Zeitgenossen auf politischer Ebene scheiterte und in der Person des verschlafenen Michel karikiert wurde.
[Fn-289: Karl Riha , Der deutsche Michel. Zur Ausprägung einer nationalen Allegorie im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Link / Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, 146-171, hier: 147.]
Mein Weib wird mich schelten, mein Herrschen ist aus,
[Seite der Druckausg.: 90] Auch der demokratisch gesinnte Literat Robert Prutz vermag 1849 seine Wunschvorstellung eines Staates nur noch in einem Lügenmärchen" zu verbreiten. Dort heißt es: Jüngst stieg ich einen Berg hinan,
Und nichts von Denunziren.
[Seite der Druckausg.: 91] Sah Poesie und Wissenschaft
Hier sind noch einmal die Hauptforderungen, die sowohl von der liberal-demokratischen Bürgerbewegung als auch von der Arbeiterverbrüderung erhoben wurden, zusammengefaßt. Dieser erträumte Staat ist noch Utopie, aber die Vision erscheint dem lyrischen Ich schließlich doch so überzeugend, dass es ihn Wunder nimmt", dass dies gelogen" sein sollte. So bleibt eine kleine Hoffnung auf die Zukunft. Auf der metaphorischen Ebene finden sich viele der dargestellten Elemente wieder. Mit Vorliebe greifen die Sänger und Dichter von 1848 auf Naturme- [Seite der Druckausg.: 92] taphern zurück. Historische Figuren werden dagegen selten zum Vergleich herangezogen. Das Symbol der roten Fahne wird noch kaum benutzt. Die Gegenüberstellung des Frühlings der Freiheit" und des Winters der Tyrannei" bietet sich aus verschiedenen Gründen an. Zum einen gibt es eine realhistorische Verbindung von Freiheit und Frühling, da die Freiheitsbestrebungen im Frühling 1848 artikuliert und in die Tat umgesetzt wurden. Es besteht also eine sogenannte metonymische Relation, die nach Ute Gerhard und Jürgen Link Voraussetzung für die stabile[] Festlegung" eines Symbols ist.
[Fn-292: Ute Gerhard / Jürgen Link , Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen, in: Jürgen Link / Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, 16-42, hier: 31.]
[Seite der Druckausg.: 93] Wärme und Kälte stehen natürlich auch für menschliche Wärme auf der einen und Frostigkeit" bzw. Hartherzigkeit auf der anderen Seite. Auf den vorhergehenden Seiten wurde bereits beschrieben, wie diese menschlichen Eigenschaften im Kampf für die Freiheit instrumentalisiert wurden. Sonne und Licht im Gegensatz zu Nacht und Dunkelheit verweisen zum einen auf die religiöse Dimension, wie sie besonders im Streit um die göttliche Legitimation des Herrschers zum Tragen kam. Darum werden dem Herrscher auch gerne Tiere wie Molch, Otter, Krokodil und Schlange zugeordnet [Fn-295: August von Platen-Hallermünde, Klagelied der Verbannten, in: Republikanische Lieder, 1851 a, Nr. 43, 73-75; H.J. Frauenstein, Neujahrsgedanken, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 115, 182-185 und August von Platen-Hallermünde, Unterirdischer Chor, in: Republikanische Lieder, 1851 b, Nr. 126, 204-207.] , die in allegorischen Darstellungen als Geschöpfe der Hölle gelten. Licht ist aber seit der Aufklärung auch das Symbol des Geistes und der Vernunft, der in den Liedern von 1848 viel beschworenen Wahrheit.
2.1.2 Brecht das Doppeljoch entzwei!" - Die Sozialdemokratie zwischen Kampf und Gesetz
Der Begriff des Bruderbundes" steht auch in den zwischen 1863 und 1875 verfassten Gedichten und Liedern der Sozialdemokratie an zentraler Stelle. Der Charakter dieser Bruderliebe hat sich jedoch über die Jahre verändert. In den Liedern der sechziger und siebziger Jahre wird die Brüderlichkeit nicht mehr aus der in trauter Runde gelebten frohen Geselligkeit hergeleitet, sie hat viel von ihrer menschheitsverbindenden Anlage verloren, die 1848 noch in Grundzügen zu finden war. Die Gemeinschaft der sozialdemokratischen Brüder" schließt nicht mehr nur jene aus, die sich voll Dünkel abheben wollen, sondern sie umfasst nunmehr nur noch jene, die sich ihr aus Überzeugung anschließen und dies mit einem Schwur bekräftigen. Dieser Gedanke ist besonders in den Liedern des ADAV präsent, in denen im Geist des großen Gründers [Lassalle]" der bereits erwähnte Ronsdorfer Schwur immer wieder aktualisiert werden konnte.
[Fn-296: Prolog zur Stiftungsfeier des ADAV in Wüste-Waltersdorf, in: SD 30.6.1865, Nr. 78.]
[Seite der Druckausg.: 94] Strophe bzw. im Refrain voller Kampfes- und Siegesgewißheit zu einem kollektiven Wir" zu wechseln. Beispielhaft läßt sich dies in folgender Strophe nachvollziehen: Lassalle will's! Ihr habt geschworen! / Gesetzlich zwar, - doch fest zu stehn, / Drum Vorwärts, zu der Freiheit Thoren, / Sie öffnen, oder untergehn! / Und mag die Welt auch um Euch keifen, / Laßt schrei'n die Erstgeburt, das Geld, / Sind einig wir, soll'n sie begreifen, / Daß wir die Könige der Welt."
[Fn-297: Goßmann, Das preußische Siegesfest als Mahnruf an die Arbeiter, in: SD 5.10.1866, Nr. 156.]
Sucht man nach inhaltlichen Bestimmungen dieses Bruderbundes, so finden sich vor allem fünf Begriffe: Arbeiter, Arme, Proletar / Proletariat, vierter Stand und Volk.
[Fn-299: In den Gedichten und Liedern der Bebel-Liebknecht-Richtung wird der Begriff „Proletar" allerdings selten, die Bezeichnung „vierter Stand" dagegen nie gebraucht, vgl. dazu auch Axel Körner , 1997, 191/2.]
Es tönt durch alle deutschen Gau'n
oder : [Seite der Druckausg.: 95] Zur Klasse, die den Fluch der Armuth trägt,
Im Vergleich mit den Liedern von 1848 ergeben sich vor allem zwei Schlussfolgerungen: Zum einen ist auffällig, dass die Selbstbezeichnung als Arbeiter" sich weitgehend durchgesetzt hat, obwohl die Mitgliedschaft der Sozialdemokratie sich auch in den sechziger und siebziger Jahren noch hauptsächlich aus qualifizierten Handwerkern zusammensetzte.
[Fn-302: Thomas Welskopp , 2000, 69.]
[Seite der Druckausg.: 96] Sozialisten oder Sozialdemokraten nur äußerst selten wie etwa in dem folgenden Lied: Socialisten aller Landen, / O, reichet Euch die Bruderhand; [...] Drum auf Ihr Social-Demokraten, / Bringt Lassalle's Lehr' ein dreifach Hoch." [Fn-305: C. Ehmann, Verbrüderungslied, in: NSD 11.8.1871, Nr. 18.] Die Verwendung dieses Begriffes läßt sich hier sehr einfach erklären: Im Angesicht der blutigen Niederschlagung der Kommune kam es darauf an, die Solidarität mit den französischen Arbeitern zu beteuern; es ging also nicht um die politische Selbstverortung innerhalb des eigenen Volkes. Die nähere Definition der Begriffe Arbeiter", Proletar", vierter Stand" und Volk" zeigt, wie die Gleichsetzung von Volk" und Arbeiter" begründet wurde. Die Arbeit ist's, die diesem Bunde / Verleiht sonst nie geahnte Kraft, / Sie, die auf unserem Erdenrunde / Allein nur alle Werthe schafft." So heißt es 1873 in einem im Volksstaat abgedruckten Lied.
[Fn-306: G..., Lied der Internationalen, in: VS 9.7.1873, Nr. 56.]
1848 wurde die Arbeit in den Liedern zwar auch bereits positiv bewertet, der daraus abgeleitete Anspruch auf den vollberechtigten Bürger-Status wurde jedoch nur in einem einzigen Lied tatsächlich formuliert. Das Motiv der Arbeit als Produzentin aller Werte durchzieht dagegen einen Großteil der späteren sozialdemokratischen Lieder. Die Tätigkeit für das Gemeinwohl rechtfertigt so den Anspruch auf politische Mitwirkung. Neben dieser positiven Bewertung der Arbeit an sich steht die Darstellung der Arbeiter in ihrer Abhängigkeit. Sie werden als die Unterdrückten, die Sklaven und Knechte geschildert, die im Joch oder in den Fesseln der Arbeit gefangen sind. Damit wird auf ein auch in anderen westeuropäischen Ländern verbreitetes republikanisches Vokabular zurückgegriffen. Ihre Lebensverhältnisse widersprechen - so heißt es in den Liedern - damit ihrer ursprünglichen Bestimmung, frei zu sein; man hat sie ihres ureigenen Rechtes enterbt.
[Fn-307: Zum neuen Jahre, in: SD 10.1.1868, Nr. 5; Volksgesang, in: SD 12.7.1867, Nr. 81; G.D., Für Deutschland herbei!, in: SD 4.4.1866, Nr. 77; G. Kießling, Zur Todesfeier Lassalle's, in: NSD 13.9.1872, Nr. 106.]
[Seite der Druckausg.: 97] ben / Hat des Reichen Kisten angefüllt."
[Fn-309: Zum neuen Jahre, in: SD 10.1.1868, Nr. 5; ähnlich z.B. Volksgesang, in: SD 12.7.1867, Nr. 81.]
So ergibt sich als Hauptfeind" der Enterbten"
[Fn-310: G. Kießling, Zur Todesfeier Lassalle's, in: NSD 13.9.1872, Nr. 106.]
nicht mehr der Tyrann", sondern die Bourgeoisie". Ihr werden die Eigenschaften zugeschrieben, die ehemals als Kennzeichen des Fürsten galten. Sie erscheint als betrügerisch und dekadent, sie schindet das Volk der Arbeit" bis auf's Blut".
[Fn-311: Reinhardt, Strike-Lied, in: VS 30.4.1870, Nr. 35; ähnlich auch z.B. G.D., Für Deutschland herbei!, in: SD 4.4.1866, Nr. 77 und J.B.v.H., Bonn, in: SD 12.8.1865, Nr. 115.]
[Seite der Druckausg.: 98] diesen Jahren Napoleon III. [Fn-317: Vgl. z.B. G. Struve, Frankreichs Erlkönig, in: VS 7.9.1870, Nr. 72; Fr. Stoltze, Wilhelmshöhe, in: VS 8.10.1870, Nr. 81.] Wie schon 1848 tritt das Pfaffentum" als Helfershelfer der Fürsten auf; es wird geradezu zum geflügelten Wort für Ausbeutung, Wohlleben und Heuchelei. [Fn-318: Vgl. z.B. Freiheitslied, in: VS 26.11.1870, Nr. 95.] Adel" und Junkertum" werden hingegen nur selten an den Pranger gestellt. [Fn-319: G.D., Für Deutschland herbei!, in: SD 4.4.1866, Nr. 77; W. Hasenclever, Unterschied, in: SD 22.4.1866, Nr. 85; G.A. Köttgen, Morgengruß, in: SD 19.12.1866, Nr. 188.] Im Vergleich zu 1848, wo die Gesellschaft in den Liedern entweder aus sozialer oder aus politischer Sicht beschrieben wurde, ergibt sich in den Liedern der sechziger und siebziger Jahre ein anderes Bild: Das Soziale wird immer mehr zum Politischen, und so überlagern sich beide Bereiche zunehmend. Nur in der Extremsituation des Krieges tritt die ausschließlich politische Perspektive kurzzeitig wieder hervor. Die Tradition der Weberlieder wird auch in den sechziger und siebziger Jahren fortgeführt.
[Fn-320: H. Koller, Die schlesischen Weber, in: SD 19.3.1865, Nr. 36; A. Blaser, Gedanken eines schlesischen Lohnwebers in den Tagen seines Alters, in: SD 5.5.1865, Nr. 56; L. Petersen, An unsere Brüder, die schlesischen Weber, in: SD 7.4.1867, Nr. 43; vgl. dazu auch: Reinhard Dithmar , Arbeiterlieder. 1844 bis 1945, Neuwied u.a. 1993, 213-217.]
[Seite der Druckausg.: 99] Arbeiter hin zur Anklage der Kinder-Fabrikarbeit verschoben hat. [Fn-321: Vgl. z.B. J.H. Vogl, Kinderleben, in: NSD 20.10.1871, Nr. 48 und Pützmann, Fabrikskind, in: NSD 19.8.1874, Nr. 95.] Dies könnte vor dem Hintergrund, dass die Kinderarbeit bis zur Mitte der siebziger Jahre drastisch zurückgegangen ist [Fn-322: Vgl. Jürgen Kocka , 1990, 470.] , erstaunen. Vermutlich erschien die noch verbleibende Beschäftigung von Kindern in den Fabriken aber gerade in dem Augenblick, als die gesetzlichen Bestimmungen zu ihrer Beschränkung zu greifen beginnen und sie demzufolge immer mehr zu einer Ausnahmeerscheinung wird, umso skandalöser. Mit den Balladen über die Fabrikskinder betritt die Maschine die Bühne des Geschehens. Ihre Welt wird gleich einem die Sinne betäubenden Inferno von geradezu mythischer Dimension beschrieben: Räder brausen, Spindeln sausen, / Schrauben knarren, Schaufeln scharren"; Die Spindeln schwirren, sausen, / Des Dampfes Mächte brausen"; Die Walzen rollen, die Räder rasseln, / Welch' dumpf Getös'! hochlodernd prasseln / Die wilden Flammen - knirschend reiben / Sich hundert Schrauben, und zischend treiben / Im Schlot die Dämpfe." [Fn-323: J.H. Vogl, Kinderleben, in: NSD 20.10.1871, Nr. 48; F. Teich, Die Maschinenspinnerin, in: NSD 5.7.1872, Nr. 76; Pützmann, Fabrikskind, in: NSD 19.8.1874, Nr. 95.] Diese Welt führt ein gefährliches Eigenleben, sie zwingt den Menschen, eine lebende Maschine bis in seinen Tod zu sein." [Fn-324: J.H. Vogl, Kinderleben, in: NSD 20.10.1871, Nr. 48.] Jede Menschlichkeit - meist symbolisiert durch den Traum von Natur und Liebe - muss in den Tod führen, da sie dem Gesetz der Maschine nicht gehorcht. Interessanterweise trifft man in dieser Kulisse nie auf einen erwachsenen männlichen Arbeiter. Diese Beobachtung entspricht der Einschätzung Bogdals, dass in diesen Liedern und Gedichten bewusst die Nichtigkeit des proletarischen Alltags" negiert werde, um die Arbeiter umso besser als kollektive[n] Heros" der Geschichte darstellen zu können. [Fn-325: Klaus-Michael Bogdal , 1996, 152.] Die Fabrik als Zeichen des technischen Fortschritts, als mögliche Lebens-Welt, in deren Rahmen man sich organisieren und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen kann, fehlt konsequenterweise fast völlig. Ein lustiges Cigarrenlied" aus Berlin scheint hier einen ersten Ansatz zu wagen: Als Sclaven woll'n den Dreher wie
[Seite der Druckausg.: 100] Ihr glaubt, daß Ihr mit Lug und List
In merkwürdigem Kontrast zu dieser überwiegenden Maschinenfeindlichkeit steht der unerschütterliche Glaube an Fortschritt und Zukunft durch Wissenschaft und Bildung. Voller Siegesgewißheit wird verkündet, dass dem Menschen alle Mittel zur Verfügung ständen, der Schöpfung Meister zu werden", dass der Fortschritt unaufhaltsam wie ein festes Gesetz des Weltenraumes" sei und dass des Menschen wundervoller Geist" immer voranschreite und sich neue Welten erschließe. [Fn-327: W.H., Das goldene Kalb, in: NSD 30.9.1874, Nr. 113; Der Fortschritt, in: NSD 17.2.1875, Nr. 21; G. Weerth, Die Industrie, in: NSD 7.4.1875, Nr. 41.] Offensichtlich war dieser aus der Tradition der Aufklärung sich herleitende Fortschrittsglaube hier nicht verbunden mit der Idee, er könne durch technische oder organisatorische Neuerungen den Fabrikalltag menschlich gestalten. Der Fortschrittsgedanke konnte seine positive Kraft im Rahmen dieser Gedichte augenscheinlich gerade dadurch bewahren, dass der Fabrik- und Maschinenalltag nicht als Signum des Fortschritts gekennzeichnet, sondern vielmehr mit den alten" Bildern der Hölle verknüpft und zum Schreckensbild" schlechthin wurde. [Fn-328: Thomas Welskopp , 2000, 81.] Neu ist im Vergleich zu 1848, dass die Sozialdemokraten der sechziger und siebziger Jahre ihre Lieder auch zur parteipolitischen Auseinandersetzung benutzten. Besonders im Neuen Social-Demokrat erscheinen Gedichte, die sich gegen die sozialdemokratische Schwesterpartei, die sogenannten Eisenacher Ehrlichen" [Fn-329: E. Klingenberg, An die Eisenacher „Ehrlichen", in: NSD 5.9.1873, Nr. 102.] , wenden und deren Parteiorgan, den Volksstaat, zu diskreditieren suchen. In einem Avis für den Volksstaat heißt es so beispielsweise: Werft mir in die heiße Pfütze / Ein paar faule Volksstaat-Witze; / Bringt mir für den Blauen Dunst / Eine Unze Volksstaat-Gunst. / Und daß der Gestank nicht fehle, / Eine Denunciantenseele." [Fn-330: K. Frohme, Avis für den „Volksstaat", in: NSD 14.5.1873, Nr. 56; auch: SD 22.9.1869, Nr. 111.] Die weitaus meisten Gedichte dieser Art richten sich jedoch gegen die Fortschrittspartei und ihren Hauptexponenten Hermann Schulze-Delitzsch. Die Konzepte der Fortschrittler" werden im allgemeinen mit den Begriffen Konsumverein" und Sparverein" umrissen und mit dem Ziel ironisiert, ihre Verlogenheit" [Seite der Druckausg.: 101] zu entlarven. So heißt es in dem bereits erwähnten, weit verbreiteten Lied Sand in die Augen": Zu unserem Wohl, zu unserem Nutz und Frommen
Den mit den Mitteln der Ironie und Satire lächerlich gemachten Vorstellungen des politischen Hauptgegners, der Fortschrittspartei, werden in anderen Gedichten und Liedern die eigenen Forderungen gegenübergestellt. Diese sind zum Teil sehr konkret wie etwa der Ruf nach Lohnerhöhung [Fn-332: Fabrikantenspiegel, in: VS 16.4.1870, Nr. 31.] , nach einem Feiertag [Fn-333: Reinhardt, Strike-Lied, in: VS 30.4.1870, Nr. 35.] , nach freier Presse und Abschaffung des stehenden Heeres [Fn-334: Th.Fr.Pr./G.B.-L., Wählerlied, in: VS 25.2.1871, Nr. 17.] oder die Ablehnung von Polizeiwillkür, Wohnungsnot und Steuerlast [Fn-335: Der sächsische Landtag, in: VS 17.9.1873, Nr. 86.] . Solche Forderungen treten jedoch außerordentlich selten auf. Wesentlich häufiger findet sich der Ruf nach einer Zukunft, die durch gleiches Recht, freies Menschentum und Frieden bestimmt sein soll. [Fn-336: Ein Lied vom Hochverrathsprozeß, in: VS 25.5.1872, Nr. 42; Freiheitslied, in: VS 26.11.1870, Nr. 95; Fr.W.Gr..., Gruß zum Neuen Jahr, in: VS 10.1.1872, Nr. 3.] Ein Großteil aller dichterischen Äußerungen gipfelt in einer vagen Zukunftsvision, in der die Begriffe Freiheit, Gleichheit und (Menschen-)Recht ähnlich einer Beschwörungsformel immer wieder auftauchen. So heißt es in einem Gedicht mit dem Titel Aufforderung zum Klassenkampf": Seht frei im Winde flattert unser Banner, / Fort soll der Fluch, fort sollen Noth und Jammer, / Denn unser Ziel ist: Freiheit, Gleichheit, Recht." [Fn-337: G.H. Schnaue, Aufmunterung zum Klassenkampf, in: SD 1870, Nr. 1.7.75; dieses sei beispielhaft für eine Vielzahl anderer genannt.] Oft tritt an die Stelle des Rechtes auch die Bruderliebe, und der Appell ertönt: Für Freiheit, nicht für Massenmord, / Für Gleichheit, nimmer Tyrannei, / Für Bruderlieb', nie Sclaverei!" [Fn-338: A. Leißring, Das größte, wahre Wort!, in: NSD 17.10.1873, Nr. 120.] Diese Werte werden so gut wie nie näher expliziert; sie ähneln mehr einem Schlachtruf, der begeistern und Mut machen soll. [Seite der Druckausg.: 102] Über den Weg in die Zukunft herrscht keineswegs Einigkeit. Die Einheit als alles überwindende Kraft wird allerdings immer wieder beschworen, manchmal gewinnt man geradezu den Eindruck, als sei dies der magische Schlüssel zum Sieg der Arbeiter, denn: gegen Euch führt Ihr den Krieg, / wenn Einigkeit gebricht: / D'rum handelt einig, brüderlich, / Bis Ihr am Ziele steht; / Nicht schmieden läßt in Fesseln sich / Der Einheit Majestät!"
[Fn-339: G.D., Für Deutschland herbei!, in: SD 4.4.1866, Nr. 77; auch: Gedicht, in: SD 5.4.1865, Nr. 43; Prolog Prolog zur Stiftungsfeier des ADAV in Wüste-Waltersdorf, in: SD 30.6.1865, Nr. 78; F. Polling, Allarmsignal, in: SD 27.1.1867, Nr. 12, Beilage; Volksgesang, in: SD 12.7.1867, Nr. 81; Zum neuen Jahre, in: SD 10.1.1868, Nr. 5; W. Hasenclever, Neujahrsgruß, in: SD 3.1.1869, Nr. 2; An J.F. Richter, Chefredakteur der Hamburger „Reform", in: SD 29.9.1869, Nr. 114; W. Hasenclever, Unsere Sache ist die Sache der Menschheit, in: SD 31.8.1870, Nr. 101.]
Mög' nun die Zeit die schroffen Herzen lindern,
[Seite der Druckausg.: 103] Der Kampf für Freiheit, Gleichheit und Recht wird oft in Metaphern des Feuers und Gewitters umschrieben, so dass manches Mal unklar bleibt, ob es sich um einen Kampf mit den Waffen des Geistes oder mit den tödlichen Waffen des Krieges handeln soll, besonders da auch hier oft der Hinweis auf den Verstand nicht fehlt. Die Steigerung ins Mythische bzw. Apokalyptische - wie im folgenden Zitat - ist jedoch selten: Gar herrlich wohl der Funken glüht,
Ab 1871 werden die Bilder durch die Anknüpfung an den Kampf der Kommune eindeutiger; sie gilt als die erste Schlacht im großen Krieg"
[Fn-344: Befreiungs-Lied, in: VS 22.7.1871, Nr. 59.]
, das Fanal für die wahre Völkerschlacht", geführt von den Manen der Helden."
[Fn-345: E.K., In Memoriam, in: VS 12.6.1872, Nr. 47; ähnlich: An Euch, Pariser Brüder!, in: VS 14.6.1871, Nr. 48; A. Seib, 1871, in: VS 17.6.1871, Nr. 49; Befreiungs-Lied, in: VS 22.7.1871, Nr. 59, G..., Zur Erinnerung an die Pariser Commune, in: VS 12.4.1873, Nr. 30.]
[Seite der Druckausg.: 104] stets Aufrufe zum reinen Geisteskampf. Dennoch wird die Möglichkeit eines tatsächlichen Kampfes immer wieder ins Auge gefasst. Die starke Stilisierung dieses Kampfes (nach antikem Vorbild, nach dem Vorbild der Kommune, in Naturmetaphern) lässt jedoch Zweifel aufkommen, ob die beabsichtigte ästhetische Wirkung nicht mehr einer pseudo-revolutionären Emphase als einem radikalen Kampfeswillen entspricht. [Fn-348: Zu einem ähnlichen Schluss gelangt Axel Körner , 1997, 216-219. Zweifelhaft erscheint jedoch sein Argument, dass es sich allenfalls um „revolutionäre Programmatik, kaum aber [um] revolutionäre Erfahrung" gehandelt haben könne (217), da es wenig „personelle[] Kontinuitäten" gegeben habe (227). Nicht nur der von Körner genannte Georg Herwegh beteiligte sich an der Revolution von 1848. Eine ganze Reihe derjenigen, die in den sechziger und siebziger Jahren sozialdemokratische Führungspositionen einnahmen, waren 1848 als Arbeiterführer oder radikale Demokraten in Erscheinung getreten, vgl. Werner Conze / Dieter Groh, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung, Stuttgart 1966, 41. Zu nennen wären u.a. Ferdinand Lassalle, Carl Wilhelm Tölcke, Bernhard Becker, Wilhelm Liebknecht, Johann Philipp Becker, Hugo Hillmann und Friedrich Wilhelm Fritzsche; einige betätigten sich auch als Gelegenheitsdichter.] In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Rolle die tatsächliche Revolution von 1848 in den Liedern und Gedichten der Sozialdemokraten spielte. Die Durchsicht der Zeitungen ergibt, dass in den siebziger Jahren vor allem um den 18. März Gedichte und Lieder abgedruckt wurden, die auf die Ereignisse von 1848 Bezug nahmen. [Fn-349: Im SD und NSD, den Zeitungen des ADAV, finden sich diese „März"-Gedichte jedoch äußerst selten. Möglicherweise trat hier der Lassalle-Kult an die Stelle der historischen Tradition.] So heißt es in einem Herwegh-Gedicht 1873: Noch sind nicht alle Märzen vorbei." [Fn-350: G. Herwegh, Achtzehnter März, in: 26.3.VS 1873, Nr. 25.] Ein anderes Gedicht läßt Robert Blum, aus dem Grab entstiegen, in einer nächtlichen Heerschau" den Verrat so vieler Freiheitsfreunde" exemplarisch in der Gestalt seines eigenen Sohnes Hans Blum entdecken. [Fn-351: Die nächtliche Heerschau, in: VS 4.11.1874, Nr. 129.] Am interessantesten ist vielleicht ein dichterischer Nachruf" auf einen gefallenen Kämpfer von 1848/49, der von seinen Freunden 25 Jahre nach dessen Tod verfasst wurde. In diesem Gedicht wird eine Erfolgsgeschichte" der Sozialdemokratie von den Kämpfen im Jahre 1848 bis zur Gegenwart der Dichter konstruiert: Du Held der Freiheit, Deines Lebens würdig,
[Seite der Druckausg.: 105] Doch was prophetisch Du dereinst gesungen,
Auch wenn man nicht vergessen darf, dass es nur vergleichsweise wenige Gedichte dieser Art gibt, so scheint sich in diesen Gedichten doch ein gewisses Bedürfnis auszudrücken, sich innerhalb einer Traditionslinie zu sehen, die vom Jahr 1848 bis zum Kampf der Sozialdemokraten gegen die zunehmenden Repressionen der siebziger Jahre reicht. Der Bezug zu 1848 erscheint als eine Art Verpflichtung gegenüber den Toten, den einmal begonnenen Kampf zu einem Ende zu führen, bzw. als Maßstab, an dem man die Lebenden messen muss. Ab 1871 taucht auch die Französische Revolution im Zusammenhang mit der Kommune auf, die als deren gescheiterte Fortsetzung begriffen wird: Und 89 wird ein Traum. / Ein Traum? - Du sahst, wie Frankreich fiel / Durch einen Cäsar, sahst die Sühne / Vollzogen auf der Schreckensbühne. - / Deutschland, gedeihe, wachse, grüne, / Geläutert durch dies Trauerspiel!" [Fn-353: G. Herwegh, Epilog zum Kriege, in: VS 30.6.1875, Nr. 73.] Diese Revolution ist den Volksstaat-Lesern aber offensichtlich so wenig präsent, dass die Herausgeber es für notwendig hielten, 89" mit einem Sternchen zu versehen und zu erklären: Die Französische Revolution, die 1789 begann." Man kann darum mit Recht annehmen, dass die Französische Revolution keinen Bezugspunkt darstellte, dass aber auch die deutsche Erhebung von 1848 nur eingeschränkt als emotional verpflichtende Tradition gesehen wurde, da sie einerseits vergleichsweise selten genannt und andererseits kaum je ins Heldenhafte stilisiert wird. Neben dieser historischen Tradition ist Ferdinand Lassalle als Identifikationsfigur zu nennen. Dies gilt - wie bereits dargelegt wurde - im besonderen für die Mitglieder des ADAV, in deren Gedichten und Liedern er bis etwa 1874 unangefochtenes und omnipräsentes Leitbild ist. Einen vergleichbaren Personenkult findet man trotz der Heckerlieder" und den Gedichten und Liedern auf den Ende 1848 in der Brigittenau bei Wien hingerichteten Robert Blum für 1848/49 nicht. Lassalle wird dagegen durchgehend als der große Führer oder Vater" [Fn-354: G. Herwegh, Am Grabe Ferdinand Lassalle's, in: NSD 8.9.1876, Nr. 104.] des Volkes dargestellt, der das Volk mit dem Schwert des Geistes", mit seiner geradezu übermenschlichen geistigen Kraft, aus dem Schlaf der Unwissenheit" geweckt hat: [Seite der Druckausg.: 106] Uns stirbt er nie, der mächtige Titan,
Sein Tod wird als Verpflichtung zum Kampf begriffen, da er für die heilige Sache gestorben sei (wobei mit keinem Wort erwähnt wird, dass er eigentlich in einem Duell um eine Frau, Helene von Dönniges, getötet wurde).
[Fn-356: G. Kießling, Zur Todesfeier Lassalle's, in: NSD 13.9.1872, Nr. 106; G. Herwegh, Am Grabe Ferdinand Lassalle's, in: NSD 8.9.1876, Nr. 104. Vgl. zur Biographie Lassalles: Shlomo Na'aman , Lassalle, Hannover 1970.]
[Seite der Druckausg.: 107] beiterheiland" und Arbeiterbibel" [Fn-360: Prolog zur Stiftungsfeier des ADAV in Wüste-Waltersdorf, in: SD 30.6.1865, Nr. 78; O. Hippe, Wir Arbeiter aber, wir siegen doch, in: SD 7.9.1865, Nr. 137.] ), so wird er später immer öfter als Meister, Retter und Heiland apostrophiert, dessen Jünger die Arbeiter sind, ohne dass die Metapher als solche kenntlich gemacht wird. So heißt es z.B. in einem zum Stiftungsfest 1867 gedichteten Lied: Haltet fest am Bunde! / Sterbend rief's Lassall'. / Wort von Meisters Munde / Sei kein leerer Schall!" [Fn-361: Lied zum Stiftungsfest, in: SD 10.5.1867, Nr. 56.] An dem letzten Zitat wird deutlich, dass die Christusparallele z.T. über die bloße Benennung hinausgeht; der Missionsbefehl Christi an seine Jünger wird ebenso nachgeahmt wie das Motiv des neuen Bundes in Jesus (hier natürlich in Lassalle: Mit Kraft wird dann der Bund erneut / In Ewigkeit!" [Fn-362: Lassalia's Weckruf, in: NSD 30.4.1873, Nr. 50; vgl auch: E. Schatzmeyer, Pfingsten, in: NSD 19.5.1872, Nr. 58.] ), das Jesus-Gleichnis des Sämanns (Ist auch der Säemann gefallen, / In guten Boden fiel die Saat" [Fn-363: J. Audorf, Lied der deutschen Arbeiter, in: NSD 8.5.1874, Nr. 53.] ) oder die Nacherzählung der Biographie Lassalles nach dem Modell des Lebens Jesu [Fn-364: Zu Lassalle's Todesfeier, in: NSD 31.8.1873, Nr. 100.] . Dass die Verehrung Lassalles teilweise Züge eines Glaubens angenommen hat, macht noch einmal die Einsendung eines Arbeiters deutlich, der als Kommentar zu seinem Gedicht schreibt, dass er seit dem Tod Lassalles an die geistige Auferstehung glaube, und dann sein Gedicht mit den Worten beginnt: Lassalle schallt's, als ob es Engel riefen, / Lassalle tönt es hoffend hier wie dort, / Lassalle klingt es aus der Seele Tiefen, / Lassalle hallt's in fernsten Landen fort. (Hervorhebung d.V.)" [Fn-365: Gedicht auf Lassalle, in: NSD 20.8.1871, Nr. 22.] Die allermeisten Gedichte vollziehen diesen Schritt zum Lassalle-Kult im eigentlichen Sinn des Wortes jedoch nicht. [Fn-366: Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 1.2.3.] In stilistischer Hinsicht folgt die Mehrzahl der Lieder, besonders aber die Lieder des ADAV, einem Liedaufbau, den Karbusicky als die mythologische Methode" bezeichnet hat. [Fn-367: Vladimir Karbusicky, 1973, 45-68.] Diese Lieder bedienen sich eines Vier-Akte-Schemas, das eine ideologische Antwort auf die vier elementaren Existenzfragen (Wo bin ich? Was bin ich? Was treibt mich? Wohin gehe ich?) bietet. So wird im ersten Teil die Realität auf die suggerierte Kampfsituation reduziert; die Masse, das Wir (die Brüder"), der Führer (Lassalle) und die Zeichen der Bewegung (das Geistesschwert") stehen im Vordergrund. Im zweiten Akt wird die Not und Schwäche des Wir" demonstriert (Arbeiter als Sklaven und Knechte"), um zu Einheit und Treue zu mahnen. Der dritte Abschnitt beschreibt den Feind (die Bourgeoisie"), der sich im Widerspruch zu [Seite der Druckausg.: 108] den postulierten ethischen Tugenden (Freiheit", Gleichheit", Bruderliebe" und Wahrheit") befindet. Der vierte Teil - oft auch in Form eines Refrains - ruft zum Kampf auf, malt eine paradiesähnliche Zukunft an den Horizont (die Zukunftsvision absoluter Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit) und huldigt dem messianischen Retter Lassalle. Wenn auch in den hier untersuchten Gedichten und Liedern die Kategorie des Feindes, die Karbusicky in dieser Konstruktion für entscheidend hält, nicht so stark ausgeprägt ist, so folgen diese Lieder doch im großen und ganzen der mythologischen Methode. Die vergleichsweise schwache Ausmalung des Feindes wurde eventuell durch die stärkere Betonung des Führers bzw. Retters, nämlich Lassalles, ausgeglichen. Nach Ansicht Karbusickys stellt die mythologische Methode ein dämonologische[s] Substrat alter Mythologien [dar] [...], das den Menschen unbemerkt mit Hilfe vertrauter religiöser Denkmodelle gerade zur Umkehrung der christlichen Ethik führt. [...] Die Ritualakte, die Tabus, der Fetischismus, die Beschwörungsformeln, die Aktualisierung der charismatischen Betrachtung der Parteiführer und andere mythologische Prinzipien sind gesetzmäßige Existenzformen der modernen Ideologien." [Fn-368: Vladimir Karbusicky, 1973, 46/47.] Eine ähnliche Struktur läßt sich in den Gedichten und Liedern von 1848 nur ansatzweise finden. Hier fehlt vor allem die starke Betonung des Wir" in Verbindung mit der Kampfsituation. Allerdings vermitteln die politischen Lieder von 1848 stärker als die späteren sozialdemokratischen Lieder den Eindruck, als wohne man dem entscheidenden Kampf zwischen Gut und Böse bei. Dies läßt sich vermutlich dadurch erklären, dass in den demokratisch-republikanischen Liedern zu einer völligen, möglicherweise auch gewaltsamen Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse mit dem Ziel der Errichtung einer Republik aufgerufen werden sollte, während die sozialdemokratischen Lieder und Gedichte sich trotz aller kämpferischen Metaphern zum gesetzlichen Kampf innerhalb des bestehenden Systems bekennen. Allerdings knüpft die sozialdemokratische Lyrik sprachlich und formal an die Lyrik des Vormärz und der Revolution von 1848 an bzw. ahmt diese weitgehend nach. Typisch ist vor allem die Abbildung der erwünschten revolutionären Veränderung auf Naturereignisse. Hier erfreuen sich besonders jene Naturbereiche besonderer Beliebtheit, die Gesetzmäßigkeiten und Unaufhaltsamkeit symbolisieren. [Fn-369: Vgl. Klaus-Michael Bogdal , 1996, 170.] Dazu gehören insbesondere der jahreszeitliche Wechsel vom Winter zum Frühling, der naturgeschichtlich das unausweichliche Ende der Reaktionszeit durch eine revolutionäre Umwälzung vorzeichnen soll, sowie der Rückgriff auf die Metaphern von Sturm" bzw. Gewitter" und Flut". Die sozialdemokratische Dichtung unterscheidet sich damit deutlich von der zeitgenössischen Literaturströmung des bürgerlichen Realismus, [Seite der Druckausg.: 109] dessen latente[s] Krisengefühl" sie nicht teilt. [Fn-370: Klaus-Michael Bogdal , 1996, 162.] In ihrer idealistischen Grundhaltung ähnelt sie dagegen stark der sogenannten epigonalen Literatur der Gründerzeit, zu der auch die hier untersuchte Lyrik aus der Vossischen und der Kreuz-Zeitung zu rechnen ist. Mit dieser Literaturströmung teilt sie vor allem das kriegerische Vokabular und die Sakralisierung der eigenen Bewegung" [Fn-371: Klaus-Michael Bogdal , 1996, 163.] . Auf diese Ähnlichkeit der literarischen Mittel weist Bogdal in seiner Studie über die Arbeiterliteratur des 19. Jahrhunderts vor allem anhand der Figur Ferdinand Freiligraths hin, der - so Bogdal - bei seinem Übergang von der sozialistischen Dichtung zur nationalistischen Epigonenlyrik [ ] seinen lyrischen Produktionsapparat unverändert lassen konnte und nur minimale semantische Verschiebungen vornehmen musste". [Fn-372: Klaus-Michael Bogdal , Zwischen Alltag und Utopie: Arbeiterliteratur als Diskurs des 19. Jahr hunderts, Opladen 1991, 130.] Bezieht man allerdings die literarische Wirkintention der Dichter in die stilistische Beurteilung ein, so ergibt sich ein entscheidender Unterschied, auf den Bernd Witte zu Recht hingewiesen hat: Im Gegensatz zur hohen und trivialen Literatur dieser Zeit, die sich vornehmlich der Darstellung des Subjektiven, der Empfindungen und Erlebnisse des Einzelnen widmet, gewinnt die frühe Arbeiterliteratur [ ] eine soziale Kommunikationsfunktion zurück, welche die hohe Literatur seit der Aufklärung immer mehr eingebüßt hatte." [Fn-373: Bernd Witte , 1977, 15.] Dieser Wunsch nach Kommunikation zwischen Dichter und Leser zeigt sich vor allem an der bereits dargestellten dichotomischen Anordnung des Wir" und Ihr", die den Zuhörer dazu zwingt, Stellung zu beziehen, d.h. sich dem kollektiven Wir" anzuschließen oder sich dieser Vereinnahmung zu verweigern. Darüber hinaus wenden sich viele sozialdemokratische Gedichte direkt an den oder die Zuhörer. Wie noch zu zeigen sein wird, sprechen die Dichter aus der Vossischen und aus der Kreuz-Zeitung selten direkt ihre Zuhörer an oder benutzen die Form des Wir". Statt dessen beschreiben sie häufig die Situation aus der Position des scheinbar neutralen Zuschauers bzw. schildern die Erlebnisse einer Einzelperson, eines Helden". So unterscheiden sich sozialdemokratische und bürgerliche" Gedichte trotz starker sprachlicher und formaler Affinitäten vorwiegend durch die kommunikative Ausrichtung der sozialdemokratischen Poeten, die sich auch aus der im ersten Kapitel darlegten Funktion der Gedichte und Lieder innerhalb der sozialdemokratischen Fest- und Versammlungskultur ergibt. [Seite der Druckausg.: 110]
2.1.3 Der König als Bewahrer des Rechtes und der Einheit - Konservative und liberale Gesellschaftsbilder
In den Gedichten und Liedern der so arg bekämpften Bourgeoisie" sucht man die Arbeiter vergebens. In der Sicht der liberalen und konservativen Dichter verschwinden die Arbeiter in der großen Einheit des Volkes. Selbst wenn einmal der Blick auf die einzelnen Glieder dieses Volkes gelenkt wird, fehlen sowohl Arbeiter als auch Handwerker. Statt dessen findet man Berufsbezeichnungen wie Landmann, Fischer, Gärtner, Kaufmann und Hirte, die größtenteils auf das Bild einer ländlichen Idylle verweisen. [Fn-374: Vgl. z.B. die Gedichte von H.K., Zum 22. März 1871, in: VZ 22.3.1871, Nr. 75, 4. Beilage und Eine Veteranentochter, Zum 17. März 1863, in: KrZ 28.5.1863, Nr. 121, Beilage.] Im allgemeinen tritt das Volk jedoch als homogenes Gefüge auf, das dem König oder Fürsten huldigt. Die Beziehung zwischen dem König und seinem Volk wird als eine sehr persönliche und gefühlsbetonte gestaltet. Selbstverständlich wird darum auch zu den Geburtstagen des Königs bzw. Kaisers Wilhelm und dessen Gemahlin Auguste Viktoria am 22. März bzw. am 30. September ein dichterischer Glückwunsch verfasst. Diese regelmäßig wiederkehrenden poetischen Huldigungen zeigen, wie man sich in den Kreisen konservativer und liberaler Bürger das Verhältnis von König und Volk vorstellt bzw. wünscht. In der konservativen Kreuz-Zeitung grüßen" 1866 die frohen Söhne froh den Vater" [Fn-375: An des Königs Majestät, in: KrZ 22.3.1866, Nr. 68.] , während ein Gratulant aus dem Bergischen" beim Anblick der preußischen Fahne die überschwenglichen Verse zu Papier bringt: O Banner, o wallender, streitbarer Aar,
Der König erscheint hier als Vater des (männlichen) Volkes, die Liebe zu ihm wird in Reimen besungen, die problemlos auch einer Frau von ihrem Geliebten zugeeignet worden sein könnten.
[Fn-377: Ute Frevert konstatiert ebenso, dass das Verhältnis von Männern zum Vaterland in der patrioti schen Lyrik von den Befreiungskriegen bis zum Jahr 1870/71 als „libidinöse[] Beziehung" darge stellt werde, vgl. dies., Nation, Krieg und Geschlecht im 19. Jahrhundert, in: Manfred Hettling / Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland, Hans-Ulrich Wehler zum 65. Geburts tag, München 1996, 151-170, hier: 158.]
[Seite der Druckausg.: 111] nisses König - Volk ist typisch für die in der konservativen Kreuz-Zeitung abgedruckten Gedichte und Lieder.
[Fn-378: Helga Brandes arbeitet diese Entsprechung zwischen dem Bild des „pater familias" und dem Bild des „pater patriae" in ihrer Untersuchung des Mädchenbuches der Gründerzeit ebenfalls heraus. Im Unterschied zu den Gedichten der Kreuz-Zeitung, in denen in erster Linie die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Volk und Vaterland thematisiert wurde, steht hier natürlich die Verbindung von Landes vater und Landestochter im Vordergrund. Vgl. dies. , Das Mädchenbuch der Gründerzeit. Zur Heraus bildung einer patriotischen Literatur für Mädchen, in: Jürgen Link / Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, 256-274, hier: 259.]
Er hatt' auch einen Krückstock,
Den wußte er zu schwingen
[Seite der Druckausg.: 112] Er machte recht geschmeidig,
Der Rückgriff auf das volkstümliche Bild des alten Fritzen" mit seinem Krückstock ermöglicht es, vollends von der tatsächlichen Situation des Verfassungskonfliktes zu abstrahieren und so eine Auseinandersetzung auf rationaler Ebene zu umgehen. Der ganze Konflikt wird auf einen typischen Vater-Sohn-Konflikt reduziert. Es geht nicht um die Argumente, sondern um den Trotz des kindlichen" Volkes, den der Vater seinen Kindern durch körperliche Züchtigung austreiben muss, wenn er seiner Erziehungsverantwortung gerecht werden möchte. Die Gewaltsamkeit und Unrechtmäßigkeit der königlichen Repressionen bzw. der verfassungswidrigen Ausschaltung des preußischen Abgeordnetenhauses wird mit diesem Bild geschickt ausgeblendet. Die königliche Gewalt erscheint durch die Vorstellung des züchtigenden Vaters nicht nur als im Rahmen der Volks-Erziehung" sinnvolle Maßnahme, sondern auch als Ausdruck der Sorge und Liebe des Königs für sein Volk. Voller Dankbarkeit für die väterliche Führung durch den gerade zum Kaiser proklamierten Wilhelm I. fragt ein Gedicht zum Kaisergeburtstag nach Abschluss des Vorfriedens von Versailles vom 26. Februar 1871: Womit kann Dein Volk Dir lohnen,
Voller Liebe vertrauen sich die Kinder" der weisen Führung ihres Vaters" an, dem in allen Bereichen ein größerer Überblick zugeschrieben wird und der als gerechter Vater" die Spannungen" zwischen seinen Kindern" ausgleichen kann. In einem anderen Gedicht wird von Kaiser Wilhelm I. diese Haltung des versöhnenden und lenkenden Herrschers mit den Worten erbeten: [Seite der Druckausg.: 113] Sei Du die Hand, die weise lenkt und richtet
In diesem Gedicht wird sowohl durch die Form der Anrufung" als auch mit dem Bild der Hand", das zu den geläufigen Gottes-Symbolen zählt, eine Analogie zwischen der königlichen und der göttlichen Herrschaft hergestellt. Damit wird auf die Legitimation des Königs als Gottes weltlicher Arm" Bezug genommen, die bereits 1863 in einem Gedicht An die fortschrittlichen Rechts-Verdreher" im Vordergrund stand, in dem es u.a. heißt: Ein Gott beherrscht den Himmel,
Offensichtlich findet der Kampf um die Stellung des Königs hier auf einem Schlachtfeld" statt, das - wie gezeigt werden konnte - bereits 1848 heiß umkämpft war. Nach wie vor geht es um die göttliche Legitimation des Königs und um die daraus abgeleitete, durch keine Verfassung tatsächlich zu begrenzende königliche Macht; eine Frage, die durch den Verfassungskonflikt in der ersten Hälfte der sechziger Jahre neuerlich auf die politische Tagesordnung gerät. In diesem Zusammenhang ist auch die in den sechziger Jahren immer wieder vorgebrachte Anklage der Demokraten" bzw. Fortschrittler" zu sehen. Sie werden als diejenigen dargestellt, die die heilige und durch die Opfer der Befreiungskriege erkämpfte Einheit des Volkes mit ihrem Parteienzwist" gefährden. Die Abgeordneten der Fortschrittspartei werden geradezu als Prototyp des Politikers hingestellt und in ihnen das Parlament an sich als Fort- [Seite der Druckausg.: 114] schritts-Tyrannei" diskreditiert. [Fn-385: Ein Preuße für Millionen seiner Gesinnungsgenossen, Der Pommern Symbolum als Motto, in: KrZ 14.3.1866, Nr. 61, Beilage.] Besonders in den Monaten vor Beginn der preußisch-österreichischen Kriegshandlungen am 15. Juni 1866 häufen sich die gereimten Schmähungen des Parlaments und seiner bei weitem stärksten Fraktion, der Fortschrittspartei. So wird die Tätigkeit des Parlaments in folgenden Versen beschrieben": Sie halten lange Reden,
Sie wollen frei vertreten
Des besten Königs Schöpfung,
Sie nennen's Verfassungstreue
Bei ihnen ist die Lüge
Die Lüge" ist das Schlüsselwort dieses Gedichtes. Der Verfasser bemüht sich mit seinen Zeilen, die Aktivitäten der Fortschrittspartei als Etikettenschwindel" zu entlarven". Dies ist gerade deshalb wichtig, weil sich die Liberalen im Verfassungskonflikt tatsächlich auf der Seite des Rechtes befanden und sich auf die bestehende Verfassung berufen konnten. Um ihre Argumente von vorneherein auszuschalten, wird die parlamentarische Diskussion als Geschwätz" verunglimpft und vor der List und den Schlingen" der fortschrittlichen Rechts-Verdreher" gewarnt. [Fn-387: Strachwitz, Ein todter Dichter an die Fortschrittspartei, in: KrZ 25.2.1866, Nr. 47, Beilage bzw. An die fortschrittlichen Rechts-Verdreher, in: KrZ 11.9.1863, Nr. 212, Beilage.] In einem Gedicht, das laut Kreuz-Zeitung nach dem Schlusse der Landtags-Session 1865 in Abgeordnetenkreisen kursierte", wird das Motiv der Geschwätzigkeit ausgebaut", in- [Seite der Druckausg.: 115] dem Genusssucht, versteckter Ehrgeiz, Feigheit und Vaterlandsverrat hinzugefügt werden. Einem liberalen Abgeordneten werden dort folgende Sätze in den Mund gelegt": Zwar Freuden hab' ich viel genossen [während der Landtags-Session],
Den Sieg der Preußen gegen Dänen Für nichtig hab' ich ihn erklärt; Wie kann der Sattelmeier [der Kriegsminister] wähnen, Daß man ohne mich zieht das Schwert? [ ] So hab' ich kühn und fest gestritten, Von Furcht und Angst auch nicht die Spur - [ ] Drum kehr' ich froh zur Heimath wieder, [ ] Jetzt schnell zurück zu meinem Herde, Bald mach' ich Euch ganz gründlich heiß, Auf daß ich selbst Minister werde. -" [Fn-389: Sein Abschied, in: KrZ 21.3.1866, Nr. 67, Beilage.] Gut zwei Wochen nach Erscheinen dieses Gedichts ergänzt ein anderes mit dem Titel Ministerthat und Philisterrath" die Charakterisierung durch folgendes Element: Weich sind Glieder und Hände vom Schreiben, vom Hüllen in Seide, / Zierlich die Lippe, das Ohr willig, und hart nur das Herz." [Fn-390: G.v.O., Ministerthat und Philisterrath, in: KrZ 8.4.1866, Nr. 81, Beilage.] Sehr deutlich werden hier den Liberalen negativ konnotierte weibliche" Eigenschaften wie körperliche Weichheit, Verschlagenheit und Charakterlosigkeit zugeordnet. Die Hartherzigkeit muss, wenn nicht als weibliches", so doch als spezifisch unmännliches" Attribut gelten, da besonders in der Darstellung des Soldaten immer wieder dessen weiches Herz" hervorgehoben wird. [Fn-391: Vgl. Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Arbeit.] Die Liberalen als politischer Hauptgegner der Konservativen erscheinen damit in den Gedichten der Kreuz-Zeitung als geschwätzige, verzärtelte Weiber", auf die es nur eine Antwort geben kann: Mancherlei schnattern die Gäns', horch: Eier begackern die Hühner, / Aar, Du schärfest den Blick, dehnest den Fittig und schweigst." [Fn-392: G.v.O., Ministerthat und Philisterrath, in: KrZ 8.4.1866, Nr. 81, Beilage.] Bereits durch die Gegenüberstellung der Tiere - Gänse und Hühner auf der einen, der Adler auf der anderen Seite - tritt [Seite der Druckausg.: 116] die ganze Verachtung für die Liberalen hervor: Die zahmen Haustiere beschreien jedes unbedeutende Ereignis, wohingegen der stolze Jagdvogel - das Wappentier der Preußen - ihnen so überlegen ist, dass er sich niemals auf ihre Ebene - das Schnattern und Gackern - hinabbegeben wird. Und doch wird er ihr Geschwätz nicht unbedingt mehr lange dulden, die Gewaltandrohung ist deutlich vernehmbar. Die Auseinandersetzung der Konservativen mit den Liberalen findet jedoch noch auf einer anderen Ebene statt: Dem liberalen Anspruch auf Freiheit wird eine eigene Definition der Freiheit entgegengesetzt. So heißt es 1863 in einem Lied des Preußischen Volksvereins mit deutlicher Spitze gegen die Fortschrittspartei: Königlich, königlich
Freien Königs freiem Volk."
Die hier formulierte Freiheitsidee steht in absolutem Widerspruch zu dem von den Liberalen verfolgten Konzept von Freiheit, wie es sich im Anschluss an die Französische Revolution herausgebildet hat. Das Volk ist dann frei, wenn der König frei ist, und das heißt, wenn er nicht durch Gesetze oder Verfassung gebunden ist. In diesem Fall ist das Volk auch darum frei, weil es sich dem König in Liebe und damit aus freiem Willen unterworfen hat. Dieser Gedanke ist eng verbunden mit der Vorstellung, dass der König als der Freiheit Hort" die gottgegebene Ordnung der Gesellschaft garantieren muss, eine Ordnung, die jedem einen bestimmten Platz in der Gesellschaft zuweist, den jeder dann demütig akzeptiert. Als Menschen erscheinen die Mitglieder dieser Gesellschaft vor König und Gott als Gleiche, gerade weil sie den ihnen zugewiesenen Anteil zum Gelingen der Gesellschaft einbringen. So folgen auf die eben zitierte Strophe die Verse: Oberherr, Oberherr,
[Seite der Druckausg.: 117] Damit wird an die Staatstheorien des Ancien régime angeknüpft, die aus der konservativen Sicht der sechziger und siebziger Jahre noch im Zeitalter der Befreiungskriege die Grundlage Preußens gebildet haben. Dass damals noch des Gedankens Schwinge" frei gewesen sei [Fn-395: Eine Veteranentochter, Zum 17. März 1863, in: KrZ 28.5.1863, Nr. 121, Beilage.] , macht den Charakter dieser Gedichte als rückwärtsgewandte Utopie deutlich. Da aus dieser Perspektive nur derjenige sich als freier Mann" erweist, der die Ständeordnung akzeptiert, kann dem Freien" getrost das freie Wort" zugestanden werden - mit der von den Liberalen eingeforderten Meinungsfreiheit hat dieses freie Wort" jedoch nichts gemeinsam. Die Verbindung des Freiheitskonzeptes mit dem historischen Ereignis der Befreiungskriege deutet darüber hinaus darauf hin, dass Freiheit vornehmlich auch als äußere Freiheit, d.h. als Freiheit von fremder Herrschaft, verstanden wird. [Fn-396: Vgl. z.B.: B., Des Königs Standbild, in: KrZ 27.6.1871, Nr. 146, Beilage.] Auf diesen Gedanken wird im Zusammenhang mit den Vorstellungen und Bildern von Nation noch näher eingegangen werden. Das liberale Bild von König und Volk sieht erwartungsgemäß etwas anders aus. In keinem der in der Vossischen Zeitung abgedruckten Gedichte und Lieder findet sich das in den konservativen Gesängen so weit verbreitete Motiv des Königs als Vater. An die Stelle der dort herausgehobenen Beziehung zwischen Königsvater und Volkssöhnen tritt hier oftmals die Betonung der eigenständigen Existenz des Volkes und der Treue zum Vaterland. In einem Toast der beiden liberalen Fraktionen des Abgeordnetenhauses auf dessen Präsidenten Grabow wird gefragt, was in dem Kampfe mit der argen Welt / Der Mann sich treu und ritterlich erhält, / Was ihn befestigt und die Brust ihm schwellt", und die Antwort lautet: Die Landestreu, das Kampfesbrüderband, / Der Blick in's unverlierbar Vaterland / Dort droben und hienieden, das hielt Stand!" [Fn-397: Ziegler, Toast auf den Präsidenten des Abgeordnetenhauses Grabow, in: VZ 31.1.1866, Nr. 25.] Ähnlich wird 1871 in einem Trinkspruch zum Stiftungsfest des wissenschaftlichen Kunstvereins die Einheit" der Brüder" als der Dauer Unterpfand" für das theure Vaterland" beschworen. [Fn-398: Prof. Maercker, Trinkspruch zum Stiftungsfest des wissenschaftlichen Kunstvereins, in: VZ 20.10.1871, Nr. 252, 2. Beilage.] Im Vergleich zum 1848 emphatisch beschworenen Bruderbund" bzw. zur sozialdemokratischen Schwurgemeinschaft" der Brüder" erscheinen die von den Liberalen besungenen Brüder" jedoch blass und konturlos. Die Beziehung zum König wirkt ambivalent. Zum einen wird - besonders in den zur Erinnerung an die Befreiungskriege verfassten Gedichten - die damalige Gefühls-Einheit von König und Volk herausgehoben, das heilig Band", [Seite der Druckausg.: 118] das beide umschlang, und König und Volk durch treuster Liebe Bande" zu einem Geist und einem Herz verschmolz. [Fn-399: E.F.A., Zum Neuen Jahre 1864, in: VZ 1.1.1864, Nr. 1 bzw. Prolog zum Fest des Veteranen vereins, in: VZ 21.9.1866, Nr. 220, 1. Beilage.] Diese Einheit wird offensichtlich dadurch hergestellt, dass der König die Gefühle und das Geschick seines Volkes teilt und in diesem Bewusstsein dem Volk vorangeht, ohne jedoch als Vater unwidersprochen die Geschicke des Volkes bestimmen zu dürfen. Dementsprechend wird die Königin in ihrem Geburtstagsgruß nach Beendigung des preußisch-österreichischen Krieges gegen Dänemark nicht als Mutter des Volkes apostrophiert, sondern zu einer Art Erster Mutter" des Volkes stilisiert: Du theiltest treu das Hoffen und das Bangen
Mit dieser Position des Königspaares verbinden sich bestimmte Erwartungen, wie sie ebenfalls durch den Rückgriff auf die Figur Friedrichs II. formuliert werden. Auf die Frage Was ist es denn, was Preußen groß gemacht?" wird 1866 an erster Stelle auf das Wirken dieses legendären Königs hingewiesen, das mit den Worten umschrieben wird: Im Kampf für Wahrheit, Licht und Recht ein Meister, / Ein Schutz dem Volk ob falscher Richter Spruch, / Nicht Fürst, des Staates erster Diener heißt er, [
]."
[Fn-401: Wilhelm Zimmermann, Zur Siegesfeier, in: VZ 25.9.1866, Nr. 223, 1. Beilage.]
Dieser Bezug auf die aufgeklärte Gesetzgebung Friedrichs II. war bereits 1848 ein wesentliches Merkmal des von den Vertretern der Linken formulierten preußischen Patriotismus, wenngleich sich diese Argumentation in den hier untersuchten Liedern von 1848 nicht finden ließ.
[Fn-402: Vgl. Peter Borowsky, Was ist Deutschland? Wer ist deutsch? Die Debatten zur nationalen Identität 1848 in der deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt und in der preußischen National versammlung zu Berlin, in: Bernd Jürgen Wendt (Hg.), Vom schwierigen Zusammenwachsen der Deutschen. Nationale Identität und Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 1992, 81-95, hier: 95.]
[Seite der Druckausg.: 119] te der Vossischen Zeitung weder erhärten noch entkräften; wie bereits dargelegt wurde, werden die soziale Realität und die daraus resultierenden Forderungen der Sozialdemokraten sowohl in der Vossischen als auch in der Kreuz-Zeitung vollständig ausgeblendet. Nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich und der vollzogenen Reichseinigung werden die vorher zaghaft geäußerten Erwartungen an den Staat etwas deutlicher, ohne dass sie direkt an die Adresse des Kaisers gerichtet würden. Der Neujahrsgruß 1871 fasst das neugegründete Reich in die Metapher des Hauses und fordert das Land dazu auf, nun das Haus zu säubern", das Überlebte" und Verrottete" hinauszuwerfen. Nach den Erfahrungen und Opfern des Krieges soll das Volk sich nicht mehr kleinlichem Joch" beugen, unwürdiges Schergenthum", Lüg' und knechtische[r] Geist" sollen verbannt, der Freiheit erhabenste[r] Hort" dagegen geschützt werden. Sowohl durch die Hausmetapher in Verbindung mit der Eigenschaft morsch" als auch durch die Wortwahl wird in diesem Gedicht eindeutig auf Sprache und Bilder der Lieder von 1848 Bezug genommen. In völliger Umkehrung der ursprünglichen Intention endet dieser mehr als zwanzig Jahre später verfasste Neujahrsgruß jedoch mit der Aufforderung: So raffe dich auf, so ring' dich empor,
Die Position Wilhelms, 1848 noch als Kartätschenprinz" zu zweifelhaftem Ruhm gelangt, wird demzufolge nach 1871 kaum mehr in Frage gestellt. Doch findet man in vielen Gedichten die Klage, dass die Freiheit auch nach erreichter Einheit noch ihrer Erlösungsstunde" harre, und so erscheinen die ehemaligen Helfershelfer des Tyrannen", die Pfaffenheit" und das Junkerthum", nun als die diejenigen, die das schöne Weib" Freiheit in Ketten und Banden legen. [Fn-405: Adolph Glaßbrenner zum 27. März 1871, in: VZ 26.3.1871, Nr. 79, 4. Beilage.] Auch hier - in einem Adolph Glaßbrenner, einem der bekanntesten republikanischen Dichter von 1848 gewidmeten Gedicht [Fn-406: Vgl. zu Adolph Glaßbrenner Peter Uwe Hohendahl , 1978, 219/220.] - wird also die Terminologie von 1848 wieder aufgegriffen und ihrer fürstenfeindlichen Spitze entkleidet. Offensichtlich steht der Anspruch dahinter, das Erbe" von 1848 fortzuführen, wenn auch die veränderten Umstände und das [Seite der Druckausg.: 120] bereits Erreichte einen Wandel der Stoßrichtung nahe legen.
[Fn-407: Damit wird in den Gedichten und Liedern des liberalen Bürgertums die Erinnerung an 1848 und die Verfassungsbewegung als spezifischer Anteil des liberalen Bürgertums bei der Reichseinigung nicht vollständig aus dem Gedächtnis getilgt, wie es Wolfgang Hardtwig für den Bereich der Staats symbolik herausgearbeitet hat. Allerdings wird der eigene Anteil einer Umdeutung unterworfen. Vgl. Wolfgang Hardtwig, Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, in: ders., Nationalismus und Bürgerkultur, Göttingen 1994, 191-218, hier: 207.]
Der Geist, der treu zur Freiheit hält,
[Seite der Druckausg.: 121] Hier fällt das Stichwort der Mächt'gen", vor denen man sich im Kampf um die Freiheit nicht fürchten solle, unklar bleibt jedoch, gegen wen sich diese Bezeichnung richtet. Neu ist, dass die eigene Feigheit und Eigensucht angeprangert und für die Einschränkung der Freiheit mitverantwortlich gemacht wird. Neben diese kritischen Töne setzen andere Gedichte allerdings helle Visionen ländlich-traditioneller Idyllen, die besonders häufig im Anschluss an die Kriege einen neuen Frühling feiern, als dessen Hüter der König bzw. Kaiser erscheint. So heißt es in der Gratulation der Vossischen Zeitung zum ersten Geburtstag Wilhelms als deutscher Kaiser: Nun darf getrost den Baum der Gärtner setzen,
Das Motiv des Königs bzw. Kaisers als Friedensbringer und -bewahrer ist den Gedichten und Liedern von Vossischer und Kreuz-Zeitung gemeinsam, ein Motiv, das angesichts von drei Kriegen in nur zehn Jahren erstaunen könnte. Tatsächlich wird in den bürgerlichen Kriegsgedichten immer wieder die Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit dieser Kriege herausgestellt. [Fn-411: Vgl. Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Arbeit.] Trotz aller Angriffe besonders der Kreuz-Zeitungs-Poeten auf die Liberalen ergeben sich in den Gedichten und Liedern des konservativen und des liberalen Bürgertums einige Gemeinsamkeiten. In allen bürgerlichen Gedichten bleibt die Autorität des Fürsten mehr oder weniger unbestritten, wenn auch die Bilder, mit denen die Herrschaft legitimiert wird, differieren. Findet sich in den konservativen Dichtungen das Bild des gütigen und gerechten Landesvaters, der fraglosen Gehorsam von seinen Söhnen" fordern kann, so trifft man bei den Liberalen eher auf die Vorstellung des Herrschers als eines primus inter pares", der seine Qualität durch Achtung vor Gesetz und Verfassung erweisen muss. Beide Anschauungen bedienen sich unterschiedlicher [Seite der Druckausg.: 122] Facetten des Mythos vom alten Fritzen", um ihre Argumentation historisch zu rechtfertigen. Die Darstellung des Volkes ähnelt sich in ihrer Stilisierung zum Ländlich-Idyllischen. Die Folgen der Industrialisierung werden konsequent ausgeblendet, dementsprechend bleiben die Sozialdemokraten unerwähnt. Ob dies als Ausdruck der Geringschätzung der Sozialdemokraten als politischer Gegner gelten muss oder als bewusstes Verschweigen eines angstbesetzten Themas zu werten ist, lässt sich aus den Gedichten und Liedern nicht herauslesen. In den sechziger Jahren wurden die Sozialdemokraten möglicherweise noch als politisch unbedeutend eingeschätzt, da sie sich nur auf eine zahlenmäßig geringe Mitgliedschaft stützen konnten. Mit dem überraschenden Wahlerfolg der Sozialdemokraten von 1874, der ihnen trotz ungünstiger Voraussetzungen immerhin einen Stimmenanteil von 6,8 % und damit neun Mandate im Reichstag eintrug, wurden sie jedoch immer mehr zum ernstzunehmenden Faktor im politischen Spiel. Dies zeigt die mit der Ernennung Tessendorfs zum Staatsanwalt in Berlin einsetzende Unterdrückung und Verfolgung der Sozialdemokraten, die 1878 im sogenannten Sozialistengesetz ihren Höhepunkt erreichte. Die zunehmende Furcht des Bürgertums vor einer Revolution spiegelt sich jedoch nicht in den hier untersuchten Gedichten und Liedern. Der eigentliche politische Gegner ist in den Augen der Konservativen die liberale Fortschritts-Partei, die als weibisch" und geschwätzig diskreditiert wird. Die Liberalen wenden sich demgegenüber gegen den Einfluss von Adel und Junkerthum", womit auf Vokabeln von 1848 zurückgegriffen wird, die keinen parteipolitischen, sondern eher einen sozialen Gegner kennzeichnen. Die Auseinandersetzung kreist um den Begriff Freiheit", der bereits 1848 zu den zentralen Punkten zählte. Während die Forderung der Liberalen nach Freiheit in den Liedern und Gedichten ähnlich unbestimmt bleibt wie schon 1848, grenzen die Konservativen ihr Konzept der Freiheit ganz deutlich von den liberalen Vorstellungen ab. Freiheit ist in ihren Augen die nicht von einer Verfassung reglementierte" Beziehung zwischen Volk und König, die jedem seinen gottgegebenen Platz in der Gesellschaft zuweist. Damit wird auf die Ständeverfassung des Ancien Régime Bezug genommen. Sowohl bei den Konservativen als auch bei den Liberalen ist Freiheit jedoch immer auch als äußere Freiheit zu verstehen. Bei den Sozialdemokraten überlagern sich im Gegensatz zu den bürgerlichen Vorstellungen sehr deutlich soziale und politische Wahrnehmungsmuster von Gesellschaft. Das Volk wird als Gemeinschaft derjenigen Männer definiert, die durch Arbeit zum Nutzen der Gesellschaft beitragen. Damit dient eine zunächst soziale Verortung zur Bestimmung des Volkes, wohingegen in den bürgerlichen Liedern - wie noch zu zeigen sein wird - der Begriff Volk" eindeutig über die Kategorie des Vaterlandes festgelegt wird. Das Arbeits [Seite der Druckausg.: 123] volk" nimmt sich gegenseitig als Brüder" wahr, die durch einen Schwur miteinander verbunden sind. So tritt an die Stelle der emotionalen Beziehung zwischen Volk und Herrscher, wie sie in den bürgerlichen Versen besungen wird, das gefühlsbeladene Verhältnis der Volks-Brüder" untereinander. Der Fürst wird dagegen weitgehend negativ als Tyrann" und Despot" dargestellt, doch fällt die Gegnerschaft im Vergleich mit 1848 wesentlich weniger radikal aus. Im allgemeinen richten sich die sozialdemokratischen Gesänge gegen die Ketten" der Arbeit, deren Enden die Bourgeosie" in Händen hält. Auch hier gehört die Freiheit zu den Schlüsselwörtern, neben das allerdings die Gleichheit tritt. Freiheit wird vorwiegend sozial verstanden, wenn auch der angestrebte Weg über das allgemeine Männerwahlrecht ein politischer ist. Am Begriff der Freiheit wird besonders deutlich, dass Sozialdemokraten und Bürger, aber auch Bürger unterschiedlicher politischer Couleur oftmals in verschiedenen Sprachen" sangen und dichteten. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2002 |