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1 Im Spannungsfeld von Nähe und Abgrenzung - Zum Verhältnis von Gesang und Deklamation auf sozialdemokratischen und bürgerlichen Festen und Versammlungen


Kein Fest, kaum eine öffentlichkeitswirksame Versammlung des 19. Jahrhunderts konnte auf Lieder und Gedichte verzichten. Auch in der Zeit zwischen den Einigungskriegen und den ersten Jahren nach der Reichsgründung erklangen stets Lieder und Gedichte, wenn Menschen sich versammelten, um zu feiern, zu debattieren oder zu protestieren. Manche Lieder wurden regelrechte Erkennungszeichen, die es erlaubten, den Sänger sofort einer bestimmten politischen Richtung oder Partei zuzuordnen. Oft konnte aber auch der Gesang ein und desselben Liedes einen je unterschiedlichen politischen Anspruch widerspiegeln. Es war darum häufig nicht allein entscheidend, welches Lied gesungen wurde, sondern von wem und in welchem Rahmen es zum besten gegeben wurde.

Lieder mit politischem Inhalt - das war im 19. Jahrhundert (fast) selbstverständlich - konnten nur von Männern vorgetragen werden. Ob man dafür als Begründung die „schärfere Lautirkraft" des Mannes anführte [Fn-46: So Otto Elben , Der volksthümliche deutsche Männergesang, 2. Auflage, Tübingen 1887, Reprint mit Einf. und Register hrsg. v. Friedhelm Brusniak und Franz Krautwurst, Wolfenbüttel 1991, 40, zitiert in: Herbert Bähr , Der Schwäbische Sängerbund im Kaiserreich, in: Friedhelm Brusniak / Dietmar Klenke (Hg.), „Heil deutschem Wort und Sang!", Augsburg 1995, 95-108, hier: 104.], der Frau generell die Kompetenz für Politik, Nation und Krieg absprach [Fn-47: Dietmar Klenke , 1989, 458.] oder - wie im Falle Preußens - ganz einfach auf das Vereinsrecht von 1850 verwies, das Frauen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen verbot [Fn-48: Herbert Bähr , 1995, 104.], die Tatsache selbst wurde nur zaghaft und auch nur von bestimmten Gruppen der Gesellschaft in Frage gestellt. [Fn-49: Dieser Punkt wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch eingehender behandelt werden.]
So sind es vor allem die Auftritte und sängerischen Vorlieben von Männern aus dem Umkreis der Sozialdemokratie, die untersucht und dargestellt werden sollen. Soweit möglich und sinnvoll, wird ihnen die Aufführungspraxis der bürgerlichen Männergesangvereine gegenübergestellt. Frauen fehlen bei diesen Auftritten oft; manches Mal dürfen sie jedoch als Zuhörerinnen oder dekorative Statistinnen mit auf die Bühne des öffentlichen Geschehens. Auch ihre Rolle soll thematisiert werden.

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1.1 „Volksgesang" und Liederkämpfe - Politische Lieder in
Versammlungen und auf der Straße


1.1.1 Die Bedeutung von Hymnen bei politischen Versammlungen

Im Zentrum der sozialdemokratischen Kultur standen die regelmäßigen politischen Versammlungen. Im Gegensatz zu der Entwicklung, die bereits kurz nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 einsetzte, waren die Versammlungen der frühen Zeit bis 1878 von einer mehr oder weniger aktiven Beteiligung aller Mitglieder geprägt. Der „Aufstieg" vom Neuling in einer sozialdemokratischen Versammlung bis zum zumindest lokal bekannten Redner konnte außerordentlich rasant sein, wie der politische Lebenslauf eines Wilhelm Bock exemplarisch zeigt. [Fn-50: Vgl. die Autobiographie Wilhelm Bocks (1846-1931), die unter dem Titel: Im Dienste der Freiheit. Freud und Leid aus sechs Jahrzehnten Kampf und Aufstieg, Berlin 1927 erschienen ist.]
So wie Bock durch seine Redebeiträge sehr schnell auffiel, ohne über eine fundierte Schulbildung oder tiefere Kenntnisse der theoretischen Schriften eines Lassalle oder gar Karl Marx zu verfügen, und durch Jacob Audorf sen. ermutigt wurde, in kleineren Versammlungen als Redner aufzutreten, ging es auch vielen anderen, die es später in den Reihen der Sozialdemokratie zu einiger Berühmtheit gebracht haben. Doch auch diejenigen, die sich nicht zum Parteiredner berufen fühlten, standen keineswegs abseits, sondern beteiligten sich an den Diskussionen im Rahmen der Versammlungen oder halfen im Wahlkampf beim Verteilen der Stimmzettel. Die Identifikation mit der Partei war überaus groß. Das lag sicherlich zum einen daran, dass man als Sozialdemokrat schnell zum „Outsider" der übrigen Gesellschaft wurde und vielfältige Benachteiligungen hinnehmen musste - eine allgegenwärtige Erfahrung in allen sozialdemokratischen Lebenserinnerungen dieser Zeit. Dies ist als Erklärung jedoch noch nicht hinreichend, denn gerade in den 1860er Jahren war diese Ausgrenzung noch keineswegs absolut, wie etwa die Anwesenheit der Stadthonoratioren bei so manchem von Sozialdemokraten organisierten Fest zeigt. Ein zweiter gewichtiger Faktor war die Form der Versammlungen selbst, deren Bedeutung weit über die eines Forums zum Austausch politischer Ideen und Überzeugungen hinausging. Ihre spezifische Funktion ergibt sich erst aus dem „Dreiklang von Informationsvermittlung und konsumtiven Sinnesreizen, von unmittelbarer Partizipationsverheißung auf der Basis von Freiwilligkeit mit der Chance jederzeitigen Rückzugs in die Anonymität eines ‚Publikums‘ sowie von außeralltäglicher Vergemeinschaftung im disziplinierten Spektakel […]". [Fn-51: Thomas Welskopp , Das rote Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Vormärz und dem Sozialistengesetz, Habilitationsschrift Freie Universität Berlin 1998, Kp. III.2. Vgl. hierzu und für die folgende Argumentation auch: Thomas Welskopp , 2000, 291-338.]

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Dieser unverwechselbare „Klang" war es, der die sozialdemokratischen Versammlungen deutlich von denen anderer politischer Couleur unterschied. In ihm verbanden sich handwerklich-ständische Traditionen und moderne Forderungen zu einer neuen „Harmonie", die auf Außenstehende zumeist bedrohlich wirkte und oft wohl auch bedrohlich wirken sollte. Im Gegensatz zu bürgerlichen Versammlungen war sie nicht Teil des (männlichen) Alltags, sondern bot gerade eine Möglichkeit, dem oftmals bedrückenden Alltag zu entfliehen, bildlich gesprochen, den gebeugten Rücken zu strecken und sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu fühlen und zu erleben. Die ausgedehnten Diskussionen über Verfahrensregeln, die jede Versammlung der Sozialdemokraten prägten, ebenso wie die hierzu verwandten Begrifflichkeiten legen Zeugnis davon ab, wie sehr diese Versammlungen bereits als Vorwegnahme und Modell einer neuen, zukünftigen Gesellschaft gedacht und gelebt wurden. Damit umgab jede Zusammenkunft die „Aura einer ernsten, höheren Mission." [Fn-52: Ebd.] Daneben ist von Bedeutung, dass hier die Meinung aller gefragt bzw. sogar gefordert war, dass die Entscheidungsfindung nicht nur beeinflusst werden konnte, sondern die Entscheidung oft auch unmittelbar umgesetzt wurde - sei es im Verlauf der Versammlung selbst oder in sich anschließenden Aktionen. Dieses Moment der „instant gratification" hob sich ebenfalls scharf von den Alltagserfahrungen der Arbeiter und Handwerker ab. [Fn-53: Ebd.] Mit kaum einer anderen zeitgenössischen „Attraktion" zu vergleichen war auch, was die Versammlungen auf emotionaler Ebene boten: Im Verlauf einer gelungenen, mehrstündigen Versammlung durchlebten die Teilnehmer ein regelrechtes Wechselbad der Gefühle, das vom gespannten Lauschen einer rhetorisch ausgefeilten Rede über die oft mit Aufregung verbundene Teilnahme an der Diskussion, der wechselseitigen Anerkennung, der hochemotionalen Auseinandersetzung mit politischen Gegnern bis zum Erlebnis von Sieg oder Niederlage, von im „Kampf" errungener Gemeinschaft ging. Am Schluss einer solchen Versammlung war das gemeinsame Singen eines Liedes förmlich eine Notwendigkeit. So konnten die aufgewühlten Emotionen in einer gemeinsamen Aktion entladen und gleichzeitig besänftigt werden. Der Gesang machte die Gemeinschaft der Anwesenden noch einmal sinnlich erfahrbar und gab ihr durch das Medium der Musik eine besondere Weihe, dies umso mehr, als der Musik bzw. dem Gesang im 19. Jahrhundert eine „veredelnde" Wirkung zugeschrieben wurde. [Fn-54: Dietmar Klenke , 1995 a, 141.]

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Wie die Berichte der Parteizeitungen zeigen, war es wohl zunächst keineswegs üblich, Mitglieder- oder sogenannte Volksversammlungen durch den gemeinsamen Gesang eines Liedes abzuschließen. Der erste Nachweis findet sich für eine Mitgliederversammlung, die am 18.6.1865 in Solingen stattfand und mit dem Gesang des Bundesliedes von Georg Herwegh beendet wurde. [Fn-55: SD 25.6.1865, Nr. 76.] Noch zwei weitere Versammlungen in Solingen, eines der damaligen Zentren des ADAV, gehen 1865 mit Gesang auseinander. [Fn-56: SD 15.7.1865, Nr. 91 und SD 23.12.1865, Nr. 229.] Dass es sich zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch nicht um einen feststehenden, wenn auch lokalen Ritus gehandelt hat, wird auch dadurch deutlich, dass unterschiedliche Lieder gesungen werden: einmal das Bundeslied, dann aber „Arbeitertreue" von Ludwig Würkert, das erst kurz zuvor auf der Stiftungsfeier in Leipzig zum ersten Mal erklang. [Fn-57: Die Texte beider Lieder befinden sich im Anhang dieser Arbeit.] Darüber hinaus unterscheiden sich beide Lieder inhaltlich deutlich voneinander: Prangert Herwegh die Ausbeutung der Arbeiter an, um ihnen dann ihre Macht ins Bewusstsein zu rufen und sie zum Kampf aufzufordern, so betont Würkert in seinem Lied die Treue der Arbeiter zu Lassalle und begreift dessen „Opfertod" als Verpflichtung zu Einheit und Kampf. Die Melodien beider Lieder lassen die kämpferische Komponente jedoch zurücktreten und verstärken im einen Fall eher den feierlichen, im anderen den balladenhaft-melancholischen Charakter. Ganz anders dagegen das Lied, mit dem die ADAV-Versammlung in Barmen am 20.10.1865 schließt: Nachdem die Wahl des Vorsitzenden mit dem Bundeslied „besungen" wurde und Wilhelm Frick „eine Geschichte aus der französischen Revolution" erzählt hat, singt die Versammlung das Lied „Sand in die Augen" und geht dann auseinander. [Fn-58: SD 26.10.1865, Nr. 179.] Das Lied „Sand in die Augen" setzt sich in ironischer Weise mit den Theorien von Hermann Schulze-Delitzsch, einer führenden Persönlichkeit der Fortschrittspartei, auseinander. Die Melodie konnte leider nicht ermittelt werden. Die Wahl der Lieder läßt darauf schließen, dass in den ersten Jahren nach Gründung des ADAV nur zu besonderen Anlässen, oder wenn es besonders passend erschien, Lieder zum Abschluss der Parteiversammlungen gesungen wurden. Dies legt auch der Bericht vom 14.3.1869 über eine Mitgliederversammlung des ADAV in Limbach nahe, in dem es heißt: „Die Ruhe und Begeisterung [der Versammlung] war erhebend. […] Audorf's Marseillaise ist in Folge der Anwesenheit von [Franz] Liebisch [Agitator des ADAV] einstudirt worden; sie wurde durch den Sängerverein vorgetragen." [Fn-59: SD 14.3.1869, Nr. 32] Hier wird deutlich, dass der Gesang der Arbeiter-Marseil-

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laise [Fn-60: Der Text dieses Liedes befindet sich im Anhang dieser Arbeit.] im Anschluss an die Versammlung noch etwas Besonderes ist; sie ist einstudiert worden, um den eher seltenen Besuch eines ADAV-Agitators zu würdigen. Überraschend erscheint auch, dass die „Marseillaise" (gemeint ist die sogenannte „Arbeitermarseillaise", die von Jacob Audorf jun. im September 1864 für die Totenfeier Lassalles in Hamburg auf die Melodie der Marseillaise gedichtet worden ist) erst einstudiert werden musste. Im allgemeinen wird angenommen, dass die Arbeitermarseillaise sehr schnell nach ihrer Erstaufführung 1864 im Kreis der Sozialdemokraten populär wurde und bald den Rang einer Hymne einnahm. [Fn-61: So z.B. Axel Körner , 1997, 115.] Nach den Berichten der Parteipresse trifft dies jedoch nicht zu. Zu Beginn des Jahres 1869 - also über vier Jahre nach ihrer Entstehung - war die Arbeitermarseillaise offenbar noch so wenig bekannt, dass sie nicht überall spontan gesungen werden konnte. Dies ändert sich erst im Verlauf des Jahres 1869 grundlegend, als es üblich wird, zum Abschluss einer Parteiversammlung gemeinsam ein Lied - und zwar die Arbeitermarseillaise - zu singen. So häufen sich ab Frühsommer 1869 Berichte wie der folgende:

    „Mit dem Danke über die musterhafte Ordnung, in welcher die Versammlung verlaufen, wurde diese vom Vorsitzenden um 3 Uhr Nachmittags geschlossen. Die Volksmenge stimmte darauf die Arbeiter-Marseillaise an und trennte sich mit donnernden Hochs auf die Arbeiter-Abgeordneten Dr. von Schweitzer, Fritzsche und Hasenclever, auf die Social-Demokratie u.s.w."
    [Fn-62: SD 5.5.1869, Nr. 53.]

Bald endet so gut wie jeder Bericht über eine Versammlung des ADAV mit der fast lapidar klingenden Formel: „Die Versammlung trennte sich unter den Klängen der Marseillaise.", [Fn-63: NSD 3.9.1871, Nr. 12: Bericht über eine Volksversammlung in Frankfurt am Main vom 28.8.1871.] bis dann schließlich die Formulierung: „Die Versammlung endete, wie üblich, unter dem Gesang der deutschen Arbeitermarseillaise" [Fn-64: NSD 31.10.1873: Bericht über eine Volksversammlung in Berlin vom 28.10.1873.] andeutet, dass der Gesang der Marseillaise am Schluss einer Versammlung zu einem festen Brauch geworden ist. Dies gilt im übrigen nicht nur für Parteiversammlungen sozialdemokratischer Männer, sondern dieses Ritual wurde offensichtlich von den Frauen übernommen, als sie begannen, sich in Arbeiterfrauen- und Mädchenvereinen zu organisieren, wie ein Bericht von 1873 über eine Versammlung dieses Vereins in Brandenburg

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zeigt. [Fn-65: NSD 1.8.1873, Nr. 92.] Auch in den Protokollen der jährlichen Generalversammlungen des ADAV wird ab 1870 der gemeinsame Gesang der Arbeitermarseillaise zum Abschluss einer Versammlung bzw. des Kongresses erwähnt. [Fn-66: So z.B. 1870 und 1872, vgl. Dieter Dowe (Hg.), 1980, 180, 206 und 337.]

Interessant ist, dass der gemeinsame Gesang zum Abschluss einer Parteiversammlung sich erst im Jahre 1869 einbürgerte. Vorher hielt man sich in dieser Hinsicht offenbar an die auch bei anderen - bürgerlichen - Parteien üblichen Gepflogenheiten, so dass bei besonderen Anlässen oder passenden Gelegenheiten zwar ein Lied gesungen werden konnte, aber daraus eben noch kein festes Ritual entstanden war. Im Jahre 1869 wuchs offensichtlich das Bedürfnis in den Reihen des ADAV, die Gemeinschaft sinnlich zu erfahren und rituell zu bestätigen, so stark, dass der Brauch des gemeinsamen Gesangs in kürzester Zeit in allen ADAV-Gemeinden Fuß fasste. Der Abdruck der lokalen Versammlungsberichte im „Social-Demokrat" wird dabei sein übriges getan haben; darauf deuten die oft geradezu formelhaften Wendungen hin.

Die Erklärung ist naheliegend, dass dieses Bedürfnis als Reaktion auf die zunehmenden Spannungen zwischen dem ADAV und dem Vereinstag der deutschen Arbeitervereine (VDAV), die auf dem Kongress in Eisenach vom 7. - 9. August 1869 zur Gründung der Sozialdemokratischen deutschen Arbeiterpartei (SDAP) als Konkurrenz zum ADAV führten, entstanden war. Diese Erklärung erscheint umso plausibler, wenn man in Betracht zieht, auf welches Lied die Wahl fiel: Nicht etwa Herweghs Bundeslied oder das in anderen Zusammenhängen sehr beliebte „Ein' feste Burg ist unser Bund" wurden gesungen, sondern die Audorf'sche Arbeitermarseillaise, ein Lied, das sowohl von seiner Geschichte als auch von seinem Inhalt her eng mit Leben und Wirken Ferdinand Lassalles, des hochverehrten ADAV-Gründers, verknüpft war. Dieses Lied gab nicht nur der zentralen Forderung Lassalles nach allgemeinem Wahlrecht Ausdruck, sondern beteuerte im Refrain immer wieder: „Der kühnen Bahn nur folgen wir, / Die uns geführt Lassalle!" [Fn-67: Vgl. z.B. NSD 8.5.1874, Nr. 53.] Besonders die fast kultische Lassalle-Verehrung und das starre Festhalten an den von Lassalle verfügten Parteistatuten mit ihrer starken Zentralisierung aber waren es, die viele zur Gründung der SDAP bewogen. So ist es bezeichnend, dass die erste Versammlung des Eisenacher Gründungskongresses am 7. August 1869 von den Mitgliedern des ADAV durch den Gesang gerade dieses Liedes gesprengt wird. Im Protokoll wurde festgehalten:

    „[Wahl August Geibs zum ersten Vorsitzenden] Die Schweitzerianer [gemeint sind die Mitglieder des ADAV, deren Präsident zu diesem Zeitpunkt Jean-Baptiste von

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    Schweitzer ist, d.V.] rücken mehr und mehr in die hintere Hälfte des Saales dem Ausgange zu, unter fortwährendem Lärmen. Einige beginnen mit dem Absingen der Audorf'schen ‚Marseillaise‘ […] In den Gesang stimmen bald alle Schweitzerianer ein. [Geib schließt die Versammlung] Die Schweitzerianer singen weiter, als sie aber die Hälfte der zweiten Strophe gesungen, welche also lautet: ‚Der Feind, den wir am tiefsten hassen, / Der uns umlagert schwarz und dicht, / Das ist der Unverstand der Massen, / Den nur des Geistes Schwert durchbricht.‘ da scheint Mancher von ihnen von Schamgefühl ergriffen und vor seinem eigenen Beginnen erschrocken sein, denn von hier ab stockt der Gesang im Allgemeinen, und nur einzelne Kehlen glauben weiter singen zu müssen, bis auch sie in der allgemeinen ‚Unterhaltung‘ untergehen."
    [Fn-68: Protokolle der sozialdemokratischen Arbeiterpartei , 1971, 13/14.]

Dieses „Schamgefühl" scheint nicht von langer Dauer gewesen zu sein. Im Oktober 1869 berichtet der Social-Demokrat über eine von der SDAP einberufene Volksversammlung in Connewitz (bei Leipzig), in der es den ADAV-Mitgliedern gelingt, den Vorsitz zu „erobern". Als Wilhelm Liebknecht als Vertreter der SDAP sprechen möchte, entsteht ein Tumult. Die SDAP-Mitglieder wenden sich daraufhin angeblich an den anwesenden Polizei-Kommissar, der Liebknechts Rederecht durchsetzen oder die Versammlung schließen solle. Letzteres geschieht, und eine Saalschlacht beginnt:

    „Ich [der Berichterstatter Petzold] sah nichts als Fäuste. Jeder wollte dem großen Arbeiterbeglücker [gemeint ist Liebknecht] seine Erkenntlichkeit handgreiflich beweisen, […] endlich gelang es seinen Freunden, ihn über die Barrière auf die Gallerie zu ziehen, nachdem er einige Minuten an Händen und Beinen gezogen in der Luft geschwebt hatte, […] Beide [Liebknecht und sein Parteigenosse Ramm] waren plötzlich verschwunden, […] Die Unsern stimmten hierauf die Marseillaise an, dann traten wir ohne weitern Aufenthalt den Rückweg nach der Stadt an […]."
    [Fn-69: SD 1.10.1869, Nr. 115]

In diesem Bericht deutet sich bereits ein Muster an, das die Taktik des ADAV bei vielen Volksversammlungen der Folgezeit bestimmen sollte: Da eine Volksversammlung eine öffentliche Veranstaltung und im allgemeinen auf Mitgliederwerbung ausgerichtet war, konnte und sollte keinem der Zutritt

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verboten werden - im Unterschied zu einer geschlossenen Mitgliederversammlung. [Fn-70: An diese rechtliche Bestimmung hielten sich aber nicht alle ADAV-Mitglieder. Die Berliner „Knüppelgarden" Carl Wilhelm Tölckes waren geradezu berüchtigt dafür, auch geschlossene Mitgliederversammlungen zu stürmen und die Teilnehmer „zusammenzuknüppeln", vgl. dazu Arno Herzig , Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein in der deutschen Sozialdemokratie (Carl Wilhelm Tölcke, 1817-1893), Berlin 1979, 201/2.] Es wurde nun also versucht, so viele ADAV-Mitglieder wie möglich für den Besuch von Volksversammlungen anderer Parteien zu mobilisieren. In dieser Phase war es völlig unerheblich, ob es sich um eine von der SDAP oder um eine von der liberalen Fortschrittspartei einberufene Versammlung handelte. Meist ließ man sich nicht auf ein Redegefecht ein, sondern bemühte sich wie im vorangehenden Bericht, dem Gegner Verfahrensfehler oder sonstige Verstöße nachzuweisen. Dies führte in der Mehrzahl der Fälle zu einem derartigen Tumult, dass der anwesende Polizeibeamte die Versammlung auflöste. Das Ziel war zwar, die Versammlung der Gegner zu „sprengen"; es war aber trotzdem wichtig, die äußeren Rechtsformen nicht zu verletzen. In den allermeisten Berichten wird betont, dass man im Recht gewesen sei und nur auf das unrechtmäßige Verhalten der anderen reagiert habe. Diese Rechtfertigung war von besonderer Wichtigkeit, da der Stolz auf die eigene Disziplin und den eigenen „parlamentarischen Takt" ein wesentliches Element des eigenen Anspruchs auf politische Partizipation war. [Fn-71: Vgl. Thomas Welskopp , 2000, 311.] Die Intention der „Gegner", neue Mitglieder zu werben, schien damit durchkreuzt, und der Sieg und die eigene Stärke wurden durch den gemeinsamen Gesang der Arbeitermarseillaise gefeiert. Die Arbeitermarseillaise wurde damit nicht nur zu einem Symbol der Gemeinschaft, sondern auch und vor allem zu einem Symbol des Kampfes, zu einer im Angesicht des „Feindes" errungenen Einheit. Gleichzeitig mögen die kämpferische Melodie und der Text mit seiner militärischen Metaphorik und seiner Beschwörung der kriegerischen Geschlossenheit gegenüber einem fast übermächtigen Feind [Fn-72: Vgl. v.a. die vierte Strophe, in der es heißt: „Frisch auf, beginnen wir den Rei-gen, / Ist auch der Boden rauh und hart! / Schließt die Phalanx in dichten Reihen, / Je höher uns umrauscht die Fluth, / Je mehr mit der Begeist'rung Gluth / Dem heil'gen Kampfe uns zu weih'n / Nicht zählen wir den Feind, nicht die Gefahren all' […]."] dazu beigetragen haben, das Gefühl von existentieller Bedrohung und daraus resultierender Notwendigkeit des Kampfes immer wieder aufs Neue zu aktualisieren. Darauf weisen im übrigen auch andere Berichte hin, in denen die Kriegsmetaphorik ausgeweitet wird und die ADAV-Mitglieder beispielsweise als „Arbeiterbataillons" bezeichnet werden [Fn-73: Vgl. z.B. den Bericht über eine von der Fortschrittspartei einberufene Volksversammlung in Berlin in: SD 10.1.1869, Nr. 132.] oder von der „erste[n] ‚Schlacht‘ für die Sache

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der Arbeit" die Rede ist. [Fn-74: Bericht über eine öffentliche Versammlung der Cigarren-Arbeiter in Berlin, in: SD 27.1.1869, Nr. 12.]
Der Gesang der Arbeitermarseillaise sollte in diesem Kampf nicht nur die Gemeinschaft nach innen stärken, er sollte sie auch nach außen demonstrieren und die Gegner einschüchtern. Gelang dies, so wurde die „Feigheit" der politischen Gegner mit Genugtuung konstatiert, wie folgender Bericht über eine aufgelöste Volksversammlung in Glücksstadt zeigt: „Alsbald ertönte im mächtigen Chor die Marseillaise. Bleich und voll Angst standen die Gegner da, und als sie den festen Zusammenhalt der Unseren sahen, ergriffen sie Hals über Kopf die Flucht; […]" [Fn-75: NSD 16.7.1871, Nr. 7.] Auch zu derartigen Einschüchterungsversuchen - wenn ihre Wirkung in den Berichten vermutlich auch etwas übertrieben wurde - eignete sich die Arbeitermarseillaise hervorragend, da ihre Melodie mit der Assoziation „Revolution" verknüpft war und darum auch von keiner anderen Gruppe der Gesellschaft benutzt wurde. [Fn-76: Vgl. Vernon L. Lidtke , 1985, 126.] Diese Form der Auseinandersetzung war für die bürgerlichen Parteien offensichtlich neu und erschreckend. Gleichwohl gab es einige Versuche seitens der Liberalen, sich auf dieses „Liedgefecht" einzulassen. So berichtet August Dreesbach über eine von ihm einberufene Arbeiterversammlung während einer Agitationsreise durch Westfalen im Frühjahr 1873, auf der der Sprecher der Liberalen ausgelacht und die Wahl eines „Arbeitercandidaten" beschlossen worden sei. Als Reaktion folgte ein „Versuch der Liberalen, die Nationalhymne anzustimmen, [der] von den Arbeitern mit der Marseillaise erstickt" wurde. [Fn-77: NSD 28.3.1873, Nr. 37, Beilage. Welches Lied in diesem Bericht mit „Nationalhymne" gemeint ist, kann nicht eindeutig gesagt werden, da es zu diesem Zeitpunkt noch keine offizielle National hymne gab. Vermutlich wird es sich aber um die „Wacht am Rhein" gehandelt haben, mit der sich an Beliebtheit in den 1870er Jahren kein anderes nationales Lied messen konnte. Unter Umständen könnte auch „Heil Dir im Siegerkranz" gemeint gewesen sein, das bei entsprechenden Anlässen als Hymne fungierte, ohne dass dieser Status offiziell festgelegt worden wäre, vgl. Otto Dann , Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, 2. Auflage, München 1994, 158.]
Diese Art von gesungenen Auseinandersetzungen scheint aber selten geblieben zu sein. Auch im „Gefecht" mit der sozialdemokratischen Schwesterpartei scheint es im allgemeinen der ADAV gewesen zu sein, der seine „Siege" über die SDAP - mit der Arbeitermarseillaise - gefeiert hat. [Fn-78: Vgl. z. B. den Bericht über eine aufgelöste Versammlung von ADAV und SDAP in Dortmund in VS 30.11.1873, Nr. 118.]
Trotzdem war es wohl auch für die Mitglieder der SDAP selbstverständlich, im Anschluss an eine Volksversammlung gemeinsam ein Lied zu singen. Im Unterschied zum ADAV wurde jedoch meist nicht die Arbeitermarseillaise

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gesungen, sondern andere populäre „Arbeiterlieder" wie etwa Hermann Greulichs „Arbeiter-Feldgeschrei" [Fn-79: Vgl. den Text dieses Liedes im Anhang dieser Arbeit.] (zur Melodie der „Wacht am Rhein") oder „Arbeiter, all' erwacht" (zur Melodie „Heil dir im Siegerkranz"). [Fn-80: Vgl. z.B. die Berichte über eine Volksversammlung in Werdau, in: VS 11.5.1872, Nr. 38 und über eine Volksversammlung in Lößnitz, in: VS 30.11.1873, Nr. 118.]
Dies mag daran gelegen haben, dass die Arbeitermarseillaise derart eng mit dem Auftreten des ADAV verknüpft war. Selbst die Versuche, den Lassalle gewidmeten Refrain durch den Refrain der älteren Freiligrathschen „Reveille" oder durch andere Fassungen zu ersetzen, scheinen daran nichts geändert zu haben. Darüber hinaus war die radikalere „Freiligrath-Fassung" seit 1874 verboten. [Fn-81: Vgl. Inge Lammel , Zur Rolle und Bedeutung des Arbeiterliedes, in: BZG 3 (1962), 726-742, hier: 730/731.]
Seit diesem Jahr der Annäherung zwischen ADAV und SDAP unter dem zunehmenden Außendruck wurde die Arbeitermarseillaise aber offensichtlich wieder öfter auch von Mitgliedern der SDAP gesungen - und zwar in der ursprünglichen Fassung, wie folgender Bericht über einen gemeinsam abgehaltenen Arbeitertag in Worms zeigt: „Die Mitglieder des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins stimmten sodann noch die Arbeiter-Marseillaise an unter kräftiger Betheiligung unsrer [d.h. der SDAP] Parteigenossen." [Fn-82: VS 10.6.1874, Nr. 66.] Nach der Vereinigung der beiden Parteien 1875 in Gotha wurde zumeist die Lassalle'sche Arbeitermarseillaise angestimmt [Fn-83: Vgl. z.B. den Bericht über eine Volksversammlung in Frankfurt / Oder in: VS 13.10.1875, Nr. 118.], bis das Sozialistengesetz diesem Brauch 1878 ein vorläufiges Ende machte. [Fn-84: Auch nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 blieb die Arbeitermarseillaise noch einige Zeit das beliebteste Lied der Sozialdemokraten, daneben trat bald der 1891 komponierte „Sozia listenmarsch" Max Kegels, der aber nie die Arbeitermarseillaise vom ersten Platz verdrängen konnte. Die „Internationale" setzte sich in Deutschland erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg durch; ab diesem Zeitpunkt geriet die Arbeitermarseillaise in Vergessenheit, vgl. Vernon L. Lidtke , 1985, 127/128.]

Damit wird deutlich, dass die Arbeitermarseillaise bereits lange vor 1890 als eine Art Hymne ihren festen Platz bei den politischen Versammlungen und Kongressen der Sozialdemokraten gefunden hatte. [Fn-85: Axel Körner , 1997, 104, meint, dass dieser Prozeß erst 1890 einsetzt.]
Der gemeinsame Gesang der Arbeitermarseillaise diente dazu, die durch eine Versammlung aufgebaute innere Spannung rituell zu entladen, er sollte aber auch Gemeinschaft erfahrbar machen und Einheit und Stärke nach außen demonstrieren. Auf diese Weise wurde ein neuer Ton in die politische Versammlungskultur eingebracht. Für die meisten Sozialdemokraten war Politik nicht allein mehr eine Frage der Überzeugung, sondern eine Frage der Identität und bedurfte damit

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eines rituellen Ausdrucks. Dieser „existentielle" Zugang zur (Innen-) Politik, der sich der Formen der bürgerlichen Vereinskultur in Auswahl bediente, war neu und veränderte diese Formen grundlegend. Dies geschah natürlich nicht von heute auf morgen, sondern stand am Ende einer Entwicklung, die durch harte Flügelkämpfe und zunehmende Marginalisierung gekennzeichnet war. Ein wichtiges Element dieser Veränderung war der gemeinsame Gesang einer Hymne zum Abschluss einer politischen Versammlung.

1.1.2 Lieder als Ausdruck von Protest und als ironischer Kommentar

In den politischen Versammlungen der Sozialdemokraten erklangen jedoch nicht nur „Hymnen". Manchmal kommentierten Lieder auch ironisch das Auftreten des politischen Gegners oder gaben dem Protest gegen Eingriffe der Staatsmacht Ausdruck, der anders nicht hätte vorgebracht werden können. Im ersteren Fall handelte es sich oft um ironische Abwandlungen bekannter Lieder oder um unpolitische Lieder, deren komische Wirkung aus der Situation heraus entstand. In gewisser Weise könnte man in ihnen eine Art Fortsetzung der „Katzenmusiken" sehen, einer Form des musikalischen Straßenprotestes, die aus der Volkskultur stammt und 1848 gerne von Angehörigen der unterbürgerlichen Schichten veranstaltet wurde. So beruft z.B. Friedrich Polling im August 1869 eine Versammlung in Staßfurt ein, um über die Ergebnisse des Eisenacher Kongresses zu berichten und die Teilnehmer der Versammlung zum Beitritt zur Internationalen Arbeiter-Association (die von der SDAP unterstützt wurde) aufzufordern. Im Social-Demokrat wird die Reak-tion der anwesenden ADAV-Mitglieder wie folgt geschildert:

    „Doch wer diesem nicht beistimmmen wollte, das waren wir, die wir festhalten an der Organisation Ferdinand Lassalles. Als daher Polling sah, daß er nichts ausrichten konnte, schloß er ohne weiteres die Versammlung. Wir blieben da, bis er fortging; stimmten mehrere Lieder an, unter Anderem: mit Bezug auf Polling, ‚der Benedeck, der hatte Schlechts im Sinn‘ und ‚Sie sollen uns nicht haben im Bebel'schen Verein, und wenn sie wie die Raben, sich heiser nach uns schrein.‘ Wir brachten Hochs aus auf Dr. v. Schweitzer, auf die universelle Social-Demokratie und auf unseren Gewerkschafts-Präsidenten Klein aus Elberfeld. So trieben wir den Herrn Polling richtig aus dem Saal."
    [Fn-86: SD 20.8.1869, Nr. 97.]

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Das erstgenannte Lied „der Benedeck, der hatte Schlechts im Sinn" ist vermutlich 1866 entstanden, da der Titel offensichtlich auf Ludwig von Benedek Bezug nimmt, der die österreichischen Truppen bei Königgrätz befehligte und durch seine Fehlentscheidung bei der Truppenaufstellung die österreichische Niederlage in eine Katastrophe verwandelte. Hier dient also ein ursprünglich eher nationales Lied dazu, Polling bzw. den sogenannten „Eisenachern" die Niederlage zu prophezeien. Das zweite Lied „Sie sollen uns nicht haben im Bebel'schen Verein, und wenn sie wie die Raben, sich heiser nach uns schrein" ist eindeutig eine aktuelle Umdichtung des besonders in den 1840er Jahren überaus populär gewesenen „Rheinliedes" von Nicolaus Becker. Oft genügte aber auch ein ganz einfaches Volkslied, um den Gegner lächerlich zu machen. So verlangt ein ADAV-Vertreter auf einer öffentlichen Generalversammlung der sozialdemokratischen Splitterpartei Lassalle'scher Allgemeiner Arbeiterverein (LADAV) in Bremen vergeblich das Wort. Der Berichterstatter des Neuen Social-Demokraten schildert die Reaktion der ADAV-Mitglieder:

    „Allmählig sammelten sich kräftige Arbeiter auf der Bühne, wobei es den Herren Mende und Försterling [vom LADAV] doch recht schwül wurde. Als nun noch Herr Heyder [vom ADAV] erklärte, daß es einerlei sei, ob der große Präsident Fritz oder Klaus heiße, die Arbeiter Bremens seien gewohnt, in öffentlichen Versammlungen Theil zu nehmen, verduftete Mende aus der Versammlung. Als Mende die Bühne hinabstieg, sangen einige Arbeiter: ‚Guter Mond, du gehst so stille sc.‘"
    [Fn-87: NSD 16.7.1871, Nr. 7.]

In diesem Fall gewinnt das Lied erst seinen politischen Charakter durch den Rahmen, in dem es gesungen wird. Es zielt nicht darauf ab, sich mit dem Gegner auseinanderzusetzen oder ihm einen anderen politischen Standpunkt entgegenzusetzen, sondern es soll den Gegner einzig und allein bloßstellen, um ihn damit seiner Wirkung als „Volksredner" zu berauben. Es kam aber auch vor, dass einem politischen Gegner mit einem Lied „geantwortet" wurde. So quittierten Sozialdemokraten z.B. 1874 einen Vortrag des Konservativen Dr. Lindwurm in Eisenach, der für die Gründung von Bildungsvereinen unter Leitung von Priestern warb, mit dem Gesang des Liedes „Es tönt ein Ruf von Land zu Land, / Ihr Armen reichet Euch die Hand", einer Parodie der „Wacht am Rhein". [Fn-88: VS 3.4.1874, Nr. 39.] Das Lied dient in diesem Fall also dazu, der Aufforderung, sich in die Obhut eines klerikalen Bildungsvereins zu begeben, den Ruf

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nach Zusammenschluss der Arbeiter in der Sozialdemokratie entgegenzusetzen. Schließlich konnten Lieder in den Versammlungen der Sozialdemokraten auch Ausdruck eines symbolischen Protestes sein. So teilte der überwachende Polizeikommissar in der Generalversammlung des ADAV am 5.1.1870 mit, dass die im Saal aufgehängte rote Fahne entfernt werden müsse. Die Versammlung protestierte gegen diese Anordnung und weigerte sich, sie selber auszuführen. Trotzdem konnte die Entfernung der roten Fahne natürlich nicht verhindert werden, und so sangen die versammelten Sozialdemokraten ihre Marseillaise, während der Polizeikommissar die Fahne durch das Hauspersonal abnehmen ließ. [Fn-89: Dieter Dowe (Hg.), 1980, 156/157.] Auch in diesem Fall gibt das Lied eine „Antwort"; der Text an sich drückt bereits aus, dass man sich an das bestehende Recht halten und also die Abnahme der Fahne nicht verhindern wird. Gleichzeitig bekräftigt der gemeinsame Gesang dieses Liedes, dass man sich nicht geschlagen geben, sondern weiterkämpfen wird. Schließlich bietet das Singen die Möglichkeit, der eigenen Empörung Luft zu machen und ihr einen symbolischen Ausdruck zu verleihen, ohne handgreiflich zu werden. Der gemeinsame Gesang ist in diesem Zusammenhang darum auch eine Form der „Sozialdisziplinierung".

Eine ähnliche Funktion konnte der gemeinsame Gesang auch im Falle der Verhaftung von Parteimitgliedern annehmen. Welskopp nennt für das in dieser Hinsicht noch traditionellere Rheinland Beispiele aus dem Jahr 1869, wo die Gefangennahme von Sozialdemokraten durch Proteste beantwortet wurde, die älteren, volkskulturellen Mustern folgten, die man mit Herzig auch unter dem Begriff der „Anti-Gewaltproteste" fassen könnte. [Fn-90: Vgl. Thomas Welskopp , 1998, Kp. III.2. Den Begriff „Anti-Gewaltproteste" prägte Herzig für eine Form der gewalttätigen Auseinandersetzung der Unterschichten mit der Obrigkeit, die sich im späten 18. Jahrhundert entwickelte und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein praktiziert wurde, vgl. Arno Herzig , Unterschichtenprotest in Deutschland 1790-1870, Göttingen 1988, 41-46.] Diese Form der recht handgreiflichen Auseinandersetzung mit der Polizei, die meist im Einwerfen der Fensterscheiben von öffentlichen Gebäuden oder sogar in der gewaltsamen Gefangenenbefreiung gipfelte, stand im krassen Widerspruch zu dem immer wieder beschworenen Selbstbild als einer Partei des Rechts und der Disziplin, die sich gerade durch diese Eigenschaften positiv von den „korrupten" bürgerlichen Parteien abhebe. Aufgrund dieses Widerspruches haben sich diese Protestformen vermutlich auch nicht in der Sozialdemokratie durchsetzen können bzw. war man bemüht, den Protest in geordnetere Bahnen zu lenken. Ein Zeitungsbericht von 1873 über die Verhaftung des bekannten Sozialdemokraten Karl Frohme in Frankfurt am Main zeigt deutlich dieses

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Bemühen und läßt erkennen, welche Rolle der gemeinsame Gesang dabei spielte:

    „Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht [von der Verhaftung Frohmes] durch die Stadt; […] Schaarenweise zog das Volk an den beiden Osterfeiertagen an dem Gefängniß vorüber, so daß bereits am ersten Tage die Militärposten verstärkt wurden. […] Dienstag Nachmittag wurden mehrere Zeugen vorgeladen, […] Nachmittags 4 Uhr wurde Frohme, von einem Gefängnißbeamten begleitet, nach dem Gericht am großen Kornmarkt geführt. Ehe derselbe dort anlangte, hatte die Nachricht schon Tausende von Menschen dorthin getrieben. Der Kornmarkt, der Paulsplatz und die angrenzenden Straßen waren dicht gefüllt von der harrenden Menge, welche bei Frohme's Erscheinen in donnernde, nicht enden wollende Hochs ausbrach. Während Frohme's Vernehmung, welche beinahe 2 Stunden dauerte, ging die Menge nicht vom Fleck, sondern vermehrte sich von Minute zu Minute. Da jedoch vollständige Ordnung durch die Mitglieder des Allg. deutsch. Arb.-Vereins aufrecht erhalten wurde, so hatten die angestellten Schutzleute keine Gelegenheit zum Einschreiten. […] Nach 6 Uhr erschien dann Frohme, empfangen von neuem, tausendstimmigen Zuruf der Menschenmenge. Vergebens waren die Schutzleute bemüht, die eindringende Menschenmasse zurückzuhalten, als er, begleitet von seinem Wächter, den Wagen bestieg. Hunderte von Arbeiterfrauen und Mädchen hatten sich der Volksmenge angeschlossen und warfen dem Verhafteten Blumenkränze und Sträuße in den Wagen. Dann setzte sich der Zug in Bewegung mit dem Gesang der Arbeitermarseillaise. […] durch das große Gedränge wurden die Schutzleute versprengt und in die Massen eingeschlossen. Kaum war der Wagen eine kurze Strecke weit gefahren, so hieß es, Frohme würde vom Gefängniß zum Gericht zu Fuß geführt, und soll er auch wieder, begleitet von uns, dorthin gehen und nicht fahren. Sofort wurden Pferd und Wagen angehalten und Frohme nebst seinem Wärter herausgehoben und in die Mitte genommen, und nun ging es unter dem Klang der Marseillaise vorwärts. […] Hier [auf der „Zeil"], wo die größten Bankhäuser und Kaufläden sind, packte die Bourgeoisie plötzlich heillose Angst und verschiedentlich ertönte der Angstruf: ‚Schließt die Lä-

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    den. Die Revolution bricht aus!‘ - Aber ruhig ging es auf's Klapperfeld […] Die Wache auf dem Klapperfeld jedoch lud angesichts der sie umbrausenden Menge die Gewehre. […] Jetzt hörte man stürmische Rufe, wie: ‚Wer schießt auf seine Brüder?‘ u.s.w. Den beruhigenden Ermahnungen Frohme's und der Mitglieder des Allg. deutsch. Arb. Vereins gelang es aber, die Masse zu beschwichtigen und einen blutigen Konflikt zu verhüten. Frohme erklärte: Er würde freiwillig, des guten Rechtes sich bewußt, wieder in's Gefängnis gehen; alle möchten mit ihm dem Kommenden entgegen sehen. Als er dann die Stufen des Gefängnisses hinaufging, erreichte die Begeisterung ihren höchsten Grad; von kräftigen Armen umfaßt, ward er nochmals zurück getragen, und nicht enden wollendes Hoch erschütterte die Luft. Dann gelang es endlich, ihn die Treppen, welche ebenfalls dicht besetzt waren, hinan zu bringen, und die Thüren des Gefängnisses schlossen sich hinter ihm. Noch eine lange Zeit verharrte die Volksmenge unten und der Gesang der Marseillaise ertönte, womit es dann in geschlossenen Kolonnen nach Gerlach's Anlage ging. Die Ordnung unter der Arbeitermasse war trotz des Gedränges eine musterhafte. Unsere Gegner sind freilich von einem panischen Schrecken ergriffen. Das war eine Osterfeier, die uns in Frankfurt unvergeßlich sein wird."
    [Fn-91: NSD 20.4.1873, Nr. 46.]

Der vorliegende Bericht macht deutlich, wie es den Arbeitern gelingt, die reale Erfahrung der Machtlosigkeit gegenüber dem Staat in einen symbolischen Triumph, in ein unvergessliches Fest umzuwandeln, ohne das Gesetz auch nur im geringsten zu missachten. Sehr aufschlussreich ist dabei, wie ein Element des staatlichen Zeremoniells - nämlich der festliche Empfang des siegreichen Feldherrn - benutzt wird, um gegen eben diesen Staat zu demonstrieren. Die Frauen und Mädchen, die mit Blumen und Kränzen nach der Kutsche des Fürsten bzw. seiner Generäle werfen, die Menge, die hymnenartige Gesänge anstimmt - all' das sind Bilder, die vom festlichen Einzug der Truppen in Berlin nach dem deutsch-französischen Krieg im Sommer 1871 bekannt sind. Die subversive Wirkung dieses Ereignisses resultiert aus der Tatsache, dass hier das „Volk" mehr oder weniger spontan einem vom Staat Verhafteten die Ehrungen erweist, die normalerweise dem höchsten Repräsentanten des Staates bzw. seinen Vertretern vorbehalten sind. Für einen

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Augenblick werden damit symbolisch die Machtverhältnisse umgekehrt, und der Gesang der zu diesem Zeitpunkt bereits zur Hymne der Sozialdemokraten aufgestiegenen Arbeitermarseillaise gibt zu verstehen, dass hier ein anderes „Volk" einem anderen „Fürsten" huldigt. Darüber hinaus wird das offizielle Zeremoniell mit volkskulturellen Elementen vermischt, die seinen Charakter grundlegend ändern. Frohme nimmt nicht die Huldigungen seiner Anhänger aus dem sicheren Abstand eines „Königs" entgegen, sondern seine Anhänger umringen ihn so dicht, dass die Schutzmänner abgedrängt werden, und er soll die Stufen des Gefängnisses nicht selber hinaufgehen, sondern sein „Volk" will ihn hinauftragen. Hier ist es also das „Volk", das sich seinen „Fürsten" erwählt, und darin liegt auch die explosive Kraft dieses Ereignisses. Die Reaktion der „Bürger", die eine neue Revolution befürchten, ist darum nur folgerichtig. Obwohl in bestimmten Augenblicken die Situation tatsächlich umzuschlagen droht - besonders deutlich, als die Wachen ihre Gewehre laden -, hat diese Demonstration doch primär einen symbolischen Charakter. Zumindest scheint dies der Absicht Frohmes und seiner Mitstreiter vom ADAV zu entsprechen, die ein „Umschlagen" der Demonstration immer wieder zu verhindern suchen. Der Gesang der Arbeitermarseillaise erfüllt aus diesem Blickwinkel heraus noch eine weitere Funktion. Dreimal wird die Marseillaise im Bericht erwähnt; jedes Mal folgt der Gesang der Marseillaise auf einen Moment höchster Spannung und leitet über zu Ordnung und Ruhe: Sei es der Empfang Frohmes vor dem Gerichtsgebäude, der nicht umschlagen soll in eine Gefangenenbefreiung, sei es der Augenblick, als Frohme aus dem Wagen gehoben und die Schutzmänner abgedrängt werden, oder schließlich die überaus schwierige Situation, als Frohme sich freiwillig wieder in die Macht des Staates begibt, obwohl doch nur wenige Minuten zuvor die Gewehre auf die Volksmenge gerichtet worden waren - jedes Mal kann die Spannung und Erregung durch den Gesang abgebaut und wieder in geordnete Bahnen gelenkt werden, so dass die „Volksmenge" zum Schluss sogar in geradezu militärischer Ordnung abmarschieren kann. Die Demonstration von Macht und Disziplin ist gelungen, wie der Schluss des Berichtes stolz vermerkt.

Ähnliche Berichte finden sich mehrfach für die Jahre 1869 bis 1875. [Fn-92: Vgl. z.B. den Bericht über die Haftentlassung Schweitzers, in: SD 12.9.1869, Nr. 107 oder den Artikel über den Empfang Wilhelm Hasselmanns in Kiel, nachdem dieser am selben Tage erst aus dem Gefängnis in Altona freigelassen worden war, in: NSD 28.1.1872, Nr. 12.]
In einem dieser Fälle handelt es sich sogar um Frauen des Arbeiterfrauen- und Mädchenvereins Brandenburg, die ihre Vorsitzende zum Gericht begleiten, als diese aus einer geschlossenen Mitgliederversammlung heraus verhaftet wird. Nachdem sie vor Gericht ihre Unschuld beweisen konnte, wird sie von

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den wartenden Frauen mit dem Gesang der Marseillaise empfangen. [Fn-93: NSD 30.5.1873, Nr. 61.] Diese öffentliche Demonstration von Frauen war aus der Sicht des Bürgertums sicherlich ebenso erschreckend und revolutionär wie das vorhin zitierte Ereignis in Frankfurt am Main, sie blieb allerdings auch innerhalb der Sozialdemokratie ein eher singuläres Ereignis. [Fn-94: Zum einen ist dafür sicherlich die schon erwähnte preußische Vereinsgesetzgebung von 1850 verant wortlich. Aber auch die Haltung der sozialdemokratischen Männer gegenüber dem politischen Engagement von Frauen war keineswegs eindeutig positiv, vgl. dazu z.B. Thomas Welskopp , 2000, 335ff.]
Meist sind diese Berichte jedoch weniger dramatisch, da sie nicht - wie im Fall Frohmes - schildern, wie bekannte Redner der Sozialdemokraten vom Gericht zum Gefängnis begleitet werden, sondern wie sie bei ihrer Haftentlassung von ihren Anhängern empfangen und im Triumphzug unter dem Gesang der Marseillaise durch die Stadt geführt werden - eine Situation, die natürlich weitaus weniger Spannung in sich birgt. Sie ähnelt im übrigen sehr stark dem öffentlichen Empfang von „Parteigrößen" auf dem Bahnhof, die angereist kommen, um auf großen Volksversammlungen und Arbeiterverbrüderungsfesten zu sprechen.

Derartige öffentliche Demonstrationen waren natürlich ungeheuer öffentlichkeitswirksam. Nicht alle Zuschauer waren erschrocken und fürchteten gleich die Revolution, andere wurden auch neugierig und wollten erst einmal wissen, was das ganze Spektakel denn zu bedeuten habe. Diese „Werbewirkung" war sicherlich nicht ganz unbeabsichtigt, und tatsächlich scheint diese Strategie manches Mal aufgegangen zu sein. Wilhelm Bock, der als einfacher Schuhmachergeselle sein berufliches Leben begann, 1884 zum ersten Mal für die Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt wurde und es schließlich zweimal zum Alterspräsidenten des Reichstages brachte, schildert in seiner Autobiographie, wie er 1867 nichtsahnend zum Zuschauer einer solchen Demonstration in Hamburg wurde. Seine Neugier war danach so groß, dass er seine Vorurteile gegenüber dem ADAV überwand und dessen nächste Versammlung besuchte:

    „Aber eines Abends ging ich mit meinem Kollegen spazieren, und wir stießen am Pferdemarkt auf einen Trupp von etwa 200 Männern, die ich für einen Gesangverein hielt, der irgendwo ein Ständchen bringen wollte. Mein Kollege war gleicher Meinung, deshalb schlossen wir uns dem Zuge an. Er zog durch mehrere Straßen bis zum Gefängnis hin. Dort stieg der alte Genosse Mohrmann auf die oberste Stufe der Treppe und gab das Zeichen zum Anstimmen des Liedes: ‚Wohlan, wer Recht und Freiheit achtet …‘ Als der erste

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    Vers gerade gesungen war, kam plötzlich aus den Nebenhäusern mit blankgezogenen Säbeln ein Zug von dreißig bis vierzig Konstablern und forderte Ruhe. Sie drängten die Massen - viele Neugierige waren mitgekommen - in das enge Gäßchen, wobei sie mit den flachen Klingen ihrer Säbel auf die Leute hieben. Auch ich erhielt einen Schlag auf die Schulter und fiel eine Treppe hinunter, die in einen Wohnkeller führte. Auf dem Dach eines Hauses neben dem Gefängnis saß ein Mann, der zum Ergötzen der Menge auf einer Ziehharmonika die Melodie der ‚Marseillaise‘ spielte. Trotz allem Bemühens gelang es der Polizei nicht, in das Haus zu dringen und die Ziehharmonika zum Schweigen zu bringen. Auf der nahen Brücke wogte die Menge auf und ab. Da traf ich einen von den sechs Kollegen, die gegenüber unserer Werkstatt arbeiteten und richtete an ihn die Frage, ob er wisse, was der Vorgang bedeute. Da wurde mir erklärt, daß Genosse Audorf [der Dichter der Arbeitermarseillaise, d.V.] im Gefängnis sitze, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein hätte ihm ein Ständchen bringen wollen, was wohl der Polizei verraten worden sei.
    Der Kollege, den ich nach dem Liede frug, lud mich ein, worauf ich schon gewartet hatte, Mittwoch oder Sonnabend in Tütjes Salon am Valentinskamp zu kommen, dort tagte der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, bei dem ich das Lied bekommen könnte. Ich könnte auch gleich Mitglied des Vereins werden. An einem Mittwoch im Oktober 1867 wurden mein Kollege und ich Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins."
    [Fn-95: Wilhelm Bock , 1927, 11.]

Bocks Erzählung läßt vermuten, dass gerade Lieder einen großen „Werbeeffekt" haben konnten. Sie sind nicht nur auf größere Entfernungen hin vernehmbar, sondern sind auch nicht sofort als Anzeichen für ein politisches Geschehen zu deuten. Bocks Bericht legt nahe, dass es allgemein üblich war, bekannten Persönlichkeiten öffentlich ein Ständchen zu bringen. So zog der Gesang zunächst einmal eine ganze Reihe von Neugierigen an, die einfach auf der Suche nach etwas Abwechslung waren und vielleicht ferngeblieben wären, wenn sie geahnt hätten, dass es sich um eine politische Demonstration handelte. Waren die Leute einmal neugierig geworden, kam man leichter mit ihnen ins Gespräch und konnte sie unaufdringlich zur nächsten Versammlung einladen. Außerdem konnte das Eingreifen der Polizei, die - wie in diesem

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Bericht - meist nicht zwischen den „Aktivisten" und den Neugierigen unterscheiden konnte oder wollte, zur Solidarisierung mit den doch eigentlich harmlosen „Sängern" führen.

Dies war sicherlich einer der Gründe, warum die Polizei solche öffentlichen Demonstrationen in den 1870er Jahren immer stärker bereits im Vorfeld zu verhindern suchte.

1.1.3 Die Beerdigung von Parteigenossen als Mittel der politischen Demonstration

Ein Problem besonderer Art waren in diesem Zusammenhang die Begräbnisse von mehr oder weniger bekannten Sozialdemokraten. Alf Lüdtke weist darauf hin, dass den Verboten und dem Eingreifen der Polizei bei diesen Anlässen in zweifacher Hinsicht Grenzen gesetzt waren: Zum einen mussten auch von der Polizei die Regeln der Sittlichkeit und des Anstandes respektiert werden, das ehrende Andenken der Verwandten und Bekannten durfte nicht in unzumutbarer Weise gestört werden. Zum anderen seien die Sozialdemokraten als „innere Feinde" des Staates wahrgenommen worden. Damit sei das Verhältnis zu ihnen vom militärischen Ehrenkodex bestimmt worden; dieser aber fordere vor dem toten Gegner Respekt. [Fn-96: Vgl. Alf Lüdtke , Trauerritual und politische Manifestation: Zu den Begräbnisumzügen der deutschen Sozialdemokratie im frühen Kaiserreich, in: Bernd Jürgen Warneken (Hg.), Massen medium Straße: Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt a.M. u.a. 1991, 120-148, hier: 130/131.]
Diese Begrenzung der polizeilichen Eingriffe öffnete einen gewissen Freiraum für öffentliche Massendemonstrationen, die im Unterschied zu dem geschilderten Vorfall um Frohme vorbereitet werden konnten. Gleichzeitig mussten aber auch die Trauernden selbst Sitte und Anstand des Totengedenkens wahren und durften nicht zu eindeutig politisch auftreten, wenn sie diese „Freiheit" nicht verspielen wollten. Wie ungenau und fließend die Grenzen in dieser Hinsicht waren, zeigte sich in aller Deutlichkeit erst unter dem Sozialistengesetz, als die Leichenzüge für bedeutende Sozialdemokraten die einzige Gelegenheit darstellten, bei der Sozialdemokraten als Gruppe öffentlich auftreten konnten, die „Staatsmacht" aber schon kleinste Zeichen des politischen Bekenntnisses - wie etwa rote Schleifen oder rote Blumen - unnachgiebig entfernen ließ - und dabei manches Mal die Schmerzgrenze selbst der bürgerlichen Unterstützer des Sozialistengesetzes überschritt. [Fn-97: Vgl. hierzu die anschaulichen Schilderungen in: Alf Lüdtke , 1991, 131-134.] In den Jahren vor 1878 war der Spielraum jedoch noch größer. Von der Beerdigung zweier Lassalleaner 1874 in Hamburg wird berichtet, dass der Gesangverein „Lassallia" zwei „Grablieder" gesungen habe und zwei „ergreifende" Reden gehalten wurden, und die Darstellung fährt

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fort: „Nachdem sich der Zug sodann wieder geordnet, marschirten wir, die rothe Fahne an der Spitze des Zuges, unter dem Gesang der Marseillaise bis zur Kirchenallee in St. Georg, wo wir uns trennten." [Fn-98: NSD 30.9.1874, Nr. 113.] Hier gerät der Trauerzug - allerdings erst, als er sich vom Friedhof wegbewegt - unversehens zur eindeutigen politischen Demonstration mit den wichtigsten zeitgenössischen Symbolen der Sozialdemokratie: der roten Fahne und der Arbeitermarseillaise. Aber auch ohne diese beiden Symbole konnten der Begräbniszug und die Beisetzung auf dem Friedhof außergewöhnlich große politische Bedeutung gewinnen. Jedes öffentliche Begräbnis war zunächst einmal Ausdruck der Gemeinsamkeit der Trauernden und „Bekräftigung dessen, wofür der Tote oder die Toten ‚gestanden‘ hatten." [Fn-99: Alf Lüdtke , 1991, 130.] Dies war keine Besonderheit sozialdemokratischer Beerdigungen, sondern galt für die Trauerfeierlichkeiten einer jeden in der Öffentlichkeit stehenden Persönlichkeit. Für die bürgerlichen Beobachter waren die sozialdemokratischen Trauerzüge aber gerade darum besonders ungewöhnlich und erschreckend, weil sich hier eine Schicht, der man Teilhabe an der bürgerlichen Kultur eigentlich nicht zugestand, bürgerlicher „Formen" bediente und geordnet und diszipliniert an die Öffentlichkeit trat, obwohl man doch eigentlich eher „Krawall" und „Radau" mit ihrem Auftreten assoziierte. Wie stark die Wirkung einer solchen Demonstration war, zeigt der Bericht der Magdeburger Zeitung über die Beerdigung von August Heinsch im März 1878 in Berlin, der trotz seines noch jugendlichen Alters von 31 Jahren zu den bekanntesten Agitatoren der Sozialdemokraten zählte. Voller Erschrecken gipfelt dieser Bericht in der Frage:

    „Wer spricht noch vom Arbeiterbataillon Berlins angesichts dieses Leichenaufgebots? Das sind Regimenter, Divisionen, Brigaden; ja mehr, das sind ganze Armeekorps, ohne jedwede Übertreibung gesagt, das sind ganze Armeekorps, welche ihrem, sicherlich um die Sache hochverdienten Toten, die letzte Ehre erweisen."
    [Fn-100: Zitiert nach: Alf Lüdtke , 1991, 125.]

Die Furcht vor diesen Demonstrationen von Macht und Disziplin speiste sich jedoch noch aus einer anderen Quelle: Erst dreißig Jahre zuvor hatte ein anderer Leichenzug den preußischen König, den Bruder des nun regierenden Kaisers, dazu gezwungen, sein Haupt vor dem „Volk" zu neigen. Daran erinnerte man sich zwar in den meisten bürgerlichen Kreisen nicht gerne, aber dieses Ereignis war dennoch unvergessen. Unübersehbar war auch, dass sich die Sozialdemokratie mit ihren seit 1872 veranstalteten Märzfeiern in die

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Tradition gerade jener Bewegung von 1848 stellte. Der Gedanke an den großen Trauerzug zum Friedrichshain war darüber hinaus auch darum bei jeder größeren sozialdemokratischen Beerdigung naheliegend, weil diese mit der Aufstellung nach Gewerken eine der zentralen Formen des Begräbniszuges von 1848 wiederaufgriffen. Bezeichnenderweise war diese Aufstellung bei der Beisetzung von Heinsch durch das Verbot jeglicher Fahnen so gut wie unterbunden worden. Drei Jahre zuvor, beim Tod des bekannten Hamburger SDAP-Mitglieds Theodor York, war die Ordnung nach Berufsgruppen jedoch eines der am stärksten öffentlichkeitswirksamen Strukturelemente. Neben der beabsichtigten Wirkung nach außen war die Teilnahme an einem derart imposanten Leichenzug mit Sicherheit auch ein stark identitätsstiftendes Ereignis. Die Wirkung nach innen wurde durch die spezifischen Formen der Beisetzung auf dem Friedhof noch verstärkt bzw. ausgeweitet. Wenn Reden am Grab erlaubt waren - und das war im allgemeinen vor 1878 der Fall -, so führten die Redner den anwesenden Trauergästen noch einmal das Leben des Verstorbenen mit seinen Kämpfen, Entbehrungen und Erfolgen für die sozialdemokratische Sache vor Augen, um daraus die Verpflichtung abzuleiten, das Andenken des Verstorbenen zu ehren und seinen Kampf fortzuführen. Die Mahnung, sich um die Witwe und die Kinder des Toten zu kümmern, stärkte noch einmal das Gefühl der Gemeinschaft und der Geborgenheit in dieser Gemeinschaft, denn jeder Todesfall war für die Hinterbliebenen eine hohe finanzielle Belastung, die die Unterschichts-Familie in größte Existenzsorgen stürzen konnte, umso mehr, wenn es sich um den Tod des Haupt-Ernährers handelte. [Fn-101: Vgl. zum Inhalt der Reden: Alf Lüdtke , 1991, 132. Diese Elemente finden sich z.B. in den Reden anlässlich der Beerdigung Theodor Yorks, so wie sie im Volksstaat wiedergegeben werden: VS 8.1.1875, Nr. 2.] Mit Ausnahme der Sorge um Witwe und Kinder waren genau dies die Elemente der jährlichen Feiern zum Gedenken an den Tod Ferdinand Lassalles, wie sie weiter unten dargelegt werden sollen. Jeder Verstorbene wurde damit zum in der „Nachfolge" Lassalles gefallenen Kämpfer und stärkte aufs Neue die persönlich-emotionale Bindung an die sozialdemokratische Bewegung. Diese Parallele zu den Lassalle-Feiern wurde vermutlich noch durch die am Grab gesungenen Lieder verstärkt. In allen Zeitungsberichten über die Beisetzung von Sozialdemokraten [Fn-102: Neben dem bereits erwähnten Bericht über die Beerdigung Theodor Yorks vgl. auch NSD 7.3.1873, Nr. 28; NSD 30.4.1873, Nr. 50 und NSD 30.9.1874, Nr. 113.] wird die Teilnahme von Gesangvereinen erwähnt, die sich im allgemeinen schon durch ihre Namen - z.B. „Lassallia" - als sozialdemokratische Gesangvereine zu erkennen geben. Ihr Gesang war - wie noch zu zeigen sein wird - ein wesentliches Element jeder Lassalle-Feier. Die Namen der gesungenen Lieder werden leider in keinem der Berichte erwähnt. Die Bezeichnung als „Grablieder" sowie die diesen

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zugeschriebenen Epitheta („ergreifend", „würdig", „erhebend") entsprechen jedoch genau denen, die zur Charakterisierung der auf Lassalle-Feiern gesungenen Lieder benutzt werden. Da diese für die Lassalle-Feiern gedichteten Lieder oft auch nicht auf den ersten Blick politisch erscheinen, sondern das Moment der Trauer und der daraus erwachsenen Verpflichtung in den Vordergrund stellen, hätten sie vermutlich auf dem Friedhof gesungen werden können, ohne großen Anstoß zu erregen. Ein weiteres Indiz gibt der bereits erwähnte Bericht über die Beisetzung Theodor Yorks: Dort wird recht ausführlich aus der Trauerrede August Geibs zitiert, die mit den gedichteten Worten endete: „Brüder, was klaget Ihr? / Kummer und Sorgen laßt uns verschmerzen, / Thatkraft und Liebe schwelle die Herzen, / Thatkraft zum Kampfe und Liebe zum Licht, / Brüder, o trauert nicht!" Direkt im Anschluss an diese Dichterworte folgte ein von der Liedertafel „Lassallia" gesungenes Ständchen. [Fn-103: VS 8.1.1875, Nr. 2.] Die von Geib zitierten Verse entstammen einem Lied, das er selber unter dem Titel „Lassalle's Geisterstimme" für die Hamburger Lassalle-Feier von 1868 gedichtet hat und das nachweisbar noch auf zwei weiteren Lassalle-Feiern außerhalb Hamburgs gesungen wurde. [Fn-104: SD 11.9.1868, Nr. 106, Lassalle-Feier in Greiz i.Br. in: NSD 8.10.1871, Nr. 43 und Lassalle-Feier in Bautzen in: NSD 27.10.1871, Nr. 51.] Die große geographische Entfernung zwischen den Orten, wo dieses Lied gesungen wurde, legt nahe, dass es recht beliebt bei Lassalle-Feiern war. Wenn Geib aber schon bei einer Beerdigung aus einem typischen „Lassalle-Lied" zitiert, so ist es überaus wahrscheinlich, das solche Lieder auch bei diesem Anlaß gesungen wurden. In der vorliegenden Situation ist sogar zu vermuten, dass der Gesangverein im Anschluss an die Rede Geibs das betreffende Lied vorgetragen hat. Diese Einbettung gerade der schwierigsten Augenblicke einer Beisetzung - der Blick in das noch leere Grab, das Hinunterlassen des Sarges, das Bedecken des Sarges mit Erde - in von den Lassalle-Feiern wohlbekannte Formen gibt diesen Momenten eine höhere Weihe, weist dem individuellen Todesfall eine Bedeutung in der sozialdemokratischen „Heilsgeschichte" zu, die auf der einen Seite Trost schenkt, auf der anderen Seite die Verpflichtung an und die Identifikation mit den sozialdemokratischen Ideen in unnachahmlicher Weise stärkt.

Ob man nun zum Abschluss einer Volksversammlung, im Kampf mit politischen Gegnern und der „Obrigkeit" oder zum letzten Geleit der toten Genossen gemeinsam sang, in allen diesen Fällen stand der Gesang in einem primär politisch bestimmten Rahmen. Und doch diente er nur am Rande der Vermittlung von politisch-programmatischen Ideen. Der Inhalt der Lieder war natürlich nicht gleichgültig; er musste eine eindeutige politische Zuordnung der

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Sänger erlauben. Dazu genügten aber einige Schlagworte und Namen. Wichtiger war jedoch, dass Charakter und Stimmung des Liedes den unterschiedlichen Funktionen gerecht wurden, die der Gesang auf dem Feld der politischen Auseinandersetzung einnehmen konnte. Zuallererst war der „Volksgesang" ein Mittel, um Gemeinschaft auszudrücken und zu stärken. Es gibt kaum eine Möglichkeit, Gemeinschaft besser sinnlich erfahrbar zu machen, als gerade durch das gemeinsame, einstimmige Singen. Text und Melodie des gesungenen Liedes können diese Wirkung noch unterstützen, indem der Text den Gedanken der Einheit - womöglich noch der bedrohten Einheit - aufnimmt und die Melodie durch ihren entweder feierlichen oder kämpferischen Charakter diese Gedanken widerspiegelt. Dementsprechend wurde in der ersten Phase der parteilichen Konstituierung der Sozialdemokraten, besonders bei dem Zweig, dessen Bindungen an die meist liberalen Arbeiterbildungsvereine noch stark waren, die Einheit eher feierlich mit dem „Bundeslied" oder ähnlichen Gesängen bekräftigt, während später - als die Spannungen innerhalb der Sozialdemokratie bzw. zwischen Sozialdemokraten und liberal-bürgerlichen Kreisen zunahmen - die kämpferische Arbeitermarseillaise offensichtlich passender erschien. Sie setzte sich darum zunächst im ADAV, in der Phase der Annäherung dann aber auch in der SDAP durch. Darüber hinaus hatte die Arbeitermarseillaise vor allen anderen Liedern den unbestrittenen Vorteil, ein eindeutiges musikalisches Symbol zu bieten: Keine andere Gruppe der Gesellschaft erhob Anspruch auf die Melodie der Marseillaise und doch war sie allen wohlbekannt und weckte Assoziationen von „Kampf" und „Revolution". Darum kam sie dem Bestreben entgegen, dem Gegner Respekt oder gar Angst einzuflößen und symbolisch Anspruch auf die Macht zu erheben, wie es gerade für „Straßendemonstrationen" der Sozialdemokraten gezeigt werden konnte. Der legalistische Charakter des Textes unterstützte diesen Anspruch in nur scheinbar paradoxer Weise; letztendlich wollte man die demonstrierte Macht ja nicht gewaltsam nutzen, sondern durch Disziplin und Wahrung der parlamentarischen Formen die eigene politische Reife beweisen. Dieser Prozess der Sozial- und Selbstdisziplinierung wurde durch den gemeinsamen Gesang derart kämpferischer Lieder erst ermöglicht oder zumindest erleichtert. Aufgestaute Emotionen, Ärger und Wut konnten kanalisiert und in der Aktion aufgehoben werden. Nicht zuletzt war der „Massengesang" in der Öffentlichkeit mit seiner großen Fernwirkung und scheinbaren Unverfänglichkeit auch ein Mittel der Werbung, wie die Lebensgeschichte Wilhelm Bocks exemplarisch zeigt.

Im Unterschied dazu spielte der sogenannte „Volksgesang" auf den politischen Versammlungen des bürgerlichen Lagers zu diesem Zeitpunkt keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Für einen feierlichen Rahmen mit ent-

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sprechendem nationalen Pathos sorgten dagegen die bürgerlichen Gesangvereine, die z.B. bei größeren Lokalversammlungen oder den jährlichen Generalversammlungen des Nationalvereins auftraten. [Fn-105: Andreas Biefang , Massenbasis des Liberalismus? Der Deutsche Nationalverein und die Vereine der Arbeiter, Turner, Schützen und Sänger, in: Friedhelm Brusniak / Dietmar Klenke (Hg.), „Heil deutschem Wort und Sang!", Augsburg 1995, 23-38, hier: 33/34.] Dies hängt vermutlich mit dem anderen Selbstverständnis der „Bürger" zusammen, das sich auch in ihrem anderen Verständnis von „Partei" spiegelte. Als Bürger definierte man sich stark über die eigene Lebensform und Kultur, die in der Praxis zwar in hohem Maße sozial exklusiv wirkten, in der Theorie jedoch als allgemeingültiges Modell angesehen wurden. Darum auch hat der gemeinsame Gesang als Mittel der Identifikation und der Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen oder Schichten der Gesellschaft keinen Platz auf den politischen Versammlungen von Liberalen und Konservativen. Eine große Rolle spielte die Musik dagegen in der Außenabgrenzung gegenüber anderen Nationen. Hier verband sich bürgerlicher Bildungsanspruch mit dem nationalen Gedanken, so dass der Männergesang in bürgerlichen Kreisen schließlich als inniger Ausdruck des deutschen Volkes gelten konnte. [Fn-106: Dietmar Klenke , Das nationalheroische Charisma der deutschen Sängerfeste am Vorabend der Einigungskriege, in: Friedhelm Brusniak / Dietmar Klenke (Hg.), 1995, 141-196, hier: 154.] Damit war jedoch immer auch ein künstlerischer Anspruch verbunden, so dass selbst die nationalen Lieder im allgemeinen nicht gemeinsam gesungen, sondern vorgetragen wurden. Der Auftritt der im Deutschen Sängerbund organisierten Gesangvereine hatte so seinen festen Platz bei offiziellen Feiern wie beim festlichen Empfang der Truppen, bei der Ehrung „nationaler" Dichter und „Helden" und auch bei den nationalgefärbten Sängerfesten. Doch auch die Sozialdemokraten hatten ihre Feste, und auch dort traten Gesangvereine auf. Und so scheinen auf den ersten Blick gerade die Formen der Feste von bürgerlichen Liberalen bzw. Konservativen einerseits und den Sozialdemokraten andererseits nicht so verschieden zu sein.


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