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Einleitung


„Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied / Ein leidig Lied!", so lautet das Verdikt Johann Wolfgang von Goethes, das dieser im 1808 veröffentlichten „Faust I" der Figur des Brander in den Mund legt. [Fn-1: Johann Wolfgang von Goethe , Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil und Urfaust, hrsg. v. Erich Trunz, München 1986, 68.] Diese Geringschätzung einer politisch engagierten Lyrik aus der Feder eines der bedeutendsten deutschen Dichter hat die Wahrnehmung und Beurteilung dieser Form von Dichtung bis heute entscheidend geprägt. Dennoch gab es immer wieder Zeiten, in denen ein solches Urteil hinterfragt oder geradezu auf den Kopf gestellt wurde. So ruft August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der Freiheitssänger von 1848, einige Jahrzehnte später dichtend aus: „Ein politisch Lied, ein garstig Lied! / So dachten die Dichter mit Goethen / […] / Doch anders dachte das Vaterland: / Das will von der Dichterinnung / Für den verbrauchten Leiertand / Nur Mut und bied're Gesinnung. / Und wer nicht die Kunst in unserer Zeit / Weiß gegen die Kunst zu richten, / Der werde nun endlich beizeiten gescheit / Und lasse lieber das Dichten!" [Fn-2: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben , Gesammelte Werke, 8 Bde., hrsg. v. Heinrich Gerstenberg, Berlin 1890-93, hier: Bd. 1, 45.]
In der Tat erfreute sich die politische Dichtung seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts einer zunehmenden Wertschätzung, die in einer rasch ansteigenden Produktion und Verbreitung politischer Lieder und Gedichte ihren Ausdruck fand. [Fn-3: Horst Denkler , Zwischen Julirevolution (1830) und Märzrevolution (1848/49), in: Walter Hinderer (Hg.), Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, Stuttgart 1978, 179-209, hier: 180.]
Die Revolution von 1848 wirkte auch und gerade in dieser Hinsicht als eine Art „publizistische[r] Dammbruch", denn nun überschwemmten eine Fülle von kämpferischen Liederbüchern den Markt, und erstmals fanden politische Gedichte und Lieder ihren Weg in die Zeitungen. [Fn-4: Ulrich Otto , Die historisch-politischen Lieder und Karikaturen des Vormärz und der Revolution von 1848/49, Köln 1982, 38.]
Auch das weitgehende Scheitern der Revolution von 1848 konnte den Siegeszug der politischen Lieder und Gedichte nicht aufhalten. Zwar wandten sich viele namhafte Dichter zunächst einmal ungefährlicheren Sphären zu, aber mit der Auflockerung der Zensurbestimmungen und einer allgemeinen politischen Liberalisierung - in Preußen mit dem Anbruch der sogenannten „Neuen Ära" 1858 - griffen mehr oder weniger geschickte Poeten wieder zur Feder, um ihre Klage über die Verhältnisse, ihre Forderungen für eine bessere Zukunft oder auch ihr Lob des Erreichten in Reime zu fassen.

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Politische Lieder und Gedichte aus dieser Zeit zwischen 1848 und 1875 sollen in der vorliegenden Arbeit im Vordergrund stehen. Damit wird im wesentlichen wissenschaftliches Neuland betreten. Die germanistische Forschung hat zwar in den letzten Jahren einige Studien zu den politischen Liedern und Gedichten des Vormärz und der Revolution von 1848 hervorgebracht, die politische Lyrik der ohnehin ungeliebten Epoche des sogenannten Nachmärz dagegen mit Schweigen übergangen. [Fn-5: Zu nennen sind hier vor allem: Ulrich Otto , 1982 und Heidrun Kämper-Jensen , Lieder von 1848. Politische Sprache einer literarischen Gattung, Tübingen 1989.]
Die Arbeit mit Liedern und Gedichten als historischer Quelle befindet sich noch in ihren Anfängen [Fn-6:Allerdings widmete die geschichtsdidaktische Zeitschrift „Geschichte lernen" dem Thema „Lieder im Geschichtsunterricht" bereits ein ganzes Heft: Geschichte lernen, 50 (1996).], doch sind zu dem hier vorgestellten Zeitraum zwei wichtige Monographien zu nennen: Ein Vergleich der Chansons des französischen Arbeitermilieus aus den Tagen der Julimonarchie mit den Liedern der deutschen Sozialdemokratie zwischen 1863 und 1890 steht im Mittelpunkt von Axel Körners Studie „Das Lied von einer anderen Welt". [Fn-7: Axel Körner , Das Lied von einer anderen Welt. Kulturelle Praxis im französischen und deutschen Arbeitermilieu 1840-1890, Frankfurt a.M. / New York 1997.]
Auch Vernon Lidtke hat in seinem grundlegenden Werk über die „Alternative Culture" der deutschen Sozialdemokratie deren Lieder und Gedichte untersucht, allerdings liegt der Schwerpunkt seiner Analyse auf der Zeit nach Aufhebung des Sozialistengesetzes, d.h. nach 1890. [Fn-8: Vernon L. Lidtke , The Alternative Culture. Socialist Labor in Imperial Germany, New York / Oxford 1985.]

Den Kern der hier folgenden Untersuchung bilden Lieder und Gedichte der deutschen Sozialdemokratie. Anders als bei Lidtke soll aber gerade die Frühzeit der Sozialdemokratie Gegenstand der Auseinandersetzung sein, d.h. die Jahre zwischen der ersten parteilichen Konstituierung als „Allgemeiner deutscher Arbeiterverein" (ADAV) unter Führung Ferdinand Lassalles 1863 und der Vereinigung des ADAV und der 1869 gegründeten „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" (SDAP) zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands" im Jahre 1875. Aus der Sicht vieler Historiker erfolgte in jenen Jahren von 1863 bis 1875 eine entscheidende Weichenstellung für die weitere deutsche Geschichte, die auch im europäischen Vergleich einzig dasteht: die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie. [Fn-9: Vgl. Jürgen Kocka , Die Trennung von bürgerlicher und proletarischer Demokratie im europäischen Vergleich. Fragestellungen und Ergebnisse, in: Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1983, 5-20.] Neben dieser im wesentlichen organisatorischen bzw. dann auch politisch-programmatischen Auseinanderentwicklung wird jedoch immer wieder eine gegenläufige

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Tendenz für das Gebiet der Kultur [Fn-10: Wenn im folgenden der Begriff „Kultur" verwandt wird, so steht dahinter keine Wertung, etwa im Sinne von „Hochkultur", sondern „Kultur" soll als „Lebensstil, Lebensweise, Alltag, in denen kulturelle Muster gelebt, wiederholt und verändert werden", verstanden werden. Dieser breite Kulturbegriff eignet sich besonders zur Untersuchung schichtenspezifischer Unterschiede, da er „die vielfältigen Ausdrucksformen von Kultur erst recht ins Licht […] rückt." Vgl. Heide Wunder , Kultur-, Mentalitätengeschichte, Historische Anthropologie, in: Richard van Dülmen (Hg.), Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt a.M. 1990, 65-86, hier: 67.] bzw. Alltagsnormen postuliert: Hier wird gerne von einer Verbürgerlichung sowohl der organisierten als auch der nicht-organisierten Arbeiter gesprochen. [Fn-11: Vgl. z.B. Thomas Nipperdey , Aspekte der Verbürgerlichung, in: Jürgen Kocka (Hg.), Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich, München 1986, 49-52.]
Lidtke hat dieser These der zunehmenden Verbürgerlichung der Arbeiterschaft in seinem bereits erwähnten Werk [Fn-12: Vgl. Anmerkung 8.] das Konzept einer von der Arbeiterbewegung erstrebten „alternative culture" entgegengesetzt. Mit diesem Begriff umschreibt Lidtke das Bestreben der Sozialdemokraten, auch im Bereich der Kultur eine Alternative zu der bestehenden „dominant culture" zu bieten, eine eigene Hochkultur zu entwickeln, die zwar bestimmte Formen und Inhalte von der bzw. den „dominanten", d.h. bürgerlichen Kultur(en) übernimmt, sich aber dennoch durch die Formulierung eigener Ziele und die Einführung bestimmter Neuerungen radikal vom Lebensstil der Bürger unterscheidet.

Um zu erkunden, ob auch für die frühe Phase der Sozialdemokratie zwischen 1863 und 1875 dieses Konzept der „alternative culture" tragfähig ist oder ob nicht doch eher von einer Verbürgerlichung gesprochen werden sollte, lohnt es sich, einen vergleichenden Blick auf die Lieder und Gedichte der organisierten Arbeiterbewegung und des Bürgertums [Fn-13: Dass es bei aller Schwierigkeit doch möglich ist, gerade im Hinblick auf einen Vergleich mit der Arbeiterbewegungskultur nach 1850 von einer bürgerlichen Kultur zu sprechen, verdeutlichen u.a. Hans-Ulrich Wehler , Bürger, Arbeiter und das Problem der Klassenbildung 1800-1870. Deutschland im internationalen Vergleich, in: Jürgen Kocka (Hg.), Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich, München 1986, 1-27, hier v.a. 8/9, und Gerhard A. Ritter , Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Bürgertum in Deutschland, in: Manfred Hettling / Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland, Hans-Ulrich Wehler zum 65. Geburtstag, München 1996, 171-191.] zu werfen. Dies soll auf zweierlei Ebenen geschehen: Zum einen stellt sich die Frage nach dem Platz bzw. der Funktion, die Lieder und Gedichte im Alltag der Bürger und der organisierten Arbeiter, auf ihren Versammlungen und Festen einnahmen. Gerade in den letzten Jahren sind einige Studien über die Festkultur von Bür-

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gern und Arbeitern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen. [Fn-14: Vgl. v.a. Manfred Hettling / Paul Nolte (Hg.), Bürgerliche Feste, Göttingen 1993; Dieter Düding u.a. (Hg.), Öffentliche Festkultur, Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg 1988 sowie zuletzt Hans Dieter Schmid (Hg.), Feste und Feiern in Hannover, Bielefeld 1995 und Gerhard Schneider , Politische Feste in Hannover (1866-1918), Teil 1: Politische Feste der Arbeiter, Hannover 1995.]
Auch über die Bedeutung des bürgerlichen (Männer-)Gesangs ist manches bekannt [Fn-15: Vgl. v.a. die Aufsätze Dietmar Klenkes : Bürgerlicher Männergesang und Politik in Deutschland, in: GWU 40 (1989), H. 8, 458-485, H. 9, 534-561; Zwischen nationalkriegerischem Gemeinschaftsideal und bürgerlich-ziviler Modernität, in: GWU 45 (1994), H. 4, 207-223 und Nationalkriegerisches Gemeinschaftsideal als politische Religion. Zum Vereinsnationalismus der Sänger, Schützen und Turner am Vorabend der Einigungskriege, in: HZ 260 (1995), 395-448, den Tagungsband: Friedhelm Brusniak / Dietmar Klenke (Hg.), „Heil deutschem Wort und Sang!" Nationalidentität und Gesangskultur in der deutschen Geschichte, Augsburg 1995 sowie zuletzt Dietmar Klenke , 1998: Der singende „deutsche Mann": Gesangvereine und deutsches Nationalbewußtsein von Napoleon bis Hitler, Münster u.a.], doch über die Stellung von Liedern und Gedichten innerhalb der Arbeiterbewegungskultur finden sich bisher nur sehr allgemeine Aussagen in der Literatur. Dies gilt ganz besonders für die Frühzeit der Sozialdemokratie. Darum musste für die Frage nach Funktion und „kultureller" Bedeutung der „Arbeiterlieder und -gedichte" sehr quellennah gearbeitet werden. Da die Arbeiterbewegungskultur im Mittelpunkt steht und die bürgerliche Kultur „nur" zum Vergleich bzw. zur besseren Einordnung in das Geflecht der verschiedenen Kulturen herangezogen wird, musste auf bereits vorhandene Ergebnisse der Forschung zur Stellung von politischen Liedern und Gedichten innerhalb der bürgerlichen Kultur zurückgegriffen werden. Diese Asymmetrie des Vergleichs [Fn-16: Der Begriff des „asymmetrischen Vergleichs" wird im allgemeinen im Hinblick auf international vergleichende Geschichtsschreibung gebraucht, bietet sich jedoch auch für diese Untersuchung an, wenngleich die beziehungsgeschichtliche Komponente, die zwar auch in den meisten anderen Vergleichen eine Rolle spielt, hier ungleich stärker ausgeprägt sein dürfte als bei internationalen Vergleichen, vgl. zur „asymmetrische[n] Variante des kontrastierenden Vergleichs": Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka , Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. / New York 1996, 9-45, hier: 15.] wird auch in der Darstellung zum Tragen kommen, da die Ergebnisse zur Stellung von Liedern und Gedichten innerhalb der Arbeiterbewegung zunächst einmal aus den Quellen herausgearbeitet und begründet werden müssen, bevor sie mit den entsprechenden Ergebnissen zur bürgerlichen Fest- und Versammlungskultur konfrontiert werden können.

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Wie zu zeigen sein wird, entfalteten sowohl Lieder als auch Gedichte eine nicht zu unterschätzende Wirkung im öffentlichen Raum. Die Lieder der Arbeiterbewegung waren keineswegs nur „populärer Lesestoff" [Fn-17: Dies steht im Gegensatz zu Körner, der annimmt, dass die Lieder der Arbeiterbewegung vornehmlich der stillen Lektüre dienten, vgl. Axel Körner , 1997, 120 /121.], sondern wurden vielerorts gemeinsam gesungen oder vorgeführt. Auch Gedichte hatten ihren festen Platz in der Festkultur. Diese den Gedichten und Liedern gemeinsame öffentliche Funktion erlaubt es, Gedichte und Lieder in einem Quellenkorpus zusammenzufassen, wenn sich auch Lieder durch die Verbindung von Wort und Musik in noch stärkerem Maße an das Gefühl der Menschen zu wenden vermögen und dadurch noch besser in der Lage sind, Bilder und Vorstellungen von Wirklichkeit direkt und unmerklich zu beeinflussen. [Fn-18: Vgl. Ulrich Otto , 1982, 16.]
Gemeinsam ist beiden Gattungen, dass die Reimform zur Abstraktion und Vereinfachung zwingt und dass eben diese Reimform die Memorierbarkeit von Liedern und Gedichten entscheidend vereinfacht, so dass beide eine viel größere Breitenwirkung entfalten können als etwa eine Rede und sich darüber hinaus zum mehrmaligen „Gebrauch" eignen.

Damit bietet sich zum anderen die inhaltliche Untersuchung politischer Lieder und Gedichte im besonderen Maße an, um einen Einblick in das Gefälle zwischen den Theoriedebatten und Programmschriften auf „höchster" Ebene und ihren „vulgarisierten" Erscheinungsformen zu bekommen. Es scheint darum möglich, über die Analyse der politischen Dichtung Zugang zu der Ebene der „Alltagsnormen" zu bekommen, zu der Ebene also, die man mit Althusser auch als „Ideologie" bezeichnen könnte und die das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen umfasst. [Fn-19: Diesen Ansatz entwickelt Althusser vornehmlich in: Louis Althusser , Für Marx, Frankfurt a.M. 1968.]
Dies umso mehr, als die ausgewählten Lieder und Gedichte nicht nur in besonderer Weise dieses imaginäre Verhältnis geprägt haben, sondern gleichzeitig von diesem Verhältnis deutlicher Zeugnis ablegen als theoriegeleitete Reden oder Schriften, da sie zu einem großen Teil aus der Feder von unbekannten oder an weniger exponierter Stelle im politischen Leben stehenden Gelegenheitsdichtern stammen. Darum auch ist bei der Zusammenstellung des Quellenkorpus für den eigentlichen Untersuchungszeitraum im wesentlichen nicht auf Liederbücher und Gedichtsammlungen zurückgegriffen worden, sondern auf die in der Tagespresse veröffentlichten Gedichte und Lieder. Diese Auswahl bringt noch einen weiteren Vorteil mit sich: Alle Gedichte und Lieder sind - mit ganz wenigen Ausnahmen - innerhalb einer Zeitung nur einmal abgedruckt worden; in den allermeisten Fällen handelt es sich offensichtlich um „aktuelle" Produktionen, seltener um „alte" Werke, die dann

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aber zumeist mit einem kleinen Kommentar versehen sind, etwa in dem Sinne, dass das Gedicht auch zum Zeitpunkt des Wiederabdrucks noch Gültigkeit besitze. Diese Gedichte und Lieder nahmen also mit Sicherheit nur in seltenen Fällen eine „zeremonielle" Funktion ein [Fn-20: Eine solche, bei der der eigentliche Inhalt zugunsten des Gedankens der Tradition zurücktritt, stellt Lidtke für einen Teil der von ihm untersuchten Arbeiterlieder fest; vgl. Vernon L. Lidtke , Lieder der deutschen Arbeiterbewegung 1864-1914, in: GG 5 (1979), 54-82, hier 57.], so dass eine Analyse dieser Werke über mehrere Jahrgänge hinweg es erlauben müsste, Veränderungen und Kontinuitäten auf der Ebene der „Ideologie" festzustellen.

Dieser Versuch, das Verhältnis von Arbeiterbewegungskultur und bürgerlicher Kultur im Spannungsfeld von politisch-organisatorischer Auseinanderentwicklung und kultureller Nähe zu bestimmen, führt weiter zu der Frage, wie stark das Erbe von 1848 insbesondere die Kultur der Arbeiterbewegung geprägt hat. Zwar lassen sich bereits im Verlauf der Revolution von 1848 eine Bürgerbewegung und eine Volksbewegung unterscheiden; die eigentlich zur Volksbewegung zu zählende organisierte Handwerker- und Arbeiterschaft stand der Bürgerbewegung jedoch noch sehr nahe. [Fn-21:Jürgen Kocka , Arbeit und Freiheit. Die Revolutionen von 1848. Manuskript eines Vortrages, der auf einer Veranstaltung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Künste am 17. März 1998 gehalten wurde, 24/25, ähnlich Rüdiger Hachtmann , Berlin 1848, Bonn 1997.]
Die Frage ist also, ob Ähnlichkeiten zwischen bürgerlichen und sozialdemokratischen Alltagsnormen, zwischen ihrer „Ideologie" im oben definierten Sinne, auf einen Prozess der Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung bzw. einen Versuch der Überflügelung der bürgerlichen durch die Kultur der Arbeiterbewegung hindeuten oder ob sie nicht vielmehr auf ältere Traditionslinien verweisen. Hierbei geht es also nicht so sehr um die auf seiten der Sozialdemokratie bewusst inszenierte Tradition von 1848 [Fn-22: Diese Form der Traditionspflege steht z.B. im Zentrum der Forschungen zu den sozialdemo kratischen Märzfeiern, vgl. etwa Beatrix W. Bouvier , Die Märzfeiern der sozialdemokratischen Arbeiter: Gedenktage des Proletariats - Gedenktage der Revolution, in: Dieter Düding u.a. (Hg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg 1988, 334-351, und wird auch im Kapitel über Funktion und Bedeutung der Lieder und Gedichte innerhalb der Fest- und Versammlungskultur zur Sprache kommen.], sondern um die Suche nach einer historischen „Unterströmung", die in den Bildern und Vorstellungen der Lieder und Gedichte auszumachen sein könnte. Keine Entwicklung von 1848 bis in die sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts soll also nachgezeichnet werden, sondern der Grad der Entfernung zwischen 1848 einerseits und den Jahren von 1863 bis 1875 andererseits gemessen werden. Dafür ist es notwendig, eine Momentaufnahme der „Ideologie" von bürgerlichen Demokra-

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ten und organisierten Arbeitern im Augenblick der Revolution von 1848 zu entwerfen. Darum ist es bei dieser Fragestellung möglich, Lieder und Gedichte aus zeitgenössischen Liedsammlungen - und eben nicht aus Zeitungen - als Quellenkorpus zu verwenden.

Insgesamt elf Liederbücher aus den Beständen des in DDR-Zeiten aufgebauten Arbeiterliedarchivs [Fn-23: Das Arbeiterliedarchiv ist heute Teil der Stiftung Archiv der Akademie der Künste in Berlin.] mit zusammen rund 400 Liedern und Gedichten der Zeit von 1848 bis 1851 liegen der Analyse zugrunde. Bei der Auswahl der Liederbücher stand die Überlegung im Vordergrund, sowohl regional als auch im Hinblick auf die Herausgeber ein möglichst breites Spektrum der 1848 aktiven liberalen Demokraten bzw. der sich formierenden Arbeiterbewegung zu erfassen. So finden sich unter den Herausgebern sowohl Namen wie Julius Schanz und J.C.J. Raabé, die den liberalen Demokraten nahestanden, als auch Organisationen wie der radikalere Bildungs-Verein für Arbeiter in Hamburg oder der der handwerklichen Welt noch stark verhaftete Berliner Handwerker-Verein. Die Liste der Druckorte reicht von Königsberg über Leipzig, Berlin und Hamburg bis nach Kassel. Damit bleibt die süddeutsche Revolutionsbewegung zwar ausgeklammert, aber die wichtigsten Wirkungsstätten der späteren sozialdemokratischen Parteien sind - mit einigen Ausnahmen - vertreten. [Fn-24: Der Schwerpunkt des ADAV lag 1875 in Berlin. Auch in Hamburg und Schleswig-Holstein, in Hannover, in Elberfeld-Barmen mit dem bergisch-märkischen Industriebezirk, in Frankfurt mit dem Maingau sowie in Breslau und Stettin war der ADAV sehr aktiv. Die SDAP hatte ihr regionales Zentrum hingegen in Sachsen, war aber auch in Schlesien, Thüringen, Braunschweig, im Gebiet an der unteren Weser und im Rheinland stärker vertreten, vgl. Dieter Fricke , Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917, 2 Bde., Berlin (Ost) 1987, 59 bzw. 123.]
Über die Auflagenhöhe und Verbreitung dieser meist im Selbstverlag herausgegebenen Liederbücher konnte leider nichts Genaueres in Erfahrung gebracht werden. Da sie jedoch recht preiswert waren und oft eine zweite (allerdings veränderte) Auflage erlebten [Fn-25: So wurden die 1849 in Kassel von J.C.J. Raabé herausgegebenen „Republikanische[n] Lieder und Gedichte" bereits 1851 erneut - und um viele Lieder erweitert - aufgelegt. Das vom Berliner Handwerker-Verein 1848 auf den Markt gebrachte „Liederbuch für Handwerker-Vereine" erschien in zweiter Auflage um 1860 (laut Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums. 1700-1910, München u.a. 1983: 1861), die „Deutsche[n] Lieder" des Hamburger Bildungs-Vereins für Arbeiter von 1849 wurden 1855 in zweiter Auflage herausgegeben.], ist anzunehmen, dass sie auch einen gewissen Verkaufserfolg gehabt haben dürften.

Bei der Beantwortung der anderen, vorher skizzierten Fragen stütze ich mich im wesentlichen auf Zeitungen der Jahre 1863 bis 1875. Zur Bestimmung von Funktion und Bedeutung der Lieder und Gedichte innerhalb der Arbeiterbe-

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wegungskultur wurden vorwiegend Berichte über Feste und Versammlungen aus den beiden sozialdemokratischen Zeitungen „Social-Demokrat" (SD) bzw. „Neuer Social-Demokrat" (NSD) und „Volksstaat" (VS), die veröffentlichten Protokolle des ADAV und der SDAP [Fn-26: Dieter Dowe (Hg.), Protokolle und Materialien des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (inkl. Splittergruppen), Berlin / Bonn 1980 und Protokolle der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Band I: Eisenach 1869- Coburg 1874, Bonn u.a. 1971.] sowie einige wenige Autobiographien von Sozialdemokraten herangezogen. [Fn-27: August Bebel , Aus meinem Leben (ursprünglich 1910/11), Berlin (Ost) 1988, Eduard Bernstein , Sozialdemokratische Lehrjahre, Berlin 1990, Wilhelm Bock , Im Dienste der Freiheit, Berlin 1927, Moritz Th. W. Bromme , Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters, Frankfurt a.M. 1971 und Johann Most , Ein Sozialist in Deutschland, hrsg. v. Dieter Kühn, München 1974 sowie der sehr realitätsgetreue Roman über einen Hamburger Zigarrenarbeiter: Otto Ernst , Asmus Sempers Jugendjahre, Leipzig 1906.]
Die der inhaltlichen Analyse zugrunde gelegten rund 380 Gedichte und Lieder entstammen ebenfalls den gerade erwähnten sozialdemokratischen Zeitungen. Für die „bürgerliche" Seite des Vergleichs wurden ausgewählte Jahrgänge der liberalen „Vossischen Zeitung" (VZ) und der konservativen „Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung" (KrZ) nach Gedichten und Liedern durchgesehen und rund 530 für die Analyse ermittelt. [Fn-28: Es handelt sich um die Jahrgänge 1863/64, 1866, 1871 und 1874. Die Auswahl der Jahrgänge erfolgte nach einer ersten Durchsicht aller Jahrgänge zwischen 1863 und 1875, die ergab, dass fast ausschließlich in den Jahren des Krieges und der Reichseinigung Gedichte und Lieder an die Redaktionen der beiden Zeitungen eingeschickt wurden. Darum wurden die beiden Kriegsjahre 1864 und 1866 sowie 1871 als zweites Jahr des deutsch-französischen Krieges und als Jahr der Reichsgründung ausgewählt. 1863 wurde ausgesucht, um ein eventuelles Echo auf die Gründung des ADAV und auf den seit 1862 schwelenden preußischen Verfassungskonflikt ausmachen zu können. Das Jahr 1874 erschien insofern von Bedeutung, da in diesem Jahr die Repressionen gegen die Sozialdemokraten stark zunahmen.]

Mit dem „Social-Demokrat" bzw. dem „Neuen Social-Demokrat" ist das wichtigste dem ADAV nahestehende Presseorgan vertreten, der „Volksstaat" ist die Zeitung der SDAP. Der Social-Democrat [Fn-29: Die folgenden Angaben beziehen sich auf die Darstellung von Kurt Koszyk in: ders., Deutsche Presse im 19. Jahrhundert (= Geschichte der deutschen Presse, Bd. 2), Berlin 1966, 127-209 (Kapitel XI: Die Parteipresse).] erschien erstmals am 15. Dezember 1864. Er befand sich im Besitz Jean-Baptiste von Schweitzers, der auch als Herausgeber fungierte. Ende November 1865 wurde der Social-Democrat offizielles Organ des ADAV; der ADAV kündigte diesen Vertrag jedoch bereits Ende 1865 wieder auf. Dennoch waren - so Koszyk - die meisten Leser organisierte Parteimitglieder. [Fn-30: Kurt Koszyk , 1966, 189.]
Mit der Wahl Schweitzers zum

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Präsidenten des ADAV im Jahre 1867 wurde die organisatorische Verknüpfung von ADAV und SD wieder enger. Zunächst erschien der Social-Demokrat dreimal wöchentlich, ab 1. Juli 1865 täglich (in ca. 1000 Exemplaren), seit 1. April 1866 wurde angesichts gesunkener Abonnentenzahlen (auf ca. 420) das Erscheinen wieder auf drei Ausgaben pro Woche begrenzt. Einen Höhepunkt erlebte der Social-Democrat 1869 mit einer Auflagenstärke von 4500 Exemplaren. Die Nachfolgezeitung, der Neue Social-Democrat (NSD), feierte ihre Premiere am 2. Juli 1871; sie befand sich gänzlich im Besitz des ADAV, der sich inzwischen von Schweitzer getrennt hatte; die Position des Chefredakteurs nahm Wilhelm Hasenclever ein.

Der Volksstaat (VS) gab sein Debüt am 1. Oktober 1869; er war von Anfang an als Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) konzipiert. Im Organisationsstatut findet sich so u.a. der Satz: „Die Haltung des Blattes ist streng dem Parteiprogramm anzupassen." [Fn-31: Zitiert nach Kurt Koszyk , 1966, 193.]
Die Zeitung erschien kontinuierlich dreimal die Woche und erreichte 1873/74 eine Auflagenstärke von 7000 Exemplaren.

Im Anschluss an den Vereinigungsparteitag von ADAV und SDAP zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) Ende Mai 1875 in Gotha wurden der „Neue Social-Democrat" und der „Volksstaat" am 1. Oktober 1876 zum „Vorwärts" zusammengefasst.

Mit dem Social-Demokrat, dem Neuen Social-Demokrat und dem Volksstaat sind somit die beiden Hauptströmungen der Sozialdemokratie aus den Jahren 1863 bis 1875 im Quellenkorpus enthalten. Zweifellos vorhandene Unterschiede zwischen ADAV und SDAP können damit erkannt werden und sollen im folgenden Erwähnung finden, es soll jedoch nicht systematisch zwischen beiden sozialdemokratischen Tendenzen unterschieden werden. Dies erscheint umso mehr als gerechtfertigt, als neuere Untersuchungen gezeigt haben, dass die inhaltliche Differenz zwischen ADAV und SDAP in der Vergangenheit vielfach überpointiert wurde und die Fluktuation zwischen beiden Organisationen wesentlich größer war als bisher angenommen. [Fn-32: Thomas Welskopp , Das Banner der Brüderlichkeit: die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, 47.]

Mit der Auswahl von Kreuz-Zeitung bzw. Vossischer Zeitung wurden die beiden im „Bürgertum" [Fn-33: Ich möchte hier noch einmal auf die Bemerkungen zum Begriff „Bürgertum" in Anmerkung 13 hinweisen. Zu den Unterstützern der Kreuz-Zeitung gehören zweifellos mehr Adlige als „Bürgerliche" im strengen Sinne. Da es bei den hier verfolgten Fragen aber um eine Gegenüber stellung von Arbeiterbewegungskultur und „bürgerlicher Kultur" als „dominant culture" geht, erscheint es erlaubt, die Kreuz-Zeitung als Presseorgan zu verstehen, das für den Konservatismus in Adel und Bürgertum repräsentativ ist.] vorherrschenden politischen Strömungen berücksichtigt.

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Die Kreuz-Zeitung - eigentlich Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung - erschien erstmals am 30. Juni 1848 in Berlin. Initiatoren dieses Zeitungsprojektes waren die Brüder Leopold und Ludwig von Gerlach, die als Generaladjutant des Königs respektive als Oberlandesgerichtspräsident in Magdeburg zum Lager der königstreuen Konservativen zu zählen sind. So stand die Zeitung auch bis zum Jahre 1918 (und nach einem kurzen republikanischen Intermezzo auch noch später) unter der Devise „Vorwärts mit Gott für König und Vaterland". Mit Beginn der „Neuen Ära" 1858 und mit dem Aufkommen der stärker am „realpolitischen" Kurs Bismarcks orientierten Blätter wie etwa dem „Preußischen Wochenblatt" oder ab 1861 der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" verlor die Kreuz-Zeitung ihre alles beherrschende Rolle im Reigen der konservativen Zeitungen. Trotzdem erreichte sie in den sechziger Jahren eine Auflage von 8500 Exemplaren und gehörte auch danach noch zu den sechs Berliner Zeitungen (von insgesamt 32 Tageszeitungen), die in zwei Ausgaben pro Tag herauskamen.

Die Wurzeln der sogenannten Vossischen Zeitung [Fn-34: Ergänzend zu Kurt Koszyk , 1966, 139-159 wurde der entsprechende Artikel aus: Meyers Konversations-Lexikon, 5. gänzlich neubearbeitete Auflage, Leipzig / Wien 1897 herangezogen.] reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück; sie ist die älteste der Berliner Zeitungen. Das königliche Privileg für den Buchhändler J.A. Rüdiger ist auf den 11. Februar 1722 datiert, seit 1785 führt seine Zeitung den Titel „Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung". Die Kurzform „Vossische Zeitung" geht auf den Namen von Rüdigers Schwiegersohn Chr. Fr. Voß zurück, der die Zeitung nach dessen Tod übernahm. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch befand sich die „Tante Voß" im Besitz der Vossischen Erben. Von jeher ein liberales Organ, unterstützten Redakteure der Vossischen Zeitung auch den Gründungsaufruf der Deutschen Fortschrittspartei vom 9. Juni 1861, der sie auch in der Folgezeit nahestanden. Mit einer Auflage von 13 000 Exemplaren war sie in den sechziger Jahren das zweitstärkste Blatt auf dem Berliner Zeitungsmarkt. [Fn-35: Nur die ebenfalls liberale „Volks-Zeitung" erreichte eine höhere Auflage; sie stand mit 22 000 verkauften Exemplaren an der Spitze der Berliner Zeitungen.]
Wie die Kreuz-Zeitung erschien die Vossische Zeitung zweimal täglich.

Obwohl es also möglich ist, sowohl Vossische Zeitung als auch Kreuz-Zeitung eindeutig bestimmten politischen Tendenzen zuzuordnen, waren beide keine Parteizeitungen in dem gleichen Sinne wie der Social-Demokrat [Fn-36: Auch wenn der Social-Demokrat die längste Zeit seiner Existenz nicht Parteiorgan im strikten Sinne war, so vertrat er doch die Auffassungen des ADAV, der in vieler Hinsicht bereits die Struktur einer modernen Partei besaß.] oder der Volksstaat. Diese Tatsache entspringt weniger einer Distanz zur

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entstehenden liberalen bzw. konservativen Partei als der ganz anderen Struktur dieser Parteien. Sowohl die 1861 gegründete Deutsche Fortschrittspartei als auch der im selben Jahr entstandene Preußische Volksverein waren im wesentlichen noch „Honoratiorenparteien" alten Typs; erst die Auseinandersetzung mit der „modernen" Massenorganisation der sozialdemokratischen Partei(en) hat zu einem Wandel beider Parteien geführt. In den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts waren sie jedoch noch gekennzeichnet durch „lockere Bindungen" und „schwache[] Ausrichtung auf den Machtkampf". [Fn-37: Vgl. Thomas Nipperdey , Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Bonn 1961, hier v.a. die Seiten 293/294 und 393/394.]
Daraus folgt für die vorliegende Arbeit, dass die in Kreuz- und Vossischer Zeitung verbreiteten Lieder und vor allem Gedichte seltener aus den Treffen und für das „Leben" einer bestimmten Partei mit festumrissener Organisation entstanden sind, sondern stärker die politischen bzw. außenpolitischen Ereignisse kommentieren und damit ein engeres Themenspektrum umfassen als die Lieder und Gedichte aus den sozialdemokratischen Zeitungen. So kommt es, dass zu bestimmten Fragestellungen - wie etwa der nach (innen-) politischen Zielen - die bürgerlichen Gedichte und Lieder die Antwort weitgehend schuldig bleiben. Damit ist aber gerade eine spezifische Differenz von bürgerlicher Kultur und Arbeiterbewegungskultur dieser Jahre erfasst, „da der Rang des Politischen in der bürgerlichen Werteskala […] gering [blieb]." [Fn-38: Thomas Nipperdey , 1961, 393.]

Die vorliegende Arbeit versucht, die vielfach erhobene Forderung nach Erneuerung der Arbeiterbewegungsgeschichte durch Verwendung neuerer Ansätze der Geschichtswissenschaft aufzunehmen und umzusetzen. [Fn-39: So z.B. Jürgen Kocka , New Trends in Labour Movement Historiography: A German Perspective, in: IRSH, 42 (1997), H. 1, 67 -78.]
Hat der Einbezug von kulturgeschichtlichen Fragestellungen - wie im Kapitel über die Funktion und Bedeutung der Lieder und Gedichte auf den Festen und Versammlungen von Arbeitern und Bürgern - auch innerhalb der Arbeiterbewegungsgeschichte schon eine gewisse Tradition, so wurde die Anwendung diskursanalytischer Verfahren zwar schon oft als zukunftsweisende Möglichkeit propagiert, seltener aber tatsächlich durchgeführt. Das zweite Kapitel dieser Arbeit, das sich mit den Inhalten der Gedichte und Lieder auseinandersetzen wird, baut in methodischer Hinsicht auf dem Verfahren der Diskursanalyse auf, insbesondere auf der Form, die Peter Schöttler als „lexikologische und semantische Untersuchung einzelner Wörter, Begriffe oder Meta-

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phern" bezeichnet. [Fn-40: Peter Schöttler , Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der „dritten Ebene", in: Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M. / New York 1989, 85-136, hier: 105.]
Diese Methode unterscheidet sich von der traditionellen Begriffsgeschichte dadurch, dass über „die Geschichte einzelner, unter Umständen sehr spezieller oder ‚abgehobener‘ Schlüsselbegriffe hinaus [...] der Blick auf historisch determinierte, jeweils ‚zeitgenössische‘ Redeweisen und Stereotypen gelenkt [wird], die das sprachliche Reservoir von Mentalitäten und Ideologien bilden." [Fn-41: Peter Schöttler , 1989, 105.]
Ich habe mich dazu allerdings nicht informatisierter Auswertungsverfahren bedient, wie sie u.a. von Régine Robin beschrieben worden sind [Fn-42: Régine Robin , Histoire et Linguistique, Paris 1973; dieses Buch bietet meiner Ansicht nach trotz seines Alters eine gute Einfürung in diskursanalytische Verfahren, so wie sie in der Geschichts wissenschaft Anwendung finden können.], sondern habe die Quellen unter der Fragestellung durchgesehen, mit welchen Begriffen, Gegenbegriffen und Anspielungen bestimmte, vorher von mir festgelegte bzw. im Laufe der Untersuchung modifizierte Kategorien beschrieben und definiert wurden. Ich habe mich dabei bemüht, der Mahnung Joan W. Scotts Rechnung zu tragen, die Wörter nicht als buchstäbliche Äußerungen zu verstehen, sondern nach der Konstruktion von Bedeutung über die Kategorie der Differenz zu suchen. [Fn-43: Joan W. Scott , Über Sprache, Geschlecht und die Geschichte der Arbeiterklasse, in: Christoph Conrad / Martina Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne, Stuttgart 1994, 283-309, hier: 284 bzw. 287.]
Im Gegensatz zu radikalen Verfechtern der Diskursanalyse wie etwa Joan Scott scheint es mir jedoch wichtig, die Ergebnisse der Diskursanalyse mit Erkenntnissen aus anderen, nicht-sprachlichen Bereichen zu konfrontieren, um somit das spezifische Verhältnis der Ebene der „Ideologie" zu den anderen Ebenen der sozialen Wirklichkeit bestimmen zu können. [Fn-44: So auch Jürgen Kocka , 1997, 73.]
Mit dieser Rückbindung an die außersprachliche Wirklichkeit ist meiner Meinung nach auch die Kritik am „linguistic turn" durch Lawrence Stone und Bryan D. Palmer gegenstandslos geworden. [Fn-45: Bryan D. Palmer , Descent into Discourse. The Reification of Language and the Working of Social History, Philadelphia 1990, v.a. 120-140 und Lawrence Stone , History and Post-Modernism, in: PP 131 (1991), 217-218.]

Im ersten Kapitel der folgenden Arbeit wird versucht, die genaue Funktion und Stellung von Liedern und Gedichten auf Festen, Versammlungen und anderen Zusammenkünften der Sozialdemokraten darzulegen. Im Anschluß sollen die Ergebnisse dieser Quellenarbeit mit den bereits vorliegenden For-

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schungen über die bürgerliche Fest- und Versammlungskultur konfrontiert werden.

Die darauffolgenden Kapitel widmen sich der Analyse im eigentlichen Sinn: Jeweils beginnend mit den Liedern und Gedichten von 1848, um diese dann den Liedern und Gedichten der Zeit zwischen 1863 und 1875 gegenüberzustellen, werden Bilder und Vorstellungen zu zwei zentralen Bereichen der Gesellschaft herausgearbeitet. Die Auswahl der Bereiche ergibt sich aus den Themen, die in den Quellen selbst - in erster Linie allerdings in den Gedichten und Liedern der Sozialdemokratie als eigentlichem Kern der Arbeit - im Vordergrund stehen. So wird im ersten Analysekapitel untersucht, in welche Kategorien Gesellschaft eingeteilt und was an den bestehenden Verhältnissen kritisiert wird, welche Forderungen erhoben und welche Visionen gezeichnet werden. Darüber hinaus wird die Frage nach möglichen Leitbildern und Traditionen gestellt. Die Wahl des Stils bzw. der dichterischen Form wird besonders in diesem Kapitel Beachtung finden. Im zweiten Kapitel der Analyse werden die Bilder und Vorstellungen von der eigenen und von fremden Nationen im Mittelpunkt stehen. Dabei soll gefragt werden, ob die eigene nationale Identität vornehmlich in Abgrenzung zu den „Eigenschaften" anderer Völker oder stärker über den Antagonismus zum Herrscher definiert wird. So muss in diesem Zusammenhang auch untersucht werden, wie man sich das Verhältnis zu anderen Nationen vorstellt und welche Haltung man zum Krieg als Mittel der nationalen Einigung einnimmt. Da ein Großteil der sozialdemokratischen Lieder zu den Melodien patriotischer Gesänge geschrieben wurde, wird die Frage, ob zwischen der Wahl einer bereits bestehenden Melodie und dem neuverfassten Text ein inhaltlicher Zusammenhang besteht, an dieser Stelle aufgeworfen werden. So weit es im Rahmen dieser beiden Analysekapitel sinnvoll und möglich ist, soll auch thematisiert werden, welche Funktionen und Bilder Männern und Frauen zugewiesen werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2002

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