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1.2 „Wo man singt, da laß' dich ruhig nieder …": Lieder und Gedichte auf politischen Festen


Feste waren hier wie dort Höhepunkte des Vereinslebens. Standen auf dem „offiziellen" Festkalender der Bürger vor allem die Geburtstage der Monarchen, die Heldengedenktage und historischen Jubiläen wie etwa die Erinnerung an die Leipziger Völkerschlacht am 18. Oktober oder in den siebziger Jahren die Feier des Sedanstages am 2. September sowie nicht zuletzt die

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zahlreichen Denkmalseinweihungen, so galt es daneben die alljährlichen Stiftungsfeste der bürgerlichen Vereine, die Sommerausflüge, Kinderfeste und Weihnachtsfeiern sowie die überregionalen bzw. nationalen Sängerfeste zu gestalten. [Fn-107: Vgl. Dietmar Klenke , 1989, 471 und Herbert Bähr , 1995, 101.] Die Feste der Arbeiterbewegung folgten dagegen einem etwas anderen Rhythmus. Gab es in den sechziger Jahren noch vereinzelte „Königsfeiern", die aber wohl doch zumindest teilweise taktischen Überlegungen entsprangen [Fn-108: Vgl. z.B. den Bericht über die Iserlohner Königsfeier von 1865 in: Arno Herzig , 1979, 50-53.], so verschwand dieser Brauch Ende der sechziger Jahre völlig. Auch an den Heldengedenktagen und Schlachtenjubiläen beteiligten sich die Sozialdemokraten nicht. Gegen diese Tradition der Befreiungs- und Einigungskriege setzten die Sozialdemokraten ihre eigene historische Tradition: Seit 1872 gedachte man am 18. März der „Gefallenen" von 1848 und der Kommunekämpfer von 1871, am 11. April feierten manche ADAV-Gemeinden den Geburtstag Ferdinand Lassalles, und am 31. August begingen der ADAV und so mancher Lokalverein der SDAP den Todestag Lassalles, der wegen seiner zeitlichen Nähe zum Sedanstag oft geradezu zu einer Anti-Sedanfeier wurde. Genau wie die bürgerlichen Vereine veranstalteten aber auch ADAV und SDAP ihre alljährlichen Stiftungsfeste und Sommerausflüge. Dies erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass die sozialdemokratischen Vereine häufig aus bereits bestehenden Arbeiterbildungsvereinen unter bürgerlicher Obhut hervorgegangen sind bzw. sich von diesen abgespalten haben. Vergleichsweise neu waren indes die sogenannten Arbeiterverbrüderungsfeste, bei denen sich zwei oder mehr Lokalorganisationen zusammenfanden, um gemeinsam zu feiern. Aber auch hierzu gab es zumindest Ansätze innerhalb der bürgerlichen Vereine, denn dort empfing man ebenfalls zu besonderen Jubiläen oder zur Fahnenweihe gerne auswärtige Vereine als Gäste. Auch die Sängerfeste könnten unter Umständen für die Arbeiterverbrüderungsfeste Pate gestanden haben, wenngleich man in sozialdemokratischen Vereinen die dort veranstalteten Sängerwettstreite als Ausdruck des bürgerlichen Konkurrenzdenkens ablehnte. [Fn-109: Gunter Mühl , Das Verhältnis der Arbeiter-Sänger zum bürgerlichen Gesangvereinswesen bis 1933, in: Rainer Noltenius (Hg.), Illustrierte Geschichte der Arbeiterchöre, Essen 1992, 65-71, hier: 68.]

Damit konnten die Sozialdemokraten ihren Mitgliedern ein attraktives „Freizeit"-Programm bieten. Lidtke schätzt, dass ein sozialdemokratisch organisierter Arbeiter in einer in dieser Hinsicht aktiven Gegend jährlich mindestens

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sechs Arbeiterfeste besucht haben dürfte. [Fn-110: Vernon L. Lidtke , Die kulturelle Bedeutung der Arbeitervereine, in: Günther Wiegelmann (Hg.), Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert, Tübingen 1971, 146-159, hier: 147.] Dieses breite Angebot war erst allmählich entstanden; Lassalle selber war sogar zunächst gegen jede „Vereinsspielerei" gewesen. In den lokalen Organisationen des ADAV wurden jedoch die noch erhaltenen Formen zünftiger Geselligkeit und religiös-landsmannschaftlicher Volkskultur unter anderen Vorzeichen fortgeführt, ohne dass man sich offensichtlich dieses Verstoßes gegen die Doktrin Lassalles bewusst war. Bald erkannte auch Lassalle die Bedeutung der Feste und Vergnügungen für das Gemeinschaftsgefühl der ADAV-Mitglieder und empfahl: „Wenn der Verein wachsen soll, wenn er sich für eine weitere Zukunft vorzubereiten hat, in der es aufgrund des demokratischen Wahlrechts zu regulären Wahlen kommen wird, so muss er ein gesellschaftliches Leben entwickeln, das die Genossen zusammenhält." [Fn-111: Zitiert nach Thomas Welskopp , 2000, 343 sowie 339-345 allgemein zu den zünftigen und landsmann schaftlichen Traditionen sozialdemokratischer Feste.] Anfangs scheinen die sozialdemokratischen Festivitäten weniger attraktiv als traditionelle Volksfeste gewesen zu sein; darum vermied man es, sozialdemokratische Feste an einem Tag mit Volksfesten zu veranstalten. Seit den frühen siebziger Jahren brauchte man diese Konkurrenz wohl nicht mehr zu scheuen. So plante Carl Wilhelm Tölcke die Arbeiter- und Volksfeste der Iserlohner Sozialdemokraten bewusst für die gleichen Tage wie die Schützenfeste der Bürger. [Fn-112: Ebd., siehe auch Arno Herzig , 1979, 137.]

Charakteristisch für die Feste der Sozialdemokraten war die Mischung aus Geselligkeit und Politik, Gemeinschaftserlebnis und werbender Außenwirkung. Zumindest in den sechziger und siebziger Jahren hatten sich die geselligen Bedürfnisse noch nicht verselbständigt, sondern waren eng mit dem politischen Engagement verzahnt. Dies kam unter anderem auch in der organisatorischen Einheit von geselligen und politischen Aktivitäten zum Ausdruck. Die Gesangsabteilungen oder Gesangvereine ebenso wie die Theatergruppen bestanden ausschließlich aus Sozialdemokraten. Sie führten kein eigenständiges Vereinsleben, sondern probten für die Abendunterhaltungen und Feste des ganzen Vereins. Und wenn sie auch gerne sangen oder Theater spielten, so geschah dies doch auch immer in der Überzeugung, gleichzeitig den politischen Zielen der Partei zu dienen. [Fn-113: Vgl. etwa die Äußerung von Julius Bruhns in seiner Autobiographie: Es klingt im Sturm ein altes Lied, Stuttgart / Berlin 1921, 29.]
Einen Widerspruch zwischen künstlerischem und politischem Anspruch, wie er dann um die Jahrhundertwende und später von vielen Seiten festgestellt wurde [Fn-114: Inge Lammel , Politisches Lied und Volkslied in der Gesangspraxis der Arbeiterklasse, in: Arbeiter klasse und Musik. Theoretische Positionen in der deutschen Arbeiterklasse zur Musikkultur vor 1945 (= Schriftenreihe des Präsidiums der Akademie der Künste der DDR, 15), hrsg. v. d. Akademie der Künste der DDR, Berlin (Ost) 1974, 26-51, hier: 29-34; Inge Lammel schreibt zwar, dass dieses Problem „von Beginn an" bestanden habe, tatsächlich stammen jedoch alle ihre Quellenverweise aus der Zeit nach 1890, und es dürfte schwer sein, entsprechende Quellen für die Zeit vor dem Sozialistengesetz zu finden.], hat zu diesem Zeit-

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punkt wohl kaum einer gesehen. Diese Trennung war nicht zeitgemäß. Kunst sollte auch in der Sozialdemokratie zur ästhetischen Erziehung dienen, der ursprünglich bürgerliche Gedanke der „Veredelung" durch die Kunst wurde übernommen. Damit verband sich jedoch der in gleichem Maße politische Anspruch, eine eigene kulturelle Identität auszubilden. [Fn-115: Bernd Witte , Literatur der Opposition. Über Geschichte und Wirkmittel der frühen Arbeiterliteratur, in: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.), Handbuch zur deutschen Arbeiterliteratur, Bd. 1, München 1977, 7-45, hier: 13/14, vgl. auch Axel Körner, 1997, 97.]
Dahinter steckte der Gedanke, dass die Arbeiter auch in kultureller Hinsicht die „Führungsrolle" übernehmen sollten. [Fn-116: Ebd.] Dies kommt besonders deutlich in einer Rede Liebknechts von 1875 zum Ausdruck, wo es heißt: „Arbeiterfeste sind keine Feste, die Sinne zu berauschen. Da der Arbeiter allein Kulturmensch ist, sind auch nur allein die Arbeiterfeste wahre Kulturfeste, wahre Menschenfeste. Bei den Arbeiterfesten […] belehren und klären wir uns auf, stärken uns zum weiteren Kampf." [Fn-117: Zitiert nach: Werner Kaden , Ziele und Aufgaben des Laienmusizierens der Arbeiter, in: Arbeiterklasse und Musik. Theoretische Positionen in der deutschen Arbeiterklasse zur Musikkultur vor 1945 (= Schriftenreihe des Präsidiums der Akademie der Künste der DDR, 15), hrsg. v. d. Akademie der Künste der DDR, Berlin (Ost) 1974, 51-65, hier: 54.]
Dazu musste die bürgerliche Kulturtradition der Klassik und des Vormärz, als deren eigentliche Erben man sich verstand, zumindest teilweise integriert werden. [Fn-118: Klaus-Michael Bogdal , Arbeiterbewegung und Literatur, in: Edward McInnes / Gerhard Plumpe (Hg.), Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 6), München 1996, 144-175, hier: 161.]
Dieses komplexe Verhältnis zur bürgerlichen Kunst ebenso wie die starke Durchdringung von Kunst und Politik finden sich auch in der Gestaltung der sozialdemokratischen Feste wieder.

1.2.1 Stiftungsfeste - Leistungsschauen des Vereins

Die alljährlichen Stiftungsfeste, mit denen man der Gründung des Vereins gedachte, waren - wie Welskopp es formuliert - die „Leistungsschauen des Vereins". [Fn-119: Thomas Welskopp , 1998, Kp. III.3.] Dies kam in mehrfacher Hinsicht zum Ausdruck: Zum einen

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boten die Festreden meist einen Rückblick auf die wechselvolle, aber letztendlich doch zukunftsweisende Geschichte der Sozialdemokratie und riefen mit besonderer Freude die „Erfolgserlebnisse" der nahen Vergangenheit in Erinnerung. Der einleitende, gereimte Prolog, der Vortrag der zum Teil selbst verfassten Lieder und Gedichte sowie die umrahmenden Instrumentalstücke sollten demonstrieren, dass die sozialdemokratischen Arbeiter im Bereich der Kultur sehr wohl mit den „Bürgern" konkurrieren konnten, ja dass sie ihnen sogar an wirklichem „Geist" überlegen waren. [Fn-120: Vgl. z.B. den Kommentar über das von einem Bankdirektor verfasste Festlied und die „übrigen Produkte", die auf dem „Harmoniefest" der im Königsberger Ortsverein der Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaft organisierten Metallarbeiter zum Vortrag kamen, in: VS 20.5.1874, Nr. 58.]
Schließlich sollte mit der Feier selbst eine vorbildhafte Gemeinschaftlichkeit vorgeführt und erlebt werden, die als scharfer Gegensatz zur bestehenden Gesellschaft mit ihren sozialen Spannungen, aber auch mit ihren dekadenten Zügen gedacht wurde. So endet beispielsweise der Bericht von 1865 über das Stiftungsfest des ADAV in Solingen mit den Worten:

    „Es war aber auch eine rechte Freude mitanzusehen, mit welcher biederen Herzlichkeit sich die Mitglieder entgegen kamen. Es war ein Bild im Kleinen der Gesellschaft im Staate der Zukunft, welchen wir vermöge der Prinzipien unseres Vereins erringen wollen, des Staates der Freiheit, der Gleichheit und Brüderlichkeit." [Hervorhebung durch Kursivschrift, d. Verf.]
    [Fn-121: SD 1.7.1865, Nr. 79.]

Waren die Stiftungsfeste der Sozialdemokraten ganz bewusst als Gegenfeiern zu den bürgerlichen Stiftungsfesten geplant, so griffen sie doch in ihrer Formensprache manche Elemente dieser Lustbarkeiten auf. Bürgerliche Stiftungsfeste bestanden traditionell aus einer Vorfeier mit rednerischen und musikalischen Beiträgen und einem Festbankett mit Trinksprüchen und anschließendem Ball. [Fn-122: Vgl. Thomas Welskopp , 2000, 353; zur folgenden Argumentation vgl. 353-364.] Einem sehr ähnlichen Schema folgte z.B. noch 1865 die Stiftungsfeier des Augsburger ADAV, der nachstehendes Programm zugrundelag:

    „I. Abtheilung. Festmarsch (Musik). - Prolog von F.W. Fritzsche, gesprochen von Hrn. Rudolf. - Festrede, gesprochen von F. Dürr. - Gesang, Wo Freude ihre Kränze flicht, von F. Kücken, vorgetragen vom Verein

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    Amicitia. - Deklamation. Requiescat von Freiligrath, vorgetragen von Herrn Rudolf. - Vortrag von Hrn. Wahl. - Musik. - Vortrag von Herrn Ströbel. - Gesang. Frühlingslied von C.M. v. Weber, vorgetragen vom Vereine Amicitia. - Vortrag von Herrn Schützinger. - Musik. - Vortrag von Herrn Hohloch. - Gesang. Die offene See, vorgetragen vom Vereine Amicitia.
    II. Abtheilung. Tanz. - (Die Zwischenpausen wurden durch Gesang und Deklamation ausgefüllt.)"
    [Fn-123: SD 28.5.1865, Nr. 65, Beilage.]

Von einem Festbankett ist hier jedoch nicht mehr die Rede, und tatsächlich sollte dieses für bürgerliche Vereinsfeste so wichtige Element immer mehr in den Hintergrund treten. Dies war nicht alleine eine Folge der geringeren materiellen Ressourcen der sozialdemokratischen Vereine, sondern eine bewusste Abkehr vom „bürgerlich-dekadenten Luxus", so wie er z.B. in einem ironischen Gedicht über ein Festmahl zu Ehren Ernst Moritz Arndts angeprangert wird: „Ein herrlich' Geschlecht [die „Bourgeoisie", d.V.]! - Sie preisen beglückt / Bei Austern, Champagner und Braten, / Vom glorreich errungenen Siege entzückt, / Des deutschen Bürgerthums Thaten." [Fn-124: Aus I.B.v.H., „Bonn", in: SD 12.8.1865, Nr. 115.] In bewusster Opposition zur vorgeblichen bürgerlichen Dekadenz und Oberflächlichkeit wurde von einigen sozialdemokratischen Berichterstattern den Redebeiträgen auf ihren Feiern ein größerer Stellenwert zugeschrieben. So heißt es über eine Hamburger Stiftungsfeier des ADAV: „Diese Reden waren, wie sich das bei einem Stiftungsfest unseres Vereins von selbst versteht, das Wichtigste. Sie athmeten nicht, wie das wohl bei anderen Vereinen der Fall ist, die fade Oberflächlichkeit der Tagespresse, sondern sie stellten das zu Fleisch und Blut gewordene Wissen unseres verstorbenen großen Agitators dar, […]." [Fn-125: SD 28.5.1865, Nr. 65, Beilage.] Ob diese Hochschätzung der Reden aber tatsächlich auch zu ihrer formalen Aufwertung durch eine Aufspaltung der auf bürgerlichen Festen vorherrschenden Einheit von Redebeiträgen und künstlerischem Beiprogramm in eine Vorfeier mit der Festrede im Zentrum und in eine durch Lied- und Gedichtvorträge gestaltete Abendveranstaltung mit anschließendem Ball geführt hat [Fn-126: Vgl. Thomas Welskopp , 2000, 354.] , bleibt auf der Grundlage der hier untersuchten Zeitungsberichte fraglich. An manchen Orten scheint diese Trennung in „ernste" Vorfeier und „gesellige" Abendunterhaltung üblich gewesen zu sein, an anderen blieb die Einheit von Reden und künstlerischem Programm bis in die siebziger Jahre

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hinein jedoch erhalten. [Fn-127: Vgl. z.B. den Bericht über das Stiftungsfest des Arbeiterbildungsvereins in Hohenstein-Ernstthal in: VS 1.7.1874, Nr. 75 oder den Artikel über das Stiftungsfest des ADAV in Braunschweig in: NSD 20.7.1873, Nr. 82.] Möglicherweise wurde die Trennung in „ernste" und „gesellige" Feier eher dann vorgenommen, wenn das Stiftungsfest in einem lokal begrenzten Rahmen stattfand, während eine einzige Feier dann bevorzugt wurde, wenn auswärtige Vereine zu Besuch erwartet wurden. In diesem Fall bot sich offensichtlich noch eine andere Form der Feier an, bei der auf eine einzige längere Festrede sofort der Ball folgte, der dann jedoch meist durch Deklamationen oder Gesang unterbrochen wurde. [Fn-128: Vgl. z.B. den Bericht über das Stiftungsfest der Kölner Maurer in: VS 20.11.1872, Nr. 93 sowie über das Stiftungsfest der SAP in Neuschönefeld in: VS 24.3.1876, Nr. 35.] Die Erklärung für dieses Nebeneinander der Formen mag in der jeweils unterschiedlichen Teilnahme der Frauen liegen. Waren andere Vereine als Gäste geladen, so kamen sie meist mit Frauen. Die Anwesenheit von Frauen bei einer fast ausschließlich durch Reden gestalteten Feier wäre vermutlich als unpassend empfunden und darüber hinaus auch aufgrund des Vereinsgesetzes verboten worden. Eine Mischung aus Reden und „geselligen" Beiträgen erschien in diesem Fall sicherlich als angemessener. Daraus zu schließen, dass Frauen ausschließlich der geselligen Sphäre zugeordnet wurden und eigentlich nicht viel mehr als hübsche Dekoration sein sollten, wie sie es so oft auf den bürgerlichen Schiller- und Uhlandfeiern oder bei den Veteranentreffen waren, wäre sicherlich falsch. Natürlich unterstrich die Anwesenheit der Frauen den festlichen Charakter des Zusammentreffens; gleichzeitig warb man mit diesen Festen aber auch gerade um sie. Denn oft waren es wohl die Frauen, die das sozialdemokratische Engagement ihrer Männer misstrauisch beäugten, und sie hätten gewiss Moritz Brommes Ehefrau beigepflichtet, die ihrem Mann vorwarf:

    „Ich muss arbeiten, daß ich durchkomme, […] Du bekümmerst Dich nicht drum, […] Du läufst die Woche 3, 4 und 5 Abende in Partei-, Verbands- oder Konsumvereinssitzungen, und alles kostet Geld, […] Wenn ich mir da andere Männer bedenke. Die helfen ihrer Frau viel mehr als Du, […] Da kommst Du Abends heim, redest nicht mit mir, gibst kurze grobe Antworten, schreibst, liest, bis Du einschläfst […] Das nennst Du Ehe. Die Partei und Deine gu-

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    ten Freunde, denen doch meist die Falschheit aus den Augen schaut, die gehen vor." [Fn-129: Vgl. Moritz Th. W. Bromme , Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, (Nachdruck von 1905) Frankfurt / M. 1971, 355/356.]

Damit der häusliche Unfriede den Versammlungsbesuch der Männer nicht behinderte, musste also um die Unterstützung der Frauen geworben werden. Auch sollten die Frauen als Erzieherinnen der künftigen Sozialdemokraten angesprochen und gewonnen werden [Fn-130: Vgl. Thomas Welskopp , 2000, 362.] - dies war im übrigen ein Gedanke, der auch bei den Festen des Nationalvereins eine Rolle spielte, nur sollten die Frauen hier natürlich den späteren „Krieger" in ihren Söhnen formen. [Fn-131: Andreas Biefang , 1995, 34/35.] Im Gegensatz zu den bürgerlichen politischen Festen gab es bei den Sozialdemokraten jedoch auch Ansätze, die zeigten, dass Frauen zumindest von einigen nicht nur als „Gäste" auf diesen Festen angesehen wurden. [Fn-132: Vgl. Thomas Welskopp , 2000, 363.] Auf einem Stiftungsfest in Preetz durfte auch eine Frau, Madame Hetzel, einen Vortrag halten, im Anschluss an diesen Vortrag forderte der Bevollmächtigte die Anwesenden auf, „einander die Hand [zu] geben, zum Zeichen, daß sie sich wollen als Brüder und Schwestern lieben, zum Zeichen, daß sie die Organisation und die Prinzipien von Ferd. Lassalle treu und fest aufrecht erhalten wollen." [Fn-133: SD 28.6.1867, Nr. 75.] Noch deutlicher wird der Berichterstatter einer Lassalle-Feier in Remscheid, der die drei halbwüchsigen Töchter eines Sozialdemokraten namens Fischer, die sämtliche Lieder und Gedichte dieser Feier vorgetragen haben, als „weibliche Agitatoren" bezeichnet und beteuert:

    „Daß sie wirkliche Agitatoren sind, beweisen sie, denn wo die socialistische Idee auch nur im Geringsten verletzt wird, da sind sie am Platze, um unsere Gegner mit ihren Liedern zu schlagen. So ereignete es sich u.A., daß ein Herr den Versammelten das Sparen anpries, um Produktiv-Genossenschaften zu gründen, sogleich meldeten sich unsere drei fröhlichen Sängerinnen zu einem Gesang gegen die Ausführungen dieses Herrn, welcher mit stürmischen Beifall aufgenommen wurde. Hätten wir freies Versammlungsrecht, so würden sie der Madame Paul. Mink in Paris sehr wenig nachgeben."
    [Fn-134: SD 30.4.1869, Nr. 51.]

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Ob es sich hierbei nur um ein bloßes Lippenbekenntnis gehandelt hat, lässt sich schwer entscheiden, da das Vereinsrecht Frauen ja weiterhin von politischen Vereinen ausschloss. Als diese Klausel dann aber schließlich 1908 aufgehoben wurde, nutzten einige Arbeitergesangvereine diese Chance, so dass 1910 bereits jeder zehnte Arbeitergesangverein Frauen in seinen Reihen sah, während die bürgerlichen Männergesangvereine sich auch danach weigerten, Frauen als Mitglieder zuzulassen. [Fn-135: Vgl. Dietmar Klenke , Nationale oder proletarische Solidargemeinschaft? Geschichte der deutschen Arbeitersänger, Heidelberg 1995, 16 und Mühl , 1992, 68.]

Gerade auf den Stiftungsfesten überlagerten sich die Propaganda- und Geselligkeitsfunktionen des Gesangs in komplexer Weise. Ein Blick auf die gemeinsam gesungenen Lieder einerseits und das Repertoire der vortragenden Gesangvereine andererseits macht dies deutlich. Leider ist die Quellengrundlage für die Untersuchung des Repertoires vor 1878 bisher recht dünn. In publizierter Form sind nur zwei Programme von Arbeiterfesten zugänglich. [Fn-136: Es handelt sich um ein Stiftungsfestprogramm von 1872 und ein Märzfeierprogramm von 1876 in: Friedrich Knilli / Ursula Münchow , Frühes deutsches Arbeitertheater 1847-1918. Eine Doku mentation, München 1970, 156/157 und 166/167.] In den sozialdemokratischen Zeitungen sind ausführliche Programme selten. [Fn-137: Es konnten in den drei untersuchten Zeitungen drei detaillierte Stiftungsfestprogramme gefunden werden: Programm für das Stiftungsfest in Augsburg, SD 28.5.1865, Nr. 65, Beilage; Programm für die Leipziger Stiftungsfeier, SD 2.6.1865, Nr. 67 und Programm für das Stiftungsfest des Buchdruckergehülfen-Vereins, SD 5.12.1866, Nr. 182.] In den übrigen Berichten über die Stiftungsfeste werden einige der gesungenen Lieder oder vorgetragenen Gedichte erwähnt, offensichtlich werden „Arbeiterlieder" dabei jedoch stärker berücksichtigt als die aus dem bürgerlichen Repertoire übernommenen Gesänge. Dies muss bei der Analyse beachtet werden.

Eröffnet werden die meisten Stiftungsfeste offensichtlich durch Orchestermusik. Die ausführenden Orchester bzw. Blaskapellen waren vermutlich meist keine Arbeiter-Instrumentalgruppen, sondern lokale Ensembles, die für ihre Mitwirkung bezahlt wurden und deren Repertoire möglicherweise die Auswahl der Stücke mitbestimmt hat. [Fn-138: Werner Kaden weist darauf hin, dass das organisierte Laienmusizieren von Arbeitern erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt, in: ders., 1974, 51-65, hier: 60.] Gern wurden Märsche gespielt, auf die manches Mal noch die Ouverture einer damals beliebten, mehr oder weniger zeitgenössischen Oper folgte. So nennt ein Programm von 1866 den „Defilirmarsch" von Selchow, die Ouverture zu dessen Oper „Der Militairbefehl" und (als Beginn des zweiten Teils) den „Königsmarsch" des gleichnamigen Komponisten, während sich 1872 an den Andreas-Hofer-Marsch von Heinsdorf die Ouverture zu „Lestor" von Daniel F.E. Auber (1782-1871) an-

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schließt, auch der zweite und dritte Teil dieses Stiftungsfestkonzertes werden jeweils mit einer Ouverture eingeleitet (aus „Martha" von Friedrich von Flotow, 1812-1883, und aus „Die Felsenmühle" von Karl Gottlieb Reißiger, 1798-1859). Damit galt die Vorliebe offenbar Vertretern der komischen Oper bzw. opéra comique, die gerade für ihre volkstümliche Melodieführung bekannt sind. [Fn-139: Vgl. die Einordnung Aubers und Flotows in: Hans Renner , Geschichte der Musik, 2. Auflage, Stuttgart 1985, 415 und 425/426. Zu Reißiger vgl. Folker Göthel , Karl Gottlieb Reißiger, in: Friedrich Blume (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 11, Kassel u.a. 1963, 209-210.] Wären die Säle nicht mit schwarz-rot-goldenen und roten Fahnen sowie sozialdemokratischen Sinnsprüchen dekoriert gewesen [Fn-140: Vgl. Thomas Welskopp , 2000, 357.] , so hätte man zu diesem Zeitpunkt sicherlich noch meinen können, auf ein bürgerliches Stiftungs- oder Sängerfest geraten zu sein. Denn auch dort liebte man den festlichen Rahmen, den eine zu Beginn gespielte Ouverture dem Zusammentreffen verleihen konnte. Die Auswahl der Komponisten ähnelte sich. Die besondere Vorliebe für Carl Maria von Webers „Jubel-Ouverture" teilten die Sozialdemokraten allerdings nicht, vermutlich wegen des abschließenden „Heil dir im Siegerkranz", das die Beliebtheit dieser Ouverture in bürgerlichen Kreisen gerade erklärte. [Fn-141: Hermann J. Busch , „Gesangfeste" zwischen 1845 und 1871 im Spiegel der Zeitschrift „Euterpe", in: Sabine Schutte (Hg.), Ich will aber gerade vom Leben singen. Über populäre Musik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik, Reinbeck 1987, 60-85, hier: 64.] Bei bürgerlichen Festen schloss sich an die Ouverture häufig ein von allen gesungener Choral an. [Fn-142: Ebd.] Bei den Stiftungsfesten der Sozialdemokraten fehlten Choräle im eigentlichen Wortsinn völlig. An die Stelle der Choräle als einer Art christlicher Hymne konnten aber weitverbreitete „Arbeiterlieder" oder andere besonders feierliche Lieder treten, die mehr oder weniger die Funktion von Hymnen einnahmen. Im allgemeinen schlossen sich diese Lieder aber nicht an Eröffnungsmarsch und Ouverture an, sondern ersetzten diese bei weniger aufwendigen Stiftungsfesten in kleineren Gemeinden oder bei einer Gliederung des Stiftungsfestes in drei Teile, bei der der Redenteil natürlich nicht durch das Orchester, sondern durch ein gemeinsam gesungenes oder auch von einem Gesangverein vorgetragenes Lied eingeleitet wurde. Die an dieser Stelle gesungenen Lieder beschworen meist den Gedanken der Brüderlichkeit oder des Willkommens. Lidtke beschreibt ihre Funktion mit dem Begriff „invocation". [Fn-143: Vernon L. Lidtke , 1985, 105.] Manchmal wurden von den Mitgliedern ausschließlich für diesen Zweck gedachte Lieder zu bekannten Melodien gedichtet, die danach wieder in Vergessenheit gerieten oder nur

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eine lokal begrenzte Bedeutung erlangten. [Fn-144: So z.B. das vom Bevollmächtigten des ADAV in Donnerau, Friedrich Klein, zum Stiftungsfest in Wüste-Waltersdorf gedichtete „Guten Tag, Ihr lieben Brüder!" in: SD 2.6.1867, Nr. 65.] Drei Lieder tauchen jedoch immer wieder an dieser „liturgischen" Stelle auf: Es sind dies „Ein' feste Burg ist unser Bund", „Brüder, reicht die Hand zum Bunde" und „Des Schäfers Sonntagslied". Das erstgenannte Lied ist eindeutig ein Lied der Arbeiterbewegung. Es wurde 1865 von dem Dichter der Arbeitermarseillaise, Jacob Audorf jun., für die Lassalle-Feier in Hamburg zur Melodie des Luther-Chorals „Ein' feste Burg ist unser Gott" gedichtet und ist danach in viele Arbeiterliederbücher aufgenommen worden. [Fn-145: So z.B. in: Lieder für die Mitglieder des allgemeinen deutschen Arbeitervereins, gesammelt v. J.M. Hirsch, Erfurt o.J. um 1868., Nr. 7, 12/13 (künftig zitiert als: Lieder des ADAV, 1868) und Gedichte und Lieder freisinniger und besonders social-demokratischer Tendenz. Mit einem Anhange, enthaltend Mittheilungen aus den prinzipiellen Beschlüssen der Internationalen Arbeiter-Assoziation, zusammengestellt und mit einer Einleitung versehen von J. Franz, Zürich 1872, Nr. 20, 21/22 (künftig zitiert als: Freisinnige Gedichte, 1872).] Vom Text her stellt es wie die Arbeitermarseillaise die Forderung Lassalles nach freiem Wahlrecht hervor und ist von ähnlich kämpferischen Charakter. Durch die langsamen Notenwerte und kleinen Tonschritte wird aber der Gedanke der Einheit und Macht, der Siegesgewissheit wesentlich stärker betont. Damit eignete sich dieses Lied vor allem von seinem musikalischen Charakter her besser für die „liturgische" Stelle der Anrufung der Gemeinschaft als etwa die Arbeitermarseillaise, die bezeichnenderweise kein einziges Mal als Eröffnungslied eines Stiftungsfestes erwähnt wird. Die Nennung des Liedes „Brüder, reicht die Hand zum Bunde" bereitet im Rückblick Probleme, da sich nicht zweifelsfrei feststellen läßt, welche Fassung dieses Liedes gemeint ist. Der von einem unbekannten Dichter stammende Text wurde ursprünglich von Mozart für die in seinem Todesjahr 1791 geschriebene „Kleine Freimaurer-Kantate" vertont. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch war dieses Lied in fast allen Kreisen der Gesellschaft populär; es wurde sogar in das auf Anregung Wilhelms II. entstandene sogenannte „Kaiserliederbuch" aufgenommen. [Fn-146: Volksliederbuch für Männerchor, hrsg. auf Veranlassung seiner Majestät des Deutschen Kaisers Wilhelm II., 1. Band, Leipzig o.J. (1904?), Nr. 96, 212/213 (künftig zitiert als: Volksliederbuch, 1904).] Genau in dieser Fassung taucht es auch in Johann Mosts „Neuestem Proletarier-Liederbuch" auf. [Fn-147: Neuestes Proletarier-Liederbuch, gesammelt von Johann Most, zweite, verbesserte Auflage, Chemnitz 1872, Nr. 39, 70/71 (künftig zitiert als: Proletarier-Liederbuch, 1872).] Eine ganz andere Version findet sich jedoch in dem von Franz im

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selben Jahr herausgegebenen Liederbuch. [Fn-148: Freisinnige Gedichte, 1872, Nr. 22, 22/23.] Da in den Zeitungsberichten immer nur die erste Liedzeile genannt wird, ist die eine Version von der anderen nicht zu unterscheiden. Beide Liederbücher erschienen bis zu ihrem Verbot 1878 in vielen Auflagen, waren also offenbar beide recht verbreitet, und so ist zu vermuten, dass beide Fassungen gesungen wurden. Die bei Most abgedruckte Ursprungsfassung stellt - dem Gedankengut der Freimaurer entsprechend - die Werte der Freundschaft, der Wahrheit und der Tugend in den Vordergrund. In dem von Franz herausgegebenen Liederbuch werden diese Werte zwar aufgegriffen, aber es geht nicht mehr allein darum, sie in seinem eigenen Leben bzw. in der kleinen Gemeinschaft Gleichgesinnter zu leben, sondern die Freiheit aller Völker soll mit Vernunft und Wissen durch den Bund einiger weniger erkämpft werden. Mit einer Art Schwur, sich dieser „großen Sache" zu widmen, endet das Lied. Ganz anders und in der Zuordnung wesentlich leichter ist „Des Schäfers Sonntagslied". Diese Vertonung eines Uhland-Gedichtes von Konradin Kreutzer (1782-1849) gehörte zu den Standard-Stücken bürgerlicher Feste. [Fn-149: Vgl. Hermann Busch , 1987, 64.] Es überrascht darum etwas, sie fast ebenso häufig auf den Programmen sozialdemokratischer Feste zu finden. Nun gehört Ludwig Uhland allerdings zu den bürgerlichen Dichtern, die sich im Vormärz politisch engagiert hatten und dessen Erbe die Sozialdemokraten gerne für sich in Anspruch genommen hätten. Dies ist als Erklärung jedoch sicherlich nicht hinreichend, umso mehr, als es sich um ein gänzlich unpolitisches Gedicht Uhlands handelt. Der überaus feierliche Charakter des Liedes, der die Exzeptionalität des Festes durch die mehrmalige Wiederholung der Liedzeile „Das ist der Tag des Herrn" hervorhebt und der Feier eine fast religiöse Weihe verleiht, sowie die im Mittelteil ausgedrückte geheimnisvolle Ahnung einer größeren Gemeinschaft der „Gläubigen" mögen für die Popularität des Liedes in sozialdemokratischen Kreisen mitverantwortlich sein. Wichtiger erscheint jedoch, dass die Stiftungsfeste der Sozialdemokraten auch Werbeveranstaltungen waren, die, wenn sie Erfolg haben wollten, einige bekannte Elemente anbieten mussten. Diese These gewinnt durch den weiteren Verlauf der Stiftungsfeste an Plausibilität: Nach der musikalischen Einleitung folgte im allgemeinen der gedichtete Festprolog und die Festrede. Danach schlossen sich weitere Festreden oder kürzere Ansprachen bzw. Grüße von anderen Gemeinden an, die mit Gesangsvorträgen, „Volksgesang" und Deklamationen wechselten. Die meist von den eigenen Männer-Gesangvereinen aufgeführten Lieder entstammten z.T. dem auch auf bürgerlichen Festen gepflegten Repertoire. So wurden gerne unpolitische „Naturlieder" von populären Komponisten wie Franz Abt (1819-1885), Carl Maria von Weber (1786-1826) und F. Kücken gesungen. Im Unterschied zu bürgerli-

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chen Festen wurden die bekannten patriotischen Lieder sehr selten gesungen - mit einer bedeutenden Ausnahme: In mehreren Berichten wird der Gesang bzw. der Vortrag von Ernst Moritz Arndts „Was ist des Deutschen Vaterland" erwähnt. [Fn-150: Vgl. z.B. den Bericht über das Hamburger Arbeiter-Verbrüderungsfest in: SD 10.8.1865, Nr. 133 oder über den Arbeitertag in Braunschweig in: SD 12.7.1867, Nr. 81.] Nach 1871 wird dieses Lied allerdings in keinem Bericht mehr genannt. Wenn man berücksichtigt, dass besonders vor dem Krieg gegen Frankreich nationale Ideen in der Sozialdemokratie durchaus verbreitet waren, so erstaunt diese Feststellung nicht so sehr. Dieses von Arndt während der Befreiungskriege 1813 gedichtete Lied basiert auf dem Gedanken von Deutschland als einer Kulturnation, so wie es in der sechsten Strophe besonders deutlich zum Ausdruck kommt: „Was ist des Deutschen Vaterland? / So nenne endlich mir das Land! / So weit die deutsche Zunge klingt / Und Gott im Himmel Lieder singt. / Das soll es sein, […]." [Fn-151: Vgl. z.B. Volksliederbuch, 1904, Nr. 135, 304-307 bzw. den Text im Anhang dieser Arbeit.] Eine mögliche Regierungsform wird nicht angesprochen, und so zählte dieses Lied schon 1848 zu den Lieblingsliedern aller politischen Lager, die in irgendeiner Weise die nationale Einigung wollten. Dies erklärt, warum es in den sechziger Jahren auch in der Sozialdemokratie noch populär war. Nach 1871 war der Gedanke der nationalen Einigung für die Sozialdemokraten durch die tatsächliche Reichseinigung unter preußischer Führung diskreditiert, und damit verlor die Arndtsche Vision an Anziehungskraft. Im bürgerlichen Lager büßte es um diese Zeit im übrigen auch seine Bedeutung zugunsten der „Wacht am Rhein" [Fn-152: Vgl. den Text dieses Liedes im Anhang dieser Arbeit.] ein. Neben diesen Überschneidungen mit dem bürgerlichen Repertoire stellten die Sozialdemokraten auf den Stiftungsfesten auch ihre eigenen Lieder vor. Abgesehen von den bereits vorgestellten „Arbeiterliedern" waren dies vor allem solche, die man in den verbreiteten sozialdemokratischen Liederbüchern oder Zeitungen findet. Diese wurden zum Teil in vierstimmigen Sätzen vorgetragen, z.T. aber auch gemeinsam einstimmig gesungen. [Fn-153: Vgl. z.B. SD 5.12.1866, Nr. 182; SD 30.6.1867, Nr. 76; SD 12.7.1867, Nr. 81; SD 5.6.1868, Nr. 65; VS 19.3.1870, Nr. 23 und VS 3.9.1876, Nr. 103.] Dieser Befund widerspricht ganz eindeutig der Vermutung Körners, die Liederbücher hätten vorwiegend der „stillen Lektüre" gedient. [Fn-154: Axel Körner , 1997, 120.] Auch das Argument, die Aufnahme von Deklamationen in die Liederbücher beweise, dass diese vornehmlich zur Lektüre gedacht gewesen wären, verliert an Durchschlagskraft, wenn man in den Quellen entdeckt, dass der Gedichtvortrag auf den Stiftungsfesten eine große Rolle gespielt hat. Im Wechsel mit den Liedern

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wurden die Pausen zwischen den Reden mit Deklamationen ausschließlich politischer Gedichte gefüllt. Auf den Programmen finden sich sehr häufig die großen Werke des Vormärz wie z.B. die Freiligrath-Gedichte dieser Epoche, „Die schlesischen Weber" Heines oder die Schöpfungen Adalbert von Chamissos. Daneben stehen die aktuellen „Produktionen" eines Georg Herwegh oder Otto Kapell bzw. die von den lokalen Mitgliedern aus Anlass der Stiftungsfeste verfassten Reime, die manches Mal auch in den sozialdemokratischen Zeitungen in voller Länge abgedruckt wurden. Aus der großen klassischen Tradition wird nur Schiller rezitiert, mit besonderer Vorliebe der große Monolog des Titelhelden aus seinem „Wilhelm Tell" (1804). Dieser Auszug, in dem die Obrigkeit in Gestalt Geßlers der Verderbtheit angeklagt und damit ihre Legitimation bestritten wird, ließ sich natürlich besonders gut in eine literarische Tradition integrieren, die ihre Auswahl vor allem unter dem Gesichtspunkt des Kampfes der Unterdrückten um Freiheit trifft. Bei größeren Stiftungsfesten wurde manches Mal auch eines der sozialdemokratischen Theaterstücke aufgeführt, die die wesentlichen Elemente des sozialdemokratischen Programms in Form eines Frage- und Antwortspiels oder mittels allegorischer Bilder darstellten. [Fn-155: Vgl. z.B. das Programm des Berliner Stiftungsfestes von 1872, zitiert in: Friedrich Knilli / Ursula Münchow , 1970, 156/157. Besonders populär waren Jean Baptiste von Schweitzers „Lehrstücke" „Ein Schlingel" (1867) und „Eine Gans" (1869), wiederabgedruckt in: Bernd Witte (Hg.), Deutsche Arbeiterliteratur von den Anfängen bis 1914, Stuttgart 1977, 162-176 bzw. in: Friedrich Knilli / Ursula Münchow , 1970, 106-140. Insgesamt sind für die Zeit vor 1878 etwa zwanzig solcher Agitationsstücke bekannt, vgl. Peter von Rüden , Sozialdemokratisches Arbeitertheater (1848-1914), Frankfurt a.M. 1973, 50. Zur Bewertung dieser Stücke vgl. auch Bernd Witte , 1977, 16-27.]

Der Reden- bzw. Konzertteil des Stiftungsfestes wurde zumeist mit einem gemeinsam gesungenen Lied abgeschlossen. Dieser Brauch entspricht den Gepflogenheiten bürgerlicher Feste, die meist mit einem von allen Mitwirkenden gesungenen Vaterlandslied endeten. [Fn-156: Hermann Busch , 1987, 64.] Bei den Sozialdemokraten stand an dieser Stelle häufig das eigentliche Festlied: In manchen Jahren gab es offensichtlich ein von den Parteien empfohlenes Stiftungsfestlied wie das „Lied der französischen Arbeiter" von Pierre Dupont in der Übersetzung Alfred Meißners im Jahre 1865 oder das von Jacob Audorf für das Jahr 1867 gedichtete „Auf in Süd' und Norden". [Fn-157: Vgl. SD 24.5.1865, Nr. 64 und SD 10.5.1867, Nr. 56.] In anderen Jahren wurden von lokalen Mitgliedern verfasste Stiftungsfestlieder gesungen, die wohl bisweilen die Kerngedanken der Festrede „reproduzirten". [Fn-158: VS 5.3.1873, Nr. 19.] Bei dem sich anschließenden Ball stand für die Sozialdemokraten die Geselligkeit an oberster Stelle, so

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dass gewöhnlich nur noch humoristische Lieder und Gedichte zum Vortrag kamen. [Fn-159: Vgl. z.B. SD 28.6.1867, Nr. 75.] Wie bereits angedeutet, sollte gerade diese Mischung aus geselligen und politischen Elementen Vorbild für eine künftige Kultur sein und zugleich die Mitglieder durch dieses „erhebende" und „würdige" Gemeinschaftserlebnis emotional enger an den sozialdemokratischen Verein binden. Potentielle Mitglieder sollten durch die geselligen Elemente „angelockt" werden in der Hoffnung, dass auf diesen Festen nebenbei auch politische Überzeugungsarbeit geleistet werden konnte. Dieser werbende Charakter der sozialdemokratischen Stiftungsfeste ist sicherlich ein wesentlicher Unterschied zu den bürgerlichen Festen.

1.2.2 Propaganda und Geselligkeit: Arbeiterverbrüderungsfeste und Ausflüge

Noch stärker in den Vordergrund trat dieses Element bei den sogenannten Arbeiterverbrüderungsfesten, bei denen sich Vereine verschiedener geographischer Herkunft an einem Ort trafen. Diese Feste waren auch deshalb besonders öffentlichkeitswirksam, weil sie gewöhnlich mit einem großen Festzug durch die Stadt begannen, der nach Welskopp als „bewußte Konzessi- on[ ]" an die ältere Festkultur spätständischer Gruppierungen mit dem Ziel ihrer „affektiven Vereinnahmung" gewertet werden kann. [Fn-160: Thomas Welskopp , 2000, 372.] Dementsprechend waren die Festzüge auch häufig nach Gewerken gegliedert und wurden oft von einem oder mehreren Musikcorps begleitet. [Fn-161: Vgl. z.B. die ausführliche Schilderung des Hamburger Arbeiterverbrüderungsfestes in SD 10.8.1865, Nr. 113.] Über die von diesen Blaskapellen während des Festzuges gespielte Musik wird nichts berichtet, doch ist anzunehmen, dass sie den Instrumentalbeiträgen auf den Stiftungsfesten ähnelte. Der Festzug endete normalerweise an einem Festlokal mit Garten oder auf einem freien Platz wie etwa dem Heiliggeistfeld in Hamburg. [Fn-162: Ebd.] Der sich anschließende Reden- und Konzertteil entsprach im wesentlichen dem ersten bzw. ersten und zweiten Teil des Stiftungsfestes, danach folgte wie bei den Stiftungsfesten ein Ball. Die Reden waren jedoch kürzer, und die Gesangvereine boten möglicherweise häufiger patriotisch-nationale Lieder dar. [Fn-163: Vgl. Thomas Welskopp , 2000, 374f. In den von mir untersuchten Zeitungsberichten tritt dieser Unterschied nicht so deutlich hervor.] Aber auch die sozialdemokratischen Lieder fehlten nicht, sie dienten allerdings nicht als Einleitungshymne. Im allgemeinen wurden die Texte dieser Lieder auf dem Festprogramm abgedruckt und konnten also nach Ab-

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schluss des Festes mit nach Hause genommen werden, um einmal wieder gesungen oder gelesen zu werden. Diese Lieder wurden so gut wie ausschließlich auf die Melodien bekannter patriotischer Lieder gedichtet, die den späteren Sozialdemokraten in der Schule beigebracht worden waren, wie die Klagen über die erzwungene Teilnahme der Kinder an den Gesangsdarbietungen des Sedanfestes zeigen. Ein Bericht über ein sozialdemokratisches Familienfest erwähnt, dass die Kinder bisweilen die „Wacht am Rhein" gesungen hätten, „weil den Kindern die modernen Gassenhauer stets geläufig sind." [Fn-164: Bericht über ein Familienfest der Arbeiter in Chemnitz, in: VS 18.8.1875, Nr. 94.] Die Tatsache, dass die patriotischen Melodien der gesamten Bevölkerung „geläufig" waren, war sicherlich ein Grund, warum man sich innerhalb der Sozialdemokratie des Kontrafakturverfahrens bediente. [Fn-165: Vgl. dazu auch Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit.]

Der Staat war sich der Propagandafunktion dieser auf den Festprogrammen abgedruckten Arbeiterlieder sehr wohl bewusst und versuchte diese Form der Liedpropaganda möglichst zu unterbinden. Dies wird z.B. an dem 1874 gegen Wilhelm Heinsch angestrengten Prozess deutlich, der wegen des auf einem Festprogramm verteilten Liedes „Arbeitend leben oder kämpfend in den Tod" vor Gericht zitiert wurde. Der Staatsanwalt schätzte in der Gerichtsverhandlung die Wirkung des Liedes sogar so hoch ein, dass er vermutete, nach dem ersten Teil des Festprogramms habe „eine allgemeine Revolte beginnen solle[n]". Dies wies Heinsch vor allem mit dem Hinweis auf die anwesenden Frauen und Kinder zurück. [Fn-166: Vgl. den Bericht über die Gerichtsverhandlung in VS 18.1.1874, Nr. 7.]

Auch bei den mindestens einmal pro Jahr stattfindenden Ausflügen oder Landpartien konnten die Lieder eine solche Propagandafunktion einnehmen. Ähnlich wie die Arbeiterverbrüderungsfeste begannen sie oft mit einer Art von Festzug, der aber in diesem Fall eher die Form eines Sternmarsches annahm. Welskopp weist darauf hin, dass damit eine „gebräuchliche[ ] Konfliktform streikender Gesellen" aufgenommen wurde. [Fn-167: Thomas Welskopp , 2000, 345.] Der Endpunkt dieser Sternmärsche war ein im Grünen gelegenes Lokal oder auch nur ein schöner Platz im Wald. Bei sehr großen Ausflügen, an denen viele Gemeinden teilnahmen, stand der repräsentativ-werbende Charakter vermutlich stärker im Vordergrund und prägte die Auswahl der vorgetragenen oder gemeinsam gesungenen Stücke in ähnlicher Weise wie bei den Stiftungs- oder Arbeiterverbrüderungsfesten. Oft fanden diese Ausflüge aber auch in kleinerem Rahmen und in weniger organisierter Form statt. In diesem Fall stand das gemeinschaftliche Naturerlebnis im Vordergrund. Diese Verbundenheit wurde durch „Volksgesang" fast ausschließlich sozialdemokratischer Lieder unterstrichen.

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Als repräsentativ für diese Art von Ausflügen kann folgende Schilderung gelten:

    „In einem Walde, wo wir uns lagerten, wartete schon ein gutes Fäßchen Bier auf uns, welches Allen sehr erwünscht war. […] Hier wurden nun mehrere Artikel aus dem ‚Social-Demokraten‘ vorgelesen und die Mitglieder ermahnt, treu und fest zur großen Sache, für welche wir zu kämpfen haben, zu stehen. Auch wurden mehrere Lieder, unter anderen das Lied Arbeitertreue von Ludw. Würkert [ein Lied über den Tod und die Bedeutung Lassalles, d.V.] gesungen, dann noch ein Hoch auf unseren Präsidenten B. Becker und auf den ‚Social-Demokraten‘ ausgebracht und hierauf der Rückzug angetreten."
    [Fn-168: Ausflug der ADAV-Mitglieder aus Bensberg in: SD 10.10.1865, Nr. 65.]

Es scheint, als ob die meist kleinformatigen und preiswerten Liederbücher auf diese Ausflüge häufig mitgenommen wurden - unter anderem wohl auch in der Absicht, sie als „Propagandamaterial" zu verschenken. So wird von einem Pfingstausflug einiger Königsberger Sozialdemokraten im Jahre 1874 berichtet:

    „Das Gasthaus, in welchem die bösen Sozialdemokraten eingekehrt waren, wurde scharf bewacht, doch ließ man sie unbehelligt. Nachdem man sich den größten Theil des Nachmittags amüsirt, unternahmen eine Anzahl derselben einen kleinen Spaziergang nach dem andern Gasthaus, welches am obern Ende des Dorfes sich befindet. Hier trafen dieselben eine Anzahl ländlicher Arbeiter; man unterhielt sich. Als jedoch einige Parteigenossen den Landleuten ihre Liederbücher als Geschenke anboten, sprang wie ein Tieger der Retter der Gesellschaft in Gestalt des Ortspolizeibeamten aus dem Nebenzimmer heraus und wollte dies verbieten, […] Das Singen eines Liedes war schon vorher verboten worden."
    [Fn-169: VS 3.6.1874, Nr. 63.]

An diesem Zitat wird noch einmal deutlich, dass Lieder und Liederbücher von beiden Seiten als Medium zur Vermittlung von politischen Gedanken sehr ernst genommen und darum von der Polizei auch entsprechend überwacht bzw. verfolgt wurden. Aber Arbeiterlieder wurden nicht nur auf „offiziellen" Veranstaltungen der Sozialdemokraten gesungen, sondern auch dann, wenn

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man mit Genossen etwas zusammen unternahm oder gemeinsam im Wirtshaus saß. So berichtet Eduard Bernstein, dass er sonntags mit seinen Freunden Ausflüge zum Schlachtensee machte und sie gemeinsam auf dem Wasser „Parteilieder" sangen. [Fn-170: Eduard Bernstein , Sozialdemokratische Lehrjahre, (Nachdruck von 1928) Berlin 1990, 15/16.] 1865 schickt ein „Arbeiter am Rhein" das unter dem Titel „Sand in die Augen" sehr populär gewordene Spottlied über Hermann Schulze-Delitzsch mit dem Kommentar an den Social-Demokrat:

    „Ich schicke Ihnen dieses Gedicht, das hier überall gesungen wird und das wir auch nach der Generalversammlung Abends im Wirthshaus bei unserem gemüthlichen Zusammensein gesungen haben. Von wem es ist weiß Niemand, aber es wird überall gesungen und ist sehr schön und ist gewiß von einem Arbeiter."
    [Fn-171: SD 15.1.1865, Nr. 9.]

Und auch Moritz Bromme erzählt, wie er auf dem Rückweg von der ersten Versammlung, die er nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 mit Bekannten zusammen besucht hat, in einem Lokal einkehrt:

    „In dieser Kneipe wurde zunächst natürlich über die Versammlung, dann über die Wahl im Allgemeinen gesprochen und endlich trug einer freie, politische Lieder vor. […] Ein Lied begann: ‚Ich bin Soldat, doch bin ich es nicht gerne, […]‘ Dann wurde noch nach der Melodie von Andreas Hofer gesungen ‚Wer schafft das Gold zu Tage, wer hämmert Erz und Stein?‘ […] Gegen ½ 3 Uhr Morgens rückten wir endlich ab. In einem Gehölz wurde eine lange Stange los gemacht und mehrere rote Taschentücher daran befestigt. […] Auf dem ganzen Wege wurden Lieder gesungen, aber das waren nicht lauter revolutionäre, denn eins war dabei, das ich nicht wieder gehört habe, das aber sehr patriotisch klang. ‚An der Weichsel fern im Osten, - stand ein Ulan auf seinem Posten, - ei sieh da kam ein schönes Mädchen, - brachte Blumen aus dem Städtchen, - ei sieh da kam usw. usw.’"
    [Fn-172: Moritz Th. W. Bromme , 1971, 131/132.]

Das Singen politischer Lieder war - das zeigen diese Zitate - auch Bestandteil der Geselligkeit von Sozialdemokraten außerhalb des Rahmens fester sozialdemokratischer Veranstaltungen geworden, ähnlich wie andere Gruppen der

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Gesellschaft die „Wacht am Rhein" oder andere patriotische Lieder im Wirtshaus oder auf der Straße sangen. [Fn-173: Vgl. den Bericht über den Wirtshausbesuch eines Sozialdemokraten in Sorau in: NSD 29.8.1873, Nr. 99 oder die Episode in Bernsteins Autobiographie, wo einige Offiziere sich dem vermeintlichen Gesang der „Wacht am Rhein" anschließen wollen - der sich dann aber als Singen des Liedes „Arbeiter-Feldgeschrei" von Hermann Greulich herausstellt, in: ders., 1991, 18.] An der Schilderung Brommes ist besonders interessant, welche Lieder er aufzählt. Das erstgenannte Lied „Ich bin Soldat, doch bin ich es nicht gerne" erlangte unter den Sozialdemokraten während des deutsch-französischen Krieges einige Popularität; 1871 wurden ein Buchdruckereibesitzer und ein Schriftsetzer aus Zwickau des Hochverrats angeklagt (und später freigesprochen), weil sie dieses Lied in 800 bis 900 Exemplaren hatten verbreiten wollen. [Fn-174: Vgl. den Bericht über die Gerichtsverhandlung in Zwickau in: VS 5.4.1871, Nr. 28.] Auch „Wer schafft das Gold zu Tage?" zählte zu den bereits vor dem Sozialistengesetz „verfolgten" Liedern: Im August 1874 wurde gegen den Eisenacher Sozialdemokraten Giffey und sechzehn weitere „Genossen" ein Prozess eröffnet, weil sie für den Abdruck dieses Liedes auf dem Programm eines Arbeiterverbrüderungsfestes verantwortlich zeichneten; der Hauptangeklagte Giffey wurde zu drei Monaten Haft verurteilt. [Fn-175: Vgl. die Berichte über den Prozess in Eisenach in: VS 14.8.1874, Nr. 94, VS 19.8.1874, Nr. 96 und VS 21.10.1874, Nr. 123.] Beide Lieder gehörten ohne Zweifel zu den radikaleren Arbeiterliedern, und so könnte es überraschen, sie in umittelbarer „Nachbarschaft" eines patriotisch klingenden Liedes spontan gesungen zu wissen. Das Lied „An der Weichsel fern im Osten" konnte mit der geringfügig veränderten ersten Liedzeile „An der Weichsel gegen Osten" in einer zeitgenössischen Liedsammlung gefunden werden. [Fn-176: Auf Posten, in: Deutscher Liederhort. Auswahl der vorzüglicheren Deutschen Volkslieder, nach Wort und Weise der Vorzeit und Gegenwart gesammelt und erläutert von Ludwig Erk, neubearbeitet und fortgesetzt von Franz W. Böhme, Bd. 3, Leipzig 1894, 286/7.] In dieser Liedsammlung wird es als „viel gesungene[s] Soldatenlied" bezeichnet, das vermutlich bald nach 1815 entstanden sei. [Fn-177: Deutscher Liederhort, Bd. 3, 287.] Dieses Lied schildert in lustig-sentimentaler Weise die „Tändelei" eines Soldaten mit einem „feindlichen" Mädchen. Die von Bromme gewählte Charakterisierung dieses Liedes als „patriotisch" muss damit relativiert werden. Das fragliche Lied war nicht im eigentlichen Wortsinn patriotisch, sondern es erzählte eine Liebesgeschichte, wie sie ähnlich auch in vielen Volksliedern dargestellt wurde. Einzig die Tatsache, dass einer der Protagonisten ein Soldat ist, scheint dieses Lied in die Nähe des „Reichspatriotismus" zu rücken; dies wollte Bromme vermutlich mit dem Begriff „patrio-

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tisch" ausdrücken. In diesem Lied wird aber gerade nicht die deutsche Nation als überlegen gezeigt und ein aggressiver Kampfwille beschworen, sondern die Begegnung zwischen einem Soldaten und einem „feindlichen" Mädchen wird als eine friedlich-menschliche geschildert. Damit entspricht dieses Lied der von den Sozialdemokraten in ihren Liedern und Gedichten der siebziger Jahre eingenommenen Haltung gegenüber der eigenen und anderen Nationen, wie sie in einem späteren Kapitel noch beschrieben werden soll. [Fn-178: Vgl. Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Arbeit.]

1.2.3 Rituale der Selbstvergewisserung und der Stärkung von Gemeinschaft - Die Lassalle-Feiern

Einen gewissen Sonderstatus in Hinblick auf Ablauf und Auswahl des Repertoires nahmen dagegen die sogenannten Lassalle-Feiern ein. Nach einem Beschluss der ersten Generalversammlung des ADAV im Jahre 1864 sollte der 31. August als Todestag Ferdinand Lassalles jedes Jahr in allen ADAV-Gemeinden „feierlich begangen" werden. [Fn-179: Vgl. Protokolle und Materialien des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, 1980, 8.] Der Brauch, eine Totenfeier Lassalles unter Anteilnahme der Familien der Mitglieder zu gestalten, setzte sich sehr schnell durch und bildete in den sechziger und siebziger Jahren das Gerüst des weitverbreiteten Lassalle-Kults. Die SDAP lehnte diesen Personenkult offiziell ab, nichtsdestotrotz feierten auch einige Lokalvereine der SDAP den 31. August. Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes verlor der Lassalle-Kult und damit auch die Lassalle-Feier immer mehr an Bedeutung.

Sollten die Stiftungsfeste in erster Linie die Respektabilität und Leistungsfähigkeit des Vereins sich selbst und anderen gegenüber demonstrieren, so boten die Lassalle-Feiern ein Ritual der kollektiven Selbstvergewisserung und umgaben den Zusammenschluss in einem Bund mit einer quasi-religiösen Weihe. Wurde so die Atmosphäre der Stiftungsfeste im wesentlichen durch den Wechsel von ernsten, teilweise auch ergreifenden Elementen und von fröhlich-sentimentalen Beiträgen bestimmt, so waren die Lassalle-Feiern durch eine fast sakrale Würde gekennzeichnet. Dieser Unterschied drückte sich in der gesamten Festgestaltung aus. Im Gegensatz zu den Stiftungs- und Arbeiterverbrüderungsfesten, die aus Festzug, Redenteil, geselligem Zusammensein oder Konzert und abschließendem Ball in unterschiedlicher Zusammensetzung bestanden, beging man den Todestag Lassalles in aller Regel mit einer einzigen Feier, was den Charakter des Festes als eine Art sakraler Ritus noch unterstrich. Die These Welskopps, die Lassalle-Feiern hätten die übliche Dreifachgliederung der anderen Feste übernommen und sich nur durch ihr „schwülstiges Pathos" von diesen unterschieden, läßt sich durch die Vielzahl

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an Berichten, die sich im Social-Demokrat und im Neuen Social-Demokrat finden, nicht bestätigen. [Fn-180: In den über fünfzig Berichten über Lassalle-Feiern wird nur ein einziges Mal ein Ball erwähnt, vgl. Lassalle-Feier in Iserlohn, SD 7.11.1869, Nr. 131.] Die Berichte, auf die sich Welskopp stützt, beziehen sich auf Feiern anlässlich des Geburtstages von Lassalle am 11. April, der in einigen Gemeinden ebenfalls gefeiert wurde und in der Tat den Stiftungsfesten sehr ähnlich war, so dass er hier nicht gesondert behandelt werden soll. [Fn-181: Vgl. Thomas Welskopp , 2000, 367f.] Trotzdem finden sich - wie im folgenden gezeigt werden wird - einige Übereinstimmungen zwischen der Gestaltung der Todesfeiern Lassalles und den Strukturelementen der Stiftungsfeste.

Die eigentlichen Lassalle-Feiern, d.h. die Todesfeiern Lassalles, werden in den Berichten immer wieder durch die Epitheta „ernst", „ergreifend" und „würdig" charakterisiert. Besonders kennzeichnend für die Stimmung dieses Festes ist folgende Beschreibung August Geibs: „Um 12 Uhr trat Schluß ein und still, die Eindrücke des Tages mit sich nehmend, trennten sich die Versammelten." [Fn-182: Bericht über die Lassalle-Feier in Hamburg in: SD 11.9.1868, Nr. 106.] Zu dieser besinnlichen Atmosphäre hätte ein abschließender Ball schlecht gepasst, wie die empörte Zurückweisung dieser Vermutung durch den Berichterstatter der Braunschweiger Lassalle-Feier von 1867 zeigt: „Weil die Frauen eingeladen waren, so hatten unsere Gegner ausgesprengt, wir wollten am Schlusse zur Todtenfeier ein Tänzchen machen! Und viele Leute hatten diesen Unsinn geglaubt!" [Fn-183: SD 13.9.1867, Nr. 108.]

Die Feier begann im allgemeinen mit einem Trauermarsch, der häufig entweder aus der Feder von Richard Wagner (1813-1883) oder Giuseppe Verdi (1813-1901) stammte. Von Wagner wurden vorwiegend Märsche aus zwei Opern gespielt, nämlich aus „Rienzi" (1842) und aus „Tannhäuser" (1845). Dies mag zwei Gründe haben: Zum einen wurden beide Werke in zeitlicher Nähe zu Wagners Engagement beim Dresdner Maiaufstand und vor allem vor seiner Wandlung zum Franzosenhasser und Kaiserpanegyriker 1870/71 geschrieben, zum anderen ist „Rienzi" und in den Chor- und Massenszenen auch „Tannhäuser" noch weitgehend der traditionellen „großen Oper" verpflichtet. [Fn-184: Vgl. Hans Renner , 1985, 464-489.] Ähnlich wie bei den instrumentalen Beiträgen der Stiftungsfeste gilt also hier die Vorliebe zeitgenössischen Komponisten, die aber dem Anlass entsprechend eher den Vertretern einer „ernsten" und „bedeutungsvollen" Gattung zuzurechnen sind. Fand die Lassalle-Feier in kleinerem Rahmen statt, so konnte der einleitende Trauermarsch wie der Marsch und die Ouverture bei den Stiftungsfesten durch ein hymnenartiges Lied ersetzt werden. Auch hier griff man vorwiegend auf die Lieder „Brüder reicht die Hand zum Bun-

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de", „Ein' feste Burg ist unser Gott" und „Dies ist der Tag des Herrn" zurück. Der weitere Verlauf der Feier wurde durch den schon von den Stiftungsfesten her bekannten Wechsel von Redebeiträgen und Deklamationen bzw. Gesangseinlagen bestimmt. Die Festreden widmeten sich in der Regel dem Leben und Wirken Lassalles und den Errungenschaften und Zielen des ADAV; bisweilen wurde auch der Lassalle gewidmete „Gedenkartikel" aus dem Social-Demokrat vorgelesen. Eine der Reden wandte sich besonders an die Frauen, deren Verantwortung für das politische Wirken ihrer Männer und Söhne herausgestellt wurde, die man aber auch manches Mal zu eigenem Engagement im Rahmen von Arbeiterfrauen und -mädchenvereinen aufforderte. Zwischen den Reden wurden viele Lieder vorgetragen und gesungen, in den siebziger Jahren standen häufig auch sozialdemokratische Theater- bzw. „Lehr"-Stücke auf dem Programm. [Fn-185: Bei den Lassalle-Feiern wurde offensichtlich häufig das von Lassalle 1859 selbst geschriebene Reformationsdrama „Franz von Sickingen" mit verteilten Rollen gelesen, wie z.B. der Bericht über die Frankfurter Lassalle-Feier nahelegt, in dem bedauert wird, dass der „Franz von Sickingen" wegen des Krieges nicht wie gewöhnlich habe aufgeführt werden können, in: SD 16.9.1870, Nr. 108. Zu dem Stück vgl. Peter von Rüden , 1973, 19-21. Neben Lassalles „Sickingen" gelangten auch Jean Baptiste von Schweitzers „Lehrstücke" „Ein Schlingel" und „Eine Gans" zur Aufführung, vgl. dazu Anmerkung 155.] Aus dem bürgerlichen Repertoire wurden einige Grab- und Abendlieder übernommen, deren Charakter der ernsten und besinnlichen Stimmung entsprach. Hier stehen die Lieder von Franz Abt wieder an erster Stelle der Beliebtheitsskala, aber es werden ebenfalls die Namen anderer, damals populärer Liedkomponisten genannt wie etwa Karl Friedrich Zöllner (1800-1860) [Fn-186: Zöllner war der Schöpfer zahlreicher Kompositionen für vierstimmigen Männergesang, er gehörte aber auch zu den als Dirigent und Gründer von Männerchören herausragenden Figuren des 19. Jahrhunderts. So gründete er 1833 einen ersten Männergesangverein unter dem Namen „Zöllner verein", weitere folgten. Nach seinem Tod vereinigten sich diese zum Zöllnerbund, vgl. Meyers Konversationslexikon, 1897.] oder Friedrich Schneider (1786-1853). [Fn-187: Auch Schneider, der vor allem protestantische Choräle schuf, war auf dem Feld des Männerchorge sangs sehr aktiv, in Meyers Konversationslexikon von 1897 findet sich unter seinem Namen die folgende Einschätzung: „Bei seinen Zeitgenossen stand S. in so hohem Ansehen, daß kaum ein größeres Musikfest verging, bei welchem S. nicht entweder als Dirigent oder als Komponist beteiligt war."] Auch „vaterländische" Lieder tauchen hin und wieder auf, so Konradin Kreutzers Uhland-Vertonung „An das Vaterland", Franz Abts „Deutschland" oder Julius Ottos (1804-1877) „Das treue deutsche Herz", ein Lied, das nach 1871 zur beliebtesten Männerchorhymne des Deutschen Sängerbundes avancierte. [Fn-188: Vgl. Dietmar Klenke , 1994, 207.] Diese Lieder stellen anders als Arndts „Was ist des Deutschen Vaterland?" die Liebe zu Deutschland und die „deutschen" Tugenden der Treue

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und Opferbereitschaft in den Vordergrund, eine Form des Patriotismus, die gut zur Stilisierung Lassalles als ausgesprochen „deutscher" Mann passt, wie sie z.B. in folgendem Lied vorgenommen wird: „Vaterland in Deinen Gauen / Wuchs der große Mann einst auf: / Deutschland, Deinen Siegeslauf / Sollen Deine Völker schauen: […] Lassall' hoch! - Du deutscher Mann! / Lassall' hoch Du freier Mann!" [Fn-189: „Lassalle hoch!", in: SD 3.12.1869, Nr. 142.] Den größten Platz nahmen aber die von mehr oder weniger bekannten Mitgliedern der Sozialdemokratie Lassalle gewidmeten Lieder und Gedichte ein. Unbestrittener „Favorit" war das von dem ehemaligen Prediger Ludwig Würkert aus Leipzig verfasste Gedicht „Arbeitertreue", das zur Melodie von „Es zogen drei Burschen wohl über den Rhein" gesungen wurde. [Fn-190: Lieder des ADAV, 1868, Nr. 12, 19.] Dieses Lied - ebenso wie die meisten anderen Lassalle-Lieder und -Gedichte - bediente sich einer biblischen Begrifflichkeit, forderte jedoch nicht zur Verinnerlichung, sondern letztlich zum Kampf auf. Mit diesen Liedern sowie mit den Lassalle-Feiern als ganzen gelang so eine „Synthese von diskursiv-verbaler und sinnlich-symbolischer Vermittlung", die im Dienste einer emanzipatorischen Idee standen. [Fn-191: Arno Herzig , Die Lassalle-Feiern in der politischen Festkultur der frühen deutschen Arbeiterbe wegung, in: Dieter Düding u.a. (Hg.), Öffentliche Festkultur, Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg 1988, 321-333, hier: 326.]

Eine der Festreden stellte - wie bereits erwähnt - Leben und Wirken Lassalles dar. Währenddessen wurde häufig eine auf der Bühne aufgestellte Lassalle-Büste bekränzt. Diese Rede gipfelte zumeist in der Aufforderung an die Zuhörer, sich von den Sitzen zu erheben und den sogenannten „Ronsdorfer Schwur" [Fn-192: Ferdinand Lassalle hatte bei seiner Rede zum ersten Stiftungsfest am 22. Mai 1864 in Ronsdorf seine Zuhörer aufgefordert zu schwören, dem ADAV treu zu bleiben und seinen möglichen Tod zu rächen: „Die Gefühle, die mich bei dem Gedanken, daß ich persönlich beseitigt werden kann, durchdringen, kann ich nicht besser zusammenfassen als in den Worten des römischen Dichters: ‚Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor!‘, zu Deutsch: Möge, wenn ich beseitigt werde, irgendein Rächer und Nachfolger aus meinen Gebeinen auferstehen! […] Das versprecht mir und zum Zeichen dessen hebt Eure Rechte empor!", zitiert nach: Heiner Grote , Sozialdemokratie und Religion. Eine Dokumentation für die Jahre 1863-1875, Tübingen 1968, 8/9.] zu erneuern. Manches Mal stand der Schwur auch am Ende der Feier, und er wurde dann durch den „Massengesang" einer der bereits vorgestellten sozialdemokratischen Hymnen bekräftigt. Besonders häufig war dies die Arbeitermarseillaise, die in ihrer letzten Strophe das Versprechen, Lassalles Werk weiterzuführen, in Anlehnung an das biblische Gleichnis vom Sämann formuliert: „Ist auch der Säemann gefallen, / In guten Boden fiel die

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Saat, / Uns aber bleibt die kühne Tat, / Heiliges Vermächtnis sei sie allen!" [Fn-193: Vgl. z.B. Lieder des ADAV, 1868, Nr. 4, 8-10.] Dies war sicherlich der ergreifendste Augenblick der Feier. Besonders an diesem Schwurritual wird die Übernahme kirchlich-liturgischer Elemente sehr deutlich: Die Rede als „Auslegung" von Lassalles Leben mit anschließendem, stehend gesprochenem Schwur und gemeinsamem Gesang erinnert sehr stark an die Folge von Predigt, Glaubensbekenntnis und abschließendem Choral und damit an einige der wesentlichen Elemente des protestantischen Gottesdienstes. Trotzdem handelt es sich wohl eher um eine Säkularisierung dieser Formen mit dem Ziel, Ergriffenheit und emotionale Bindung zu erzeugen, als tatsächlich um einen pseudoreligiösen Kult, da - wie Welskopp betont - „der an eine Person gebundene transzendentale Bezug auf fremdgesteuerte Erlösung" zumeist fehlte. [Fn-194: Thomas Welskopp , 1998, Kp. III.3.] Trotz dieser Einschränkung sollte der tiefe Ernst des Lassalle-Kultes und die emotionale Bedeutung gerade dieser kirchlich-liturgischen Elemente für einen Großteil der Mitglieder des ADAV nicht unterschätzt werden. Wenn Otto Ernst in seinem Roman „Asmus Sempers Jugendland" eine Lassalle-Feier schildert, bei der die Männer nach dem Redenteil am Büffet ihr Bier trinken und sich unterhalten, während lediglich die Frauen und Kinder von der durch Lieder und Gedichte vermittelten weihevollen Atmosphäre beeindruckt und gefesselt scheinen, [Fn-195: Otto Ernst , Asmus Sempers Jugendland, Leipzig 1904, 268-270.] so darf zweierlei nicht vergessen werden: Ernst schrieb seinen Roman nach der Jahrhundertwende, zu einer Zeit also, als der Lassalle-Kult von weiten Teilen der Sozialdemokratie selbstkritisch als eine Art Jugendsünde betrachtet wurde, wenn auch die Person Lassalles weiterhin in Ehren gehalten wurde. Aus dieser Perspektive lag es nahe, die nun als sentimental erscheinende Lassalle-Verehrung den Frauen zuzuschreiben, während die Männer - ganz den herrschenden Geschlechterstereotypen entsprechend - dem rationalen Teil (Reden und Unterhaltung) zugeordnet werden. In den zeitgenössischen Berichten aus den sechziger und siebziger Jahren klingt das noch anders, hier heißt es z.B. : „Männer wie Frauen wurden bis zu Thränen gerührt; Alle waren überzeugt von der Wahrheit unserer guten Sache." [Fn-196: Bericht über die Lassalle-Feier in Zeitz in: SD 10.9.1869, Nr. 106, Hervorhebung d.V.] Und so erscheint es als nicht angemessen, in der Vielzahl der Gedichte und Lieder über Lassalle lediglich einen „partizipatorischen Gestus der Profilierung" zu entdecken, dem im wesentlichen die Qualität eines „Bildungserlebnis[ses]" zukommt. [Fn-197: So Thomas Welskopp , 2000, 368.] Dagegen sprechen Zeugnisse wie der Kommentar des Arbeiters H. Korbacher zu seinem Lassalle-Gedicht, in dem es heißt, dass er seit dem Tod Lassalles an die geistige Auf-

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erstehung glaube. [Fn-198: Kommentar zu „Gedicht auf Lassalle" in: NSD 20.8.1871, Nr. 22.] Zwar wurde der Lassalle-Kult von manchen ADAV-Funktionären sehr bewusst instrumentalisiert, doch konnte dies nur deshalb so gut funktionieren, weil eine Mehrheit diesen Kult ernstnahm. So sprach Bernhard Becker, Lassalles Nachfolger in der Position des Vereinspräsidenten, nach seinem Wechsel zur SDAP verächtlich vom „Parteikitt" [Fn-199: Zitiert nach Arno Herzig , 1988, 325.] , während Carl Wilhelm Tölcke nüchtern, und ohne zwischen Frauen und Männern zu differenzieren, feststellte, dass „die große Masse der Menschheit […] leider von Jugend auf so sehr an Götzendienst gewöhnt [sei], daß sie, um für eine großartige Idee, wie für das allgemeine Wohl der Menschheit, begeistert und im Kampfe dafür zusammengehalten zu werden, eines Bindemittels äußerst bedürftig ist." Und er fuhr fort, dass schließlich auch das Bürgertum seine „Symbole und Heroen" brauche. [Fn-200: Zitiert nach Arno Herzig , 1988, 328, die Auslassungen finden sich dort.] Diese Äußerung verweist auf die Ähnlichkeit der Lassalle-Feiern mit den bürgerlichen Festen, die bestimmten bürgerlichen Heroen gewidmet waren, wie etwa die Mendelssohn-Feiern 1829 und die Schiller-Feiern 1859, oder auch bestimmten Elementen der Sängerfeste, die dem Heros „Nation" galten. Auch hier wurden liturgische Elemente aus dem traditionellen kirchlichen Rahmen genutzt, damit die Sängerfeste „zeremoniell die Gestalt der Konzert-Andacht" annähmen. [Fn-201: Dietmar Klenke , 1994, 215.] Der Gesang von Chorälen und anderen religiösen Werken war ebenfalls nicht Ausdruck einer christlichen Heilserwartung, sondern diente der „nationalreligiöse[n] Überhöhung von Vaterland und Deutschtum" [Fn-202: Dietmar Klenke , 1994, 207.] als zentralen Werten der Identifikation. Im Mittelpunkt vieler Sängerfeste standen Fahnenweihe und -schwur, die mit der Metapher der Eheschließung umgeben wurden [Fn-203: Dietmar Klenke , 1995 a, 159.] und in gewisser Weise als Pendant des lassalleanischen Schwures gelten können. Patriotische Lieder wurden selbstverständlich ebenso gesungen. „Das treue deutsche Herz" als von beiden Seiten geliebte Männerchorhymne wurde schon erwähnt. Hier wurden jedoch auch Lieder gesungen, die unverkennbar „nationalmissionarische Überheblichkeit" [Fn-204: Dietmar Klenke , 1989, 471.] und eine gewisse kriegerische Drohgebärde miteinander verbanden. Der wesentliche Unterschied war jedoch das gänzliche Fehlen der von Mitgliedern selbstverfassten Gedichte und Lieder, die ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Lassalle-Feier waren. Zwar wurden auch auf Schiller- oder Uhland-Feiern selbstgedichtete Prologe vorgetragen, doch waren die Autoren in der Regel die Vorsitzenden der jeweiligen Vereine. Abgesehen von diesen Festprologen, wurden fast ausschließlich

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bereits bestehende Lieder und seltener Gedichte vorgetragen oder gesungen. Auch diese Feste dienten der Identifikation und Bindung, doch waren der tatsächlichen Partizipation bedeutend engere Grenzen gesetzt als bei den Lassalle-Feiern. Die aktive Mitgestaltung der Lassalle-Feste spiegelt sich auch im Inhalt der Lassalle-Lieder, die im Gegensatz zu den bürgerlichen Liedern des Nachmärz und des Kaiserreiches zur Veränderung der Gesellschaft auffordern und damit einen stark emanzipatorischen Anspruch vertreten. Diese emanzipatorische Funktion der Lassalle-Feiern zeigte sich besonders in den siebziger Jahren, als sie - u.a. auch wegen der zeitlichen Nähe - immer mehr zu Gegenveranstaltungen des seit 1871 am Tag der Kapitulation Napoleons III., d.h. am 2. September, gefeierten „Sedantages" avancierten, dessen „geistloser Rummel" in der sozialdemokratischen Presse scharf kritisiert wurde und gegen den man sich bewusst abzuheben versuchte, wie folgender Kommentar zum Hamburger Sedanfest von 1874 deutlich macht:

    „Bezeichnend für die ‚fromme Sitte‘ war noch, daß einzelne Musikchöre im Festzuge, abgesehen davon, daß sie sehr selten die vorgeschriebenen Noten trafen, mit wahrer Herzenslust dem ‚guten Ton‘ unsrer gebildeten und reichen Welt Ausdruck gaben. Die Tingeltangeliade ‚ha, ha, ha, ich war noch niemals so kitzlich wie heute‘ folgte direkt ‚der Wacht am Rhein‘ oder irgend einem andern Soldatenliede."
    [Fn-205: VS 6.9.1874, Nr. 104.]

1.2.4 Auf der Suche nach einer historischen Tradition: Die Märzfeiern der Sozialdemokratie

Vermutlich auch als Reaktion auf die Sedanfeiern begann sich ab etwa 1872 ein sozialdemokratisches Fest zu etablieren, das der am Sedantag gefeierten nationalkriegerischen Tradition eine andere, eigene Tradition entgegenstellte: die sogenannten Märzfeiern. [Fn-206: Die Märzfeiern waren keineswegs das älteste der drei großen sozialdemokratischen Feste des Kaiserreichs, wie Gerhard Schneider behauptet. Es ist unverständlich, wie Schneider zu diesem Ergebnis gelangt, obwohl auch er darlegt, dass die Märzfeiern erstmals im Jahr 1872 begangen wurden, vgl. Gerhard Schneider , Die Märzfeiern der hannoverschen Arbeiterbewegung im Kaiserreich, in: Hans Dieter Schmid (Hg.), Feste und Feiern in Hannover, Bielefeld 1995, 131-150, hier: 131. Der Todestag Lassalles wurde - wie bereits gezeigt - seit 1864 gefeiert.] Diese Feier war dem Gedächtnis der Revolution von 1848 und des Kampfes der Pariser Kommune von 1871 gewidmet. Im allgemeinen fand die Feier am 18. März statt, weil an diesem Tag sich der

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Beginn der Berliner Revolution von 1848 und der Tag der Errichtung der Kommune jährten. [Fn-207: Schneider weist darauf hin, dass der 18. März unter Umständen auch wegen seiner zeitlichen Nähe zum Geburtstag Wilhelms I. am 22. März gewählt wurde. Die Märzfeiern hätten möglicherweise als „Nebeneffekt" die Kaisergeburtstagsfeiern „neutralisieren" sollen, vgl. Gerhard Schneider , 1995 b, 72.] In den siebziger Jahren wurde allerdings dem Gedenken an die Pariser Kommune ein größerer Stellenwert zugemessen. Dieses Ereignis galt als die eigentlich zukunftsweisende Aktion, da neben der Freiheit auch Gleichheit und Brüderlichkeit und damit die Solidarität der Völker das Ziel gewesen seien. [Fn-208: Vgl. Beatrix W. Bouvier , 1988, 334.] So erklärt Wilhelm Hasenclever 1874 als Präsident des ADAV in seiner Festrede zur Berliner Märzfeier: „Die Berliner Revolution von 1848 sei mehr das letzte blutige Zucken des großen Gewitters von 1789-1793 gewesen, während die Pariser Revolution von 1848 und vor Allem der Communekampf von 1871 das Wetterleuchten einer großen Zukunft bedeuten." [Fn-209: NSD 22.3.1874, Nr. 34.] In den neunziger Jahren trat die Erinnerung an die Kommune langsam in den Hintergrund, da mit den parlamentarischen Erfolgen der Kommunekampf als unzeitgemäß erschien und im übrigen die nationale Tradition stärker hervortrat. [Fn-210: Beatrix W. Bouvier , 1988, 339.] Das sah in den siebziger Jahren als Zeit der zunehmenden Verfolgung noch anders aus.

Über den Ablauf und die Gestaltung der Märzfeiern vor 1878 ist bisher nur wenig bekannt. [Fn-211: Bouvier kann auf ihrer Quellengrundlage nur Vermutungen äußern (vgl. dies., 1988, 344), Schneider hat die Märzfeiern im Rahmen seiner Regionalstudie über Hannover untersucht und für die Zeit vor 1878 wenig zu diesem Komplex gefunden, vgl. Gerhard Schneider , 1995 b, 70-74.] Auch in den für die vorliegende Arbeit untersuchten Zeitungen finden sich wenig detaillierte Berichte; diese bestätigen jedoch die Vermutung Bouviers, dass der Märzereignisse entweder im Rahmen einer „rein politischen Versammlung mit Vorträgen" oder durch „eine Kombination von politischem Vortrag in einem festlichen Rahmen mit dem für die Arbeiter ebenso wichtigen geselligen Beisammensein" gedacht worden sei. [Fn-212: Beatrix W. Bouvier , 1988, 344.] Die Versammlungen zur Erinnerung an die Märzereignisse unterschieden sich in ihrem Ablauf nicht wesentlich von den übrigen politischen Versammlungen. Auch hier wurde zu Beginn ein „Bureau" gewählt, das die Versammlung leitete und über die Einhaltung der Rednerliste wachte. Die Reden legten die Bedeutung der Ereignisse von 1848 und 1871 für Geschichte und Zukunft der Arbeiterbewegung dar und riefen natürlich nicht in der Weise Widerspruch oder Diskussionen hervor, wie es sonst bei politischen Versammlungen üblich war. Statt eines Hochs auf den Präsidenten der Partei schlossen diese Ver-

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sammlungen - gemäß der Interpretation des Kommunekampfes als Kampf für die Solidarität der Völker - mit einem „Hoch auf das Proletariat aller Länder." [Fn-213: Vgl. z. B. den Bericht über die Berliner Märzfeier in: NSD 20.3.1872, Nr. 34.] Wie es zu diesem Zeitpunkt bereits der Gewohnheit der ADAV-Mitglieder entsprach, wurde auch im Anschluss an die Märzversammlungen die Arbeitermarseillaise gesungen. Die SDAP wählte zu diesem Zweck zwar andere Lieder, hielt sich aber an die gleiche Form. In Berlin zogen die Sozialdemokraten nach dem Ende der Versammlung zum Friedrichshain, um die Gräber der Märzgefallenen und den dort aufgestellten „Freiheitsbaum" zu schmücken. [Fn-214: Vgl. z.B. NSD 20.3.1872, Nr. 34.] Zum 25-jährigen Jubiläum der Revolution von 1848 im Jahre 1873 nahmen an diesem Gedenkumzug besonders viele Menschen teil, und es wurde mehrmals die Arbeitermarseillaise auf dem Friedhof gesungen. [Fn-215: NSD 21.3.1873, Nr. 34.] Das Märzgedenken in Form einer Feier scheint jedoch verbreiteter gewesen zu sein. Diese Märzfeiern ähnelten den Stiftungsfesten, waren aber meist weniger aufwendig gestaltet und vom Programm her eindeutig politischer ausgerichtet. Sehr oft gab es einen „offiziellen" ersten Teil, auf den ein geselliges Beisammensein folgte, ein anschließender Ball wird jedoch nicht erwähnt. [Fn-216: Vgl. z.B. die Märzfeiern in Königsberg, VS 1.4.1874, Nr. 38 und in Berlin, VS 3.4.1874, Nr. 39. Bouvier zitiert einen Polizeireport von 1904, der von einem Tanz bis etwa 2 Uhr nachts berichtet; dies scheint vor 1878 noch nicht üblich gewesen zu sein, vgl. Beatrix W. Bouvier , 1988, 344/345.] Ein Blick auf das Programm der Dresdener Märzfeier von 1876 zeigt, dass fast ausschließlich politische Lieder und Gedichte zum Vortrag kamen:

I. Teil

  1. Lied der deutschen Arbeiter [d.i. die Arbeitermarseillaise, d.V.]. Ges. von den Sängern des Arbeiter-Bild.-Vereins.

  2. Deklamationen. Matthes.

  3. Hymne von H.E. Ges. von den Sängern des Arbeiter-Bild.-Vereins.

  4. Wer ist frei, Ged. von Herwegh. Ges. von den Sängern des Arb.-Bild.-Vereins.

  5. Gedächtnisrede Max Kayser.

  6. Deklamation.

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    2. Teil

  7. Die Eintracht, von C.M.v.Weber.

  8. Deklamation.

  9. Theater: Preßprozesse oder: Die Tochter des Staatsanwalts
    Von M. Kegel
    Ausgeführt vom Dramatischen Club des Arbeiter-Bildungs-Vereins"
    [Fn-217: Abgedruckt bei Friedrich Knilli / Ursula Münchow , 1970, 166/167.]

Einzig „Die Eintracht" von Weber entstammt dem bürgerlichen Repertoire, die anderen Lieder sind eindeutig „Arbeiterlieder". Die Titel der Deklamationen werden leider nicht genannt, doch ist anzunehmen, dass auch sie entweder von sozialdemokratischen Dichtern oder aus der Zeit von 1848 stammen, da in anderen Berichten Titel wie „Die schwarze Schaar" (von Jacob Audorf) oder das den Ereignissen von 1848 gewidmete Gedicht Freiligraths „Die Schlacht am Birkenbaum" genannt werden. Das weitgehende Fehlen „bürgerlicher" Lieder bei diesen Veranstaltungen läßt sich gut erklären, denn schließlich wandten sich die Märzfeiern ganz bewusst gegen die bürgerliche Traditionspflege, die die Erinnerung an die Ereignisse von 1848 so gut wie möglich verdrängte, und wollten „den bisher Besiegten eine eigene Geschichte" geben. [Fn-218: Beatrix W. Bouvier , 1988, 334.] Damit standen auch die Märzfeiern in Opposition zu den Sedanfesten und der darin gehuldigten nationalkriegerischen Tradition, die eine Kontinuitätslinie von den Befreiungskriegen 1813 über die Einigungskriege der sechziger Jahre bis zur Reichsgründung zog. Die Märzfeiern machen möglicherweise auch deutlich, dass die Arbeiterbewegung nicht nur wie das Bürgertum - um die Worte Tölckes zu gebrauchen - seine „Symbole und Heroen" [Fn-219: Vgl. Anmerkung 200.] brauchte, sondern auch - ganz ähnlich der eben aufgezeigten nationalkriegerischen Traditionslinie - eine durch Kampf und Tod vermittelte Identifikationsbasis. Dieser Gedanke klingt in der Festrede Hasenclevers von 1874 an, in der es heißt, „daß alle großen Ideen erst durch das Blut ihrer Träger und durch gewaltsame Umwälzungen besiegelt seien." [Fn-220: Berliner Communefeier, NSD 22.3.1874, Nr. 34.] Nichtsdestotrotz wollte man sich in der Form vom repräsentativen Gedenken des Bürgertums mit seiner „Denkmal-Manie" abheben. So heißt es über die Rendsburger Märzfeier von 1873:

    „Zum Schlusse forderte der Vorsitzende, Herr Stein, die Anwesenden auf, zu Ehren der Freiheitskämpfer von 1848 und 1871 mit entblößtem Haupt sich vom Sitze zu erheben, welches mit Begeisterung erfüllt wurde, ein Zeichen, daß

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    der Arbeiter seine Vorkämpfer im Herzen ehrt, nicht wie die Bourgeoisie durch Erz und Stein. Unter den Klängen der Marseillaise trennte sich die schöne Versammlung."
    [Fn-221: NSD 18.4.1873, Nr. 45.]

Denkmäler hat die Sozialdemokratie ihren Vorkämpfern zu diesem Zeitpunkt sicher nicht gesetzt und auch nicht setzen können. Büsten von Lassalle, aber auch von Bebel und Liebknecht waren jedoch verbreitet und gehörten neben der „deutschen Trikolore" und den roten Fahnen zum fast unverzichtbaren Saalschmuck einer jeden Feier - auch der Märzfeiern. So muss die vorangehende Selbsteinschätzung etwas relativiert werden: Auch hier wurde ein Element des bürgerlichen Heroenkultes teilweise übernommen. Tatsächlich unterscheiden sich die Märzfeiern von den Sedanfesten oder anderen historischen Jubiläen wie etwa der Erinnerung an die Leipziger Völkerschlacht von 1813 in ihrem Charakter als im wesentlichen nach innen gerichtete Feiern, die eine eigene historische Tradition konstruieren helfen sollten, auf deren Grundlage der „Kampf" um die Veränderung der Gesellschaft geführt werden sollte. Es waren also nicht „Siegesfeiern", die im Rückblick auf die durch Kampf erreichte Einheit diese bewahren und stärken sollten, sondern die Märzereignisse von 1848 und 1871 wurden in den Reden und in den eigenen Liedern als Verpflichtung zur Fortführung des Kampfes dargestellt und inszeniert. Darum spielten nach außen gerichtete, repräsentative Elemente, wie sie etwa bei den Stiftungs- oder Arbeiterverbrüderungsfesten im Vordergrund standen, eine eher untergeordnete Rolle.

Es konnte also gezeigt werden, dass Lieder und Gedichte auf sozialdemokratischen Festen eine unverzichtbare Rolle spielten, während sie sich in der Form einiger weniger „Hymnen" bei den politischen Versammlungen erst ab 1869 einen festen Platz eroberten. Meist zum Abschluss dieser Versammlungen oder bei Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern gesungen, diente vor allem der gemeinsame Gesang der „Arbeitermarseillaise" Jacob Audorfs dem Erlebnis und der Demonstration von kämpferisch errungener Gemeinschaft und Macht, bot aber auch ein Mittel der aktionistischen Aufhebung von Spannungen und widerstreitenden Emotionen, das von den um Disziplin bemühten Funktionären der Sozialdemokraten zur Sozialdisziplinierung der Mitglieder eingesetzt werden konnte. Beim Empfang von Parteigrößen bzw. anlässlich ihrer Haftentlassung wandelte sich die Arbeitermarseillaise innerhalb eines Rituals, das sich an bekannte staatliche Zeremonien anlehnte, leicht zur subversiven Hymne einer Gruppe, die sich als das „wahre" Volk verstand. Eigentlicher Zweck war die symbolische Inanspruchnahme von Macht. Diese

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öffentlichen „Demonstrationen" riefen Ängste wach, warben aber auch und gerade mit ihrem Gesang um potentielle Mitglieder. Ihre Propagandafunktion zeigte sich besonders auf den Stiftungs- und Arbeiterverbrüderungsfesten der Sozialdemokraten. Mit ihrer spezifischen Mischung von geselligen und politischen Elementen sollten sie zum einen ein attraktives Freizeitprogramm bieten, um die Familien der Mitglieder und andere Gruppen der Gesellschaft anzuziehen und aus dem Vereinsleben bürgerlicher oder kirchlicher Provenienz zu lösen. Fast nebenbei wurden dabei politische Inhalte verbreitet. Zum anderen sollten bestimmte Teile der bürgerlichen Bildungstradition, die aus der Perspektive des Freiheitskampfes wertvoll erschienen, in die eigene Kultur integriert und durch eigene Lieder und Gedichte ergänzt werden. Dies zeigt das aus ursprünglich bürgerlichen Liedern und Gedichten und den eigentlichen „Arbeiterliedern" bestehende Repertoire der Arbeitergesangvereine. Damit sollte der Anspruch, eine Partei der Bildung zu sein, bekräftigt und demonstriert werden. Die Feste selber galten als „wahre Kulturfeste", die die zukünftige Gesellschaft für einen Moment erlebbar werden ließen und denen dadurch eine höhere Weihe verliehen wurde. Die Lassalle- und Märzfeiern waren dagegen stärker nach innen ausgerichtet. Mit den Todesfeiern Lassalles wurde ein dem bürgerlichen Heroenkult vergleichbarer Ritus geschaffen, der durch die Übernahme kirchlich-liturgischer Formen und dem Lassalle gegebenen Schwur eine starke emotionale Verpflichtung gegenüber der Sozialdemokratie hervorbrachte, die noch dazu mit einer fast religiösen Weihe umgeben wurde. Um die entsprechende Atmosphäre zu erzeugen, waren „Grab"- und Abendlieder notwendig, die häufig aus der Feder allgemein beliebter Männerchorkomponisten stammten. Die eigentlichen Lassalle-Lieder und -Gedichte waren gleichzeitig Ausdruck und poetische Überhöhung der Verehrung Lassalles, verkörperten aber auch sowohl als Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung als auch durch ihren zu Kampf und Veränderung aufrufenden Inhalt einen emanzipatorischen Impuls, der der bürgerlichen Heldenverehrung fehlte. Die Märzfeiern boten eine historische Alternative zur dominanten nationalkriegerischen Tradition, die genau wie diese durch tatsächlichen Kampf und „Blut" besiegelt worden war. Diese Oppositionshaltung wurde auf kultureller Ebene durch Lieder und Gedichte bekundet, die entweder der weitgehend verdrängten Tradition des Vormärz bzw. der Revolution von 1848 entstammten oder von genuin sozialdemokratischen Dichtern verfasst worden waren.

So läßt sich besonders auch im Hinblick auf das Verhältnis der auf den Festen der Sozialdemokraten vorgetragenen Lieder und Gedichte ein Dreischritt verfolgen, den Gottfried Korff bereits in bezug auf die „Tableaux vivants" beschrieben hat: Zunächst wird ein tradiertes Muster übernommen, aus dem Elemente ausgewählt werden, die sich bruchlos in den eigenen Verstehens-

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und Absichtshorizont einfügen lassen; die so ausgewählten Elemente werden schließlich mit dem Ziel der „kulturellen Desintegration" und damit auch in politischer Absicht umgestaltet. [Fn-222: Gottfried Korff , Rote Fahnen und Tableaux Vivants. Zum Symbolverständnis der deutschen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, in: Albrecht Lehmann (Hg.), Studien zur Arbeiterkultur, Münster 1984, 103-140, hier: 128.] Der Umgang mit Liedern als Identifikations- und Kampfsymbolen auf politischen Versammlungen und „Demonstrationen" scheint hingegen im wesentlichen eine Neuerung der Sozialdemokraten zu sein, die sich später auch in der politischen Praxis anderer Parteien durchgesetzt hat.


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