FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 186]



3. Zwei Welten?
- Eine Schlussbemerkung zum Verhältnis von sozialdemokratischer und bürgerlicher Kultur


Lieder und Gedichte spielten in der Kultur der Sozialdemokraten eine gewichtige Rolle. In ihren politischen Versammlungen erklangen gegen Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts immer häufiger Lieder, die bald den Status von Hymnen einnahmen. Dazu zählten vor allem die 1864 von Jacob Audorf verfasste „Arbeitermarseillaise", das „Bundeslied" aus der Feder Georg Herweghs oder Hermann Greulichs „Arbeiter-Feldgeschrei". Diese Hymnen wurden zum Abschluss der Versammlungen oder bei Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner gesungen, um die Einheit der Partei nach innen zu befestigen und nach außen zu demonstrieren. Dazu bot sich die „Arbeitermarseillaise" in besonderer Weise an, da ihre Melodie von keiner anderen Gruppe der Gesellschaft benutzt wurde; darum konnte sie zum musikalisch eindeutigen Symbol der deutschen Arbeiterbewegung werden. Die „Arbeitermarseillaise" war es auch, die im allgemeinen bei öffentlichen Auftritten und Demonstrationen aus den Kehlen der Sozialdemokraten ertönte. Der gemeinsame Gesang dieser Hymne diente in diesem Fall nicht nur als kämpferisches Identifikationsmittel, sondern konnte auch helfen, widerstreitende Emotionen wie Empörung, Wut, Stolz und Angst in „kritischen" Augenblicken zu kanalisieren. Damit wurde die erwünschte Sozialdisziplinierung der eigenen Mitglieder erreicht, ohne auf die symbolische Inanspruchnahme von Macht zu verzichten.

Auf den Festen der Sozialdemokraten nahmen Musik und Dichtung eine etwas andere Funktion ein. Zum einen waren sie bei Stiftungsfesten Teil des kulturellen Rahmenprogramms, das sowohl die Familien der Parteimitglieder als auch andere Gruppen der Gesellschaft anziehen und durch das gemeinsame Festerlebnis an die sozialdemokratische Partei binden sollte. Das Programm der Stiftungsfeste musste also attraktiv sein und den Hörerwartungen der Besucher entgegenkommen. Diese Zielsetzung erklärt bestimmte Anleihen aus dem Musikprogramm bürgerlicher Stiftungsfeste, die man besonders im Bereich der Instrumentalmusik und der volksliedhaften Naturlieder antrifft. Zum anderen sollten die Stiftungsfeste aber auch - wie Liebknecht es 1875 ausdrückte - „wahre Kulturfeste" sein, d.h. sie sollten die erträumte zukünftige Gesellschaft für einen Augenblick erlebbar machen. Dieser Anspruch zeigt das spezifisch politische Kulturverständnis der Sozialdemokraten, das die Auswahl des musikalischen und dichterischen Repertoires wesentlich mitbestimmte. Da sich die Sozialdemokraten als Erben einer bestimmten, nämlich der freiheitlich bürgerlichen Bildungstradition ansahen, wurden Gedichte und Lieder des Vormärz und der Revolution von 1848, aber auch bestimmte Gesänge der Befreiungskriege dargeboten, wenn in ihnen der

[Seite der Druckausg.: 187]

Kampf gegen Unterdrückung zum Ausdruck kam. Auch mit den eigenen Dichtungen knüpften sie an dieses Erbe an.

Die jährlichen Feiern zum Todestag Lassalles am 31. August griffen diesen freiheitlichen Impuls auf. Viele Sozialdemokraten nahmen diese Feier zum Anlass, eigene Gedichte und Lieder auf Lassalle zu verfassen und auf diese Weise aktiv an der Festgestaltung mitzuwirken. Auch Frauen, deren Teilnahme an politischen Veranstaltungen durch die Vereinsgesetze ein enger Rahmen gesetzt war, griffen häufig zu Papier und Feder, um ihren Gedanken an Lassalle und über die sozialdemokratische Bewegung Ausdruck zu verleihen. Die Lassalle-Gedichte sind durch den Aufruf zur Veränderung der Gesellschaft gekennzeichnet, ein emanzipatorischer Ansatz, der sich im übrigen auch auf stilistischer Ebene zeigt. Sie richten sich im allgemeinen direkt an die Zuhörer bzw. fordern das Publikum zu einer Stellungnahme heraus. Dieser Appellcharakter unterscheidet die gesamte sozialdemokratische Lyrik der untersuchten zwei Jahrzehnte trotz großer Ähnlichkeiten von der sogenannten epigonalen Literatur der Gründerzeit. Darüber hinaus beschwören die Lassalle-Gedichte und -Lieder die Person Lassalles als Gründer und verehrenswertes Vorbild der sozialdemokratischen Partei. Die Lassalle-Feiern trugen damit dem Bedürfnis der Sozialdemokraten nach emotionaler Bindung und Heldenverehrung Rechnung. Sie knüpften insofern an den bürgerlichen Heroenkult an. Um die entsprechende würdige Atmosphäre zu erzeugen, wurden Grab- und Abendlieder aus der Feder bürgerlicher Männerchorkomponisten gesungen. Ferner war der Ablauf der Lassalle-Feiern durch die Anlehnung an kirchlich-liturgische Formen bestimmt.

Einen anderen Charakter hatten dagegen die Märzfeiern. Sie wurden erstmals 1872 begangen und waren sowohl dem Gedächtnis der „Kämpfer" von 1848 als auch der „Communards" von 1871 gewidmet. Mit diesen Feiern wurde im Gegensatz zur nationalkriegerischen Tradition der Reichspatrioten, wie sie vor allem mit dem Sedanfest bekräftigt wurde, eine sozialdemokratische Tradition begründet, die ihren Schwerpunkt auf den Freiheitskampf legte. Darum wählte man für die Märzfeiern Lieder und Gedichte aus, die entweder während der Revolution von 1848/49 entstanden oder von sozialdemokratischen Dichtern der sechziger und siebziger Jahre verfasst worden waren. In diesen Gedichten und Liedern standen die Anklage der Entrechtung und das Bekenntnis zur Sozialdemokratie an erster Stelle.

Im Unterschied zur kulturellen Praxis der Sozialdemokraten, die noch in den sechziger und siebziger Jahren Politik und Kultur in einem einzigen Verein zu bündeln suchten, zeichnet sich die bürgerliche Kultur gerade durch ihre vielfältige Differenzierung aus, die in den meisten Bereichen eine stärkere Trennung von Politik und Kultur zur Folge hatte. Diese Trennung kann durch das

[Seite der Druckausg.: 188]

bürgerliche Kulturverständnis erklärt werden. Kultur hatte einen gewichtigen Anteil am Selbstverständnis des Bürgertums. Seine Kultur galt dem Bürgertum als ein allgemeingültiges Modell, das prinzipiell von allen Schichten der Gesellschaft angenommen und verwirklicht werden sollte. Aufgrund dieser Vorstellung eignete sich Kultur für das Bürgertum nicht als bewusst eingesetztes Mittel der Abgrenzung gegenüber anderen gesellschaftlichen oder politischen Gruppen.

Deshalb wurden Lieder auf den politischen Versammlungen liberaler und konservativer Bürger nur selten und immer nur in Reaktion auf die sozialdemokratischen Gewohnheiten als Identifikationssymbole eingesetzt. Lediglich bei größeren politischen Veranstaltungen oder den jährlichen Generalversammlungen hatten Lieder ihren festen Platz. Sie sollten diesen Zusammenkünften einen festlichen Charakter verleihen und wurden darum auch von Gesangvereinen vorgetragen und nicht von allen Teilnehmern mehr schlecht als recht gemeinsam gesungen.

Eine ähnliche Rolle spielten Musik und Dichtung auf den Festen der vielen verschiedenen bürgerlichen Vereine. Anders sah es dagegen auf denjenigen bürgerlichen Festen aus, die dem nationalen Gedanken gewidmet waren. Dazu zählten sowohl die Feste der Sänger, Schützen und Turner als auch die Schiller- und Uhlandfeiern, die Einweihung von Denkmälern nationaler Heroen wie Blücher oder Max Schneckenburger, der Dichter der „Wacht am Rhein", oder der festliche Empfang der Truppen nach den sogenannten Einigungskriegen. Hier fungierten Lieder und Gedichte sehr wohl als Identifikationssymbole. Sie dienten der nationalen Selbstvergewisserung auf dem Wege der Außenabgrenzung gegenüber anderen Nationen.

Die dargestellten Unterschiede zwischen den Formen sozialdemokratischer Kultur einerseits und denjenigen bürgerlicher Kultur andererseits finden sich auch bei der inhaltlichen Analyse der Gedichte und Lieder wieder. In den Dichtungen der Sozialdemokraten überlagern sich soziale und politische Wahrnehmungsmuster von Gesellschaft, die in den republikanischen Liedern und Gedichten von 1848 zumeist noch nebeneinander bestanden. Die sozialdemokratischen Dichter bezeichnen sich selber unterschiedslos als Arbeiter, Proletariat, vierter Stand oder Volk. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Arbeit Produzentin aller Werte einer Gesellschaft sei und darum die Arbeiter das eigentliche Volk darstellten. So formulieren die Sozialdemokraten in ihren Liedern und Gedichten den Anspruch auf politische Partizipation nicht als Wunsch einer Klasse innerhalb der Gesellschaft, sondern aufgrund ihrer Selbstdefinition als das „wahre" Volk. Neben diesem Selbstverständnis steht in den sechziger Jahren die nationale Identität der sozialdemokratischen Arbeiter. In bürgerlich-liberalen Kreisen verbreitete Bilder der Deutschen - wie

[Seite der Druckausg.: 189]

etwa die Charakterisierung als freie Germanen - werden von den Sozialdemokraten benutzt, um die Forderungen nach allgemeinem Wahlrecht und Assoziationsfreiheit zu bekräftigen. Die von den Sozialdemokraten in ihren Gedichten und Liedern zum Ausdruck gebrachte nationale Identität ist sehr stark durch den Wunsch nach einem freien, einigen Vaterland geprägt, wie er schon 1848 und 1813 lebendig war. So werden diejenigen patriotischen Lieder und Gedichte aus den Befreiungskriegen, dem Vormärz und der Revolution von 1848 in die sozialdemokratischen Liederbücher übernommen, die sich als Ruf nach nationaler Einheit und politischer Freiheit interpretieren lassen. Die Sozialdemokraten definieren ihre Identität als deutsches Volk nicht über die Abgrenzung oder Feindschaft zu anderen Völkern. Statt dessen tritt die „Bourgeoisie" in ihren Gedichten und Liedern als Gegner auf; sie wird dafür verantwortlich gemacht, dass den Arbeitern politische und soziale Freiheit vorenthalten wird. Auch wenn die Sozialdemokraten die ersten beiden Einigungskriege zunächst bejahten, stehen dahinter also keine nationalen Ressentiments, sondern die Hoffnung, dass man für den Einsatz im Krieg politische und soziale Freiheit erlangen werde. Diese Hoffnung wird unmittelbar nach dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 enttäuscht und im Krieg gegen Frankreich 1870/71 endgültig begraben. Durch die von den Reichsgründern betriebene „Okkupation" der nationalen Symbole gerät die Nationalidentität der Sozialdemokraten immer stärker in ein Spannungsverhältnis zu ihrem Selbstverständnis als „Arbeits-Volk", das wesentlich durch die Gegnerschaft zur „Bourgeoisie" bestimmt war und gleichzeitig die Solidarität mit dem französischen „Arbeits-Volk" von ihnen forderte. Aus diesem Grunde versuchten die Sozialdemokraten, die (Arbeits-)Volksfeindlichkeit der Reichspatrioten zu entlarven und deren nationale Symbole zu ironisieren. Gegen die erdrückende Definitionsmacht des nationalgestimmten Bürgertums scheint diese Strategie gescheitert zu sein. Es lässt sich nämlich feststellen, dass die Sozialdemokraten nach 1871 ihre eigene nationale Identität immer seltener in ihren Gedichten und Liedern formulieren; die „alten" patriotischen Lieder verschwinden aus den sozialdemokratischen Liedsammlungen. Demgegenüber treten das Bekenntnis zur internationalen Solidarität und damit die Identität als „Arbeits-Volk" immer stärker in den Vordergrund des Liedgeschehens. Auch die Betonung des Kommunekampfes bei den Reden zu den Märzfeiern weist darauf hin. Die auch in den siebziger Jahren noch verwandte Selbstbezeichnung als „deutsches Arbeits-Volk" zeigt jedoch, dass die Sozialdemokraten ihre nationale Identität nicht aufgegeben haben. Das weitgehende Schweigen über das eigene nationale Selbstverständnis macht deutlich, dass die beiden Identitäten der Sozialdemokraten als „Arbeits-Volk" und als „deutsches Volk" im Rahmen des 1871 gegründeten deutschen Reiches im-

[Seite der Druckausg.: 190]

mer weniger zur Deckung gebracht werden konnten. Die „doppelte Loyalität" der Sozialdemokraten war entstanden.

In den Gedichten und Liedern des liberalen und konservativen Bürgertums wird das Volk vornehmlich über seine landsmannschaftlichen bzw. nationalen Eigenschaften in Abgrenzung zu anderen Nationen definiert. Eine Binnendifferenzierung dieses Volkes über soziale Charakteristika findet nicht statt. Dies entspricht der Beobachtung, dass Lieder und Gedichte in der bürgerlichen Kultur nicht als innergesellschaftliche Identifikationssymbole fungierten. Wenn in einigen wenigen Dichtungen doch die Elemente dieses monolithisch gedachten Volkes aufgezählt werden, so ergibt sich ein Bild ländlich-handwerklicher Idylle; die Folgen der Industrialisierung werden ausgeblendet. In den Gedichten und Liedern des Bürgertums beugt sich das Volk willig der Autorität des Herrschers, die nirgendwo wirklich angezweifelt wird. Allerdings begründen Liberale und Konservative die Legitimität des Fürsten mit verschiedenen Bildern. Findet sich in den Gedichten der Konservativen das Bild des gerechten und gütigen Landesvaters, der von seinen „Kindern" Gehorsam fordert, so tritt der Herrscher in den Gedichten der Liberalen eher als eine Art „erster Diener des Staates" auf, der seiner Bestimmung durch Achtung vor Gesetz und Verfassung gerecht werden muss.

Beide politischen Strömungen des bürgerlichen Lagers verwenden in den sechziger und siebziger Jahren den Begriff der Freiheit. Die Freiheitsforderungen der Liberalen bleiben jedoch ähnlich unbestimmt wie schon 1848, während die Konservativen Freiheit im Rückgriff auf die Ständeverfassung des Ancien Régime als nicht reglementierte Beziehung zwischen Volk und König darstellen. Die Idee der Freiheit ist bei den Liberalen in der ersten Hälfte der sechziger Jahre eng verknüpft mit dem Ruf nach nationaler Einheit. In ihrer Reaktion auf den deutsch-dänischen Krieg 1864 zeigt sich jedoch bereits, dass ihre nationale Identität stärker durch die Abgrenzung zu anderen Nationen und über den Begriff der äußeren Freiheit als durch den der politischen Freiheit bestimmt wird. Nach 1866 geht der Wunsch nach Einheit immer stärker mit dem Traum von nationaler Größe einher, während die Freiheitsforderungen langsam verstummen. In den Gedichten der Konservativen dominieren in den frühen sechziger Jahren die Loyalität zum Herrscher und der damit verbundene Landespatriotismus. Im Verlauf der sechziger Jahre wird jedoch der preußische Patriotismus der Konservativen nach Bismarcks Inanspruchnahme nationaler Ziele zum deutschen Nationalismus erweitert; bestimmte ursprünglich preußisch definierte Stereotype werden fortan als deutsch angesehen.

Konservative und Liberale begrüßen in ihren Gedichten und Liedern einhellig die Reichseinigung von 1871. Sie sehen in ihr die Erfüllung des Traumes von

[Seite der Druckausg.: 191]

der Wiederherstellung des „alten Reiches". Besonders auf konservativer Seite gibt es Stimmen, die nun auch das „Welschtum" in den eigenen Reihen „ausmerzen" und eine „Nationalisierung" der deutschen Kultur und Sprache durchsetzen wollen. Auf liberaler Seite finden sich nun Äußerungen, die auf den beginnenden Kulturkampf verweisen.

Die in der vorliegenden Studie herausgearbeiteten Ergebnisse zeigen, dass sowohl für den hier untersuchten Ausschnitt der kulturellen Praxis als auch für den Bereich der Vorstellungen und Bilder von Nation und Gesellschaft keine „Verbürgerlichung" der sozialdemokratischen Arbeiter stattgefunden hat. In den frühen sechziger Jahren noch bestehende Übereinstimmungen verschwinden zunehmend. So lassen sich Anfang der sechziger Jahre in den Gedichten von Sozialdemokraten und Liberalen ähnliche Vorstellungen von Nation finden, die sich aus dem gemeinsamen Erbe der nationalen Bewegung von 1848 und 1813 erklären lassen. Aber bereits zu diesem Zeitpunkt werden die Akzente anders gesetzt. Während bei den Sozialdemokraten die nationale Identität untrennbar an die soziale bzw. politische als „Arbeits-Volk" gebunden ist, dominiert bei den Liberalen das nationale Selbstverständnis. Mit der Annäherung von Liberalen und Konservativen im Traum von nationaler Größe und der schließlichen Wiederherstellung des „alten Reiches" setzt sich die Auseinanderentwicklung von Sozialdemokraten und Liberalen auf diesem Gebiet fort.

Die Untersuchung von Funktion und Stellung der Lieder und Gedichte auf den Versammlungen und Festen der Sozialdemokraten hat gezeigt, dass sie sich bestimmter Elemente der bürgerlichen Kultur bedienten. Dies ist jedoch keinesfalls als „Verbürgerlichung" zu interpretieren. Denn zum einen gingen die sozialdemokratischen Parteien in den sechziger Jahren zum Teil aus Arbeiterbildungsvereinen hervor, die im allgemeinen unter bürgerlicher Obhut standen. Bestimmte Formen bürgerlicher Kultur gehörten also bereits zum Erbe der Sozialdemokraten. Zum anderen ist aber von besonderer Wichtigkeit, dass die Anleihen aus der bürgerlichen Kultur nicht einfach übernommen, sondern in eine neue Kultur „eingebaut" wurden und damit einem Funktionswandel unterlagen. Dies konnte für die Übernahme bestimmter Werke aus der bürgerlichen Literaturtradition und Gesangskultur gezeigt werden, die sehr selektiv nach dem Kriterium des Freiheitskampfes erfolgte. Auch der Lassalle-Kult ähnelte mit seinen kirchlich-liturgischen Elementen zwar dem bürgerlichen Heroenkult, hob sich aber grundlegend durch seinen emanzipatorischen Charakter von der bürgerlichen Heldenverehrung dieser Jahre ab. Am ehesten ließe sich noch die Verwendung der auch auf bürgerlichen Festen beliebten Orchesterouverturen bzw. Volkslieder als „Verbürgerlichung" ansehen; doch entsprach diese Praxis dem Wunsch der Sozialdemokraten, ihre

[Seite der Druckausg.: 192]

eigene kulturelle „Reife" unter Beweis zu stellen und neue Mitglieder zu werben. Darüber hinaus entwickelten die Sozialdemokraten ganz eigene kulturelle Formen. Dazu zählt vor allem der sogenannte „Volksgesang" bestimmter Hymnen zum Abschluß von politischen Versammlungen bzw. in der Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Diese Verwendung von Liedern als innergesellschaftliche Identifikationssymbole weist auf den wesentlichen Unterschied zwischen sozialdemokratischer und bürgerlicher Kultur hin. Während Kultur und Politik für das Bürgertum im allgemeinen zwei getrennte Bereiche waren, bemühten sich die Sozialdemokraten, eine Kultur zu entwickeln, die der von ihnen erstrebten Gesellschaftsordnung entsprach; es gab für sie - zumindest in den sechziger und siebziger Jahren - keine Kultur ohne Politik. So ist bereits vor dem Sozialistengesetz von 1878 die sozialdemokratische Kultur eine „alternative culture", wie es Lidtke dann für die Jahre nach 1890 festgestellt hat. Mit dem Sozialistengesetz wurde jedoch zerstört, was die sozialdemokratische Kultur in den sechziger und siebziger Jahren in besonderem Maße auszeichnete: die für die gesamte Lebenswelt der sozialdemokratischen Arbeiter gültige Einheit von Kultur und Politik.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2002

Previous Page TOC Next Page