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TEILDOKUMENT:


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Heinz Timmermann
Demokratisch-sozialistische Strömungen in Ostmittel- und Osteuropa


1. Divergenzen unter den Postkommunisten

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa war vielfach erwartet worden, dass es die Sozialdemokratie sei, die die abgewirtschafteten kommunistischen Parteien beerben werde. Zu denen, die so dachten, zählte auch Willy Brandt: Dies sei die Stunde der Sozialdemokratie, verkündete der Vorsitzende der Sozialistischen Internationale (SI) voller Zuversicht und in der Gewissheit, dass sich die Bevölkerung nach dem Scheitern des „Realsozialismus„ sowjetischen Typs mehrheitlich für die Vertreter des demokratischen Sozialismus entscheiden werde. Es kam jedoch anders: Fast überall in Osteuropa gelangte die historische Sozialdemokratie über ein Sektendasein nicht hinaus (herausragende Ausnahme: die Tschechoslowakei). Statt dessen waren es meist die sich wandelnden kommunistischen Parteien, die das Feld auf der Linken besetzt hielten. Dabei schälten sich zwei scharf divergierende Typen postkommunistischer Parteien heraus:

- Eine Gruppe, zu der die Mehrzahl der Parteien in Ostmitteleuropa zählte, betrieb ihre Umgestaltung in sozialdemokratische Formationen nach westeuropäischem Vorbild; sie hat diesen Prozess mittlerweile im wesentlichen abgeschlossen. Zu dieser Gruppe zählen die Demokratische Linksallianz Polens, die Ungarische Sozialistische Partei und die Partei der demokratischen Linken in der Slowakei. Alle drei wurden 1996 als Vollmitglieder in die Sozialistische Internationale aufgenommen. [ Vgl. hierzu ausführlich G. Meyer, Parteien, Wählerverhalten und politische Kultur, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.), Der Bürger im Staat, Heft 3/l997: Ostmitteleuropa, S.150-163; sowie D. Segert, Die Entwicklung der Parteienlandschaft im osteuropäischen Transformationsprozeß, in: H. Süssmuth (Hrsg.), Transformationsprozesse in den Staaten Ostmitteleuropas 1989-l995, Baden-Baden 1998, S. 90-111.]

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- Eine andere Gruppe, zu der die KP der Russischen Föderation (KPRF), die meisten kommunistischen Parteien der GUS-Staaten sowie auch die Sozialistische Partei Serbiens unter Miloseviè zählen, hat einen Weg eingeschlagen, der geprägt ist von Werte- und Strukturkonservatismus - starke Staatsmacht, etatistische Wirtschaftsstrukturen, Denken in den Kategorien von Kollektivismus und organischer Einheit. Vor allem aber haben diese Parteien die kommunistische Idee ersetzt durch traditionelle Konzepte der Imperiumsbildung - die KPRF in Form einer großrussisch geprägten Programmatik zur Wiederherstellung der Sowjetunion, die SPS durch Propagierung eines aggressiv-zerstörerischen großserbischen Nationalismus, der sozialdemokratischem Internationalismus diametral widerspricht.

Im folgenden werden - im Kontext der komplizierten Transformationsphase nach 1989 - exemplarisch zunächst kurz die Ursachen für das Scheitern der historischen Sozialdemokratie in Ostmitteleuropa aufgelistet - nicht zuletzt als Beispiel und Antwort auf die Frage, weshalb das eingangs erwähnte Denken vom Westen her dem Wandel im Osten oft wenig angemessen war. Anschließend wird relativ ausführlich auf den Reformwandel der früheren kommunistischen Parteien Ostmitteleuropas eingegangen, und zwar vor dem Hintergrund konservativ-populistischer Kräfte in der Region. [ Ein guter Überblick hierzu findet sich bei M.Dauderstädt/A. Gerrits/G. Márkus, Troubled Transition. Social Democracy in East Central Europe, Amsterdam 1999.]
Als Kontrast zu diesen Parteien werden abschließend zentrale Merkmale der KPRF charakterisiert - als ein eindrucksvolles Beispiel für eine Partei, die bewusst nicht der Sozialdemokratie zugerechnet werden will.

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2. Die Traditions-Sozialdemokratie im Kontext der Transformation

Ein zentraler Grund für das Scheitern der sozialdemokratischen Traditionsparteien lag darin, dass diese 1989 in einem radikal gewandelten Kontext an ihre Vorkriegsprogrammatik anknüpften und daraus eine spezifische Führungslegitimität abzuleiten suchten. [ Ebda., S. 93.]
So griffen sie auf Ideologie, Stil und Organisationsmodelle der Vor-Godesberg-Sozialdemokratie zurück, was paradoxe Konsequenzen hatte: Während sich die Postkommunisten (im folgenden: Neo-Sozialdemokraten) gerade vom marxistischen Monismus lösten und sich mit dem Vorrang für Markt und Privateigentum anzufreunden begannen, hielten die Traditions-Sozialdemokraten an der marxistischen Weltanschauung ebenso fest wie am Vorrang für Plan und Staatseigentum an den Produktionsmitteln. Tatsächlich hatten sie den Kontakt zu den sich stürmisch wandelnden Realitäten weitgehend verloren. So hatten sie die tiefgreifenden Umorientierungen der westlichen Schwesterparteien kaum registriert und wenig Kontakt zu den demokratischen Oppositionsbewegungen im eigenen Land gepflegt. Organisatorisch waren die Parteien der historischen Sozialdemokratie den reformkommunistischen Parteien ebenso unterlegen wie im Hinblick auf das Angebot an administrativer Erfahrung und Professionalismus insbesondere auf wirtschaftlichem Felde.

Eine Ausnahme unter den historischen Sozialdemokraten bildet lediglich die SP Tschechiens. [ Detailliert hierzu Meyer, a.a.O. , S. 160 f.]
Nach erheblichen Anfangsproblemen, die denen ihrer benachbarten Schwesterparteien glichen, profitierte sie zum einen von der Erinnerung an die starke Sozialdemokratie der Zwischenkriegsjahre bis hin zur Zwangsvereinigung von 1948. Zum andern fand sie genügend Raum zwischen zwei extremen Formationen, der sich in der Region

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sonst so nirgends öffnete: zwischen der neoliberalen Klaus-Partei auf dem rechten und der reformresistenten KP, die in der Folge des Prager Frühlings von den Reformern gesäubert worden war, auf dem linken Flügel. Viele unter den Reformern fanden den Weg zur Zeman-Sozialdemokratie und stärkten durch Professionalität und Engagement in der Partei jene Richtung, die weniger von nostalgischen Positionen geprägt war und sich statt dessen flexibel den Erfordernissen der umfassenden Transformation stellte.

Diese Aufgabe war in der Tat gewaltig und eine historisch einzigartige Herausforderung. Stichworte sind: gleichzeitige Gestaltung mehrdimensionaler Veränderungsprozesse, insbesondere im Hinblick auf Demokratisierung der politischen Institutionen, radikale Umgestaltung der Wirtschaft mit der Etablierung von Marktmechanismen und Privateigentum; Lösung der Probleme von staatlicher/nationaler Identität; doppelte Modernisierung zur Schaffung einer zeitgemäßen industriellen im Übergang zur postindustriellen Gesellschaft und mit der Aufgabe, den Kapitalismus zugleich zu fördern und zu zähmen; Bindung und Mobilisierung von Mitgliedern und Wählern in Gesellschaften, die sich aufgrund früherer Partizipationszwänge nach der Wende partizipationsmüde zeigten und sich eher an Führungspersönlichkeiten orientierten als an ausgefeilten Programmen. Als Beispiele für solche Parteien, die den Wandel am überzeugendsten bewältigten, wird im folgenden näher auf die zu demokratischen Sozialisten gewandelten postkommunistischen Formationen aus Polen und Ungarn eingegangen. [ Im einzelnen dazu meine Beiträge: Nehmen die Kommunisten Revanche?, in: Europäische Rundschau (Wien), Nr. 4/1994, S. 21-36, sowie: Die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien in Ost- und Südosteuropa - Aspekte ihrer Integration in die europäischen Parteistrukturen, in: perspektiven des demokratischen sozialismus (Marburg), Nr. 3/1997, S. 189-202. ]

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3. Polen und Ungarn: Neue Trennlinien

Mit 80.000 bzw. 36.000 Parteibuchbesitzern sowie 27,1 bzw. 32,3 Wählerprozenten sind die Neo-Sozialdemokraten Polens und Ungarns die mitgliederstärksten Parteien ihres Landes. Nachdem sie von 1994 bis 1998 in führender Position die Regierung gebildet hatten, haben sie gute Chancen auf einen Erfolg bei den kommenden Urnengängen. Ganz wichtig für ihren Erfolg war sicher die Tatsache, dass sich in beiden Formationen bereits vor der Wende einflussreiche Reformströmungen artikuliert hatten, deren Vertreter nach der Wende das Heft in die Hand nahmen. Nach einer in mehreren Etappen verlaufenden Transformation haben sich beide Parteien heute mit pragmatischer Programmatik und klassenübergreifender Basis politisch in der linken Mitte angesiedelt. [ Zu Ungarn vgl. B. Racz, The Hungarian Socialists in Opposition: Stagnation or Renaissance, in: Europe-Asia Studies (Glasgow), Nr. 2/2000, S. 319-347; für Polen siehe D. Bingen, Die polnische Sozialdemokratie (SdPR/SDL). Erbe und Wählerauftrag, Berichte des BIOst 16/1998.]

Dies ist das Ergebnis eines bemerkenswerten Paradigmenwechsels. Zunächst hatte fast überall in Ostmitteleuropa der Systemkonflikt Kommunismus/Antikommunismus die Transformationsprozesse bestimmt. Diese Konflikt- und Trennlinien (cleavages), in denen sich die Unterschiede in zentralen Wertorientierungen und Interessenlagen spiegeln, rückten jedoch allmählich in den Hintergrund zugunsten neuer Konfliktlinien, die sich von den Entwicklungen in Westeuropa signifikant unterscheiden (auch von daher wird ein vorrangiges Denken vom Westen her der spezifischen Situation im Osten Europas nicht gerecht). Stark verkürzt ausgedrückt, bildeten sich zwei Tendenzen mit konträren Positionen in Werteorientierung und Programmatik heraus. Auf der einen Seite profilierten sich mit den Neo-Sozialdemokraten als stärkster Kraft eine links-liberale Grundströmung europäischer Prägung, die sozialdemokratische Werte

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und Programme entwickelte, in ihrem Handeln wirtschaftliche Umstrukturierung mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden suchte und für einen raschen Beitritt des Landes zur EU eintrat. Dem stand eine konservative Grundströmung gegenüber, die in unterschiedlichen Graden von autoritär-nationalistischen, etatistisch- protektionistischen und in Polen zusätzlich klerikalen Tendenzen nicht frei war, die oft konfrontativ die politisch-kulturelle Dominanz suchte und die einer „Verwestlichung„ unter Einschluss einer EU-Mitgliedschaft eher skeptisch gegenüberstand. Vorrang hatten für sie die Nation und die nationale Identität, [ Vgl. hierzu Dauderstädt u.a., a.a.O., S. 58 ff. Auf Ungarn bezogen, siehe G. Markús, The Typology of political Cleavages in East Central Europe - a Blueprint for the West? The Case of Hungary, Budapest 1997 (Manuskript); sowie, auf die aktuelle Situation bezogen, Chr. Schmidt-Häuer/König/Viktor, in: Die Zeit (Hamburg), Nr. 38/14.9.2000, S. 9.] „Gemeinschaft„ stand vor „Gesellschaft„.

Aussagen über Charakter, Programm und Perspektiven der Neo-Sozialdemokraten lassen sich am treffendsten formulieren, wenn man sie an den Trennlinien zwischen den beiden Grundströmungen misst. Wo liegen die neuen, eher sozio-kulturell markierten cleavages zwischen den nationsgebundenen, antisäkularen Konservativen einerseits und an den Modellen einer Bürgergesellschaft orientierten Neo-Sozialdemokraten andererseits? Hierzu im folgenden stichwortartig und zugespitzt einige zentrale issues, die in beiden Ländern natürlich unterschiedliche Ausprägungen fanden.

Demokratie. Teile der Konservativen neigen dazu, im politischen Gegner den Feind zu sehen, der vernichtet werden muss. Der Zentralstaat dient - insbesondere auch über die Beherrschung der Medien - als Hebel zur Erringung der sozio-kulturellen Dominanz, die auch völkische Elemente einschließt (Ungarn) oder von Dogmen der katholischen Kirche geprägt ist (Polen). Die Neo-Sozialdemokraten dagegen treten ein für einen politischen und weltanschaulichen Pluralismus einschließlich

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Medienfreiheit und Minderheitenschutz sowie für konsequente Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte (Nation als Verfassungsstaat versus Nation als historische Schicksalsgemeinschaft). Für sie ist die Trennung von Kirche und Staat Voraussetzung für ein laizistisch geprägtes, multikulturell-urban ausgerichtetes Gemeinwesen. Nicht zufällig waren es die Sozialisten Ungarns, die als führende Regierungspartei den Ausgleich mit Rumänien und der Slowakei über die sensiblen Probleme der jeweiligen ungarischen Minderheiten vereinbarten.

Wirtschaft. Aus ihrem spezifischen Nationsverständnis heraus neigen die Konservativen zu Staatsinterventionismus und Protektionismus, die oft mit einer erheblichen Portion Sozialpopulismus einhergehen. So versprach die polnische Rechte in ihrem Wahlprogramm von 1997 - in bemerkenswerter Umkehrung hierzulande geläufiger Kategorien - nicht nur Vollbeschäftigung und kostenlose Bildung für alle, sondern auch „gemeinsamen Besitz an Eigentum„. [ Zit. nach Dauderstädt u.a., a.a.O., S. 104.]
Gelegentlich präsentierten sich die Konservativen in beiden Ländern sogar als die eigentlichen Parteien der sozialen Gerechtigkeit, wobei sie die regierende Linke als unsozial-ausbeuterisch brandmarkten. Die Neo-Sozialdemokraten dagegen bekennen sich - unter Beibehaltung eines gewissen Umfangs an staatlicher Regulierung - zu den Marktprinzipien, zu Deregulierung und zur Notwendigkeit, das Staatseigentum überwiegend in Privateigentum zu überführen. Die USP beispielsweise steuerte nach der Machtübernahme 1994 einen strikten Sparkurs, nachdem deutlich geworden war, dass das Land aufgrund seiner Budgetdefizite und seiner Auslandsschulden vor dem Staatsbankrott stand. [ Siehe hierzu Racz, a.a.O., S. 325 ff.]

Auslandskapital. Die Konservativen setzen eher auf nationale Akkumulation als Barriere gegen einen befürchteten Ausverkauf heimischer Unternehmen und Ressourcen. Für die Neo-Sozialdemokraten dagegen gilt die Heranziehung von Direktin-

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vestitionen aus dem Ausland als Voraussetzung für Innovation und Eingliederung in den Weltmarkt.

Internationale Beziehungen. Die Konservativen sind EU-skeptisch und allenfalls bereit, die Finalität der Union in Form eines de Gaulleschen Europa der Nationen zu akzeptieren. Die Neo-Sozialdemokraten dagegen wollen ihr Land in eine Union einbringen, die immer stärker zusammenwächst. Die Ursachen hierfür liegen neben wirtschaftlichen Imperativen in dem Bestreben, mit der Einbindung in die westlichen Institutionen und Integrationsprozesse die europäische politische Kultur in ihren Ländern fest zu verankern. [ Die europapolitischen Aspekte behandelt ausführlich L. Neu mayer, Opinions publiques et partis politiques face a l´intégration européenne en Hongrie, Pologne et République tchèque, in: Tran si tions (Brüssel), Nr. 2/1998, S. 73-117.]

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4. Integrationsprobleme

So haben sich in vielen Ländern Ostmitteleuropas nach Abflauen der anfangs natürlichen Polarisierung zwischen Kommunisten und Antikommunisten neue, regionalspezifische Trennlinien zwischen zwei Grundströmungen herausgebildet. Dabei gelingt es den Neo-Sozialdemokraten mit einer pragmatischen, sozial ausgerichteten und auf breiten Konsens zielenden Politik, über ihre ursprüngliche Klientel hinaus neue Wählergruppen anzuziehen - nicht zuletzt solche, die eine neue Ideologisierung staatlichen Handelns, diesmal in Form von Nation und/oder Religion, entschieden ablehnen. In diesem Zeichen bemühten sich die Neo-Sozialdemokraten Polens und Ungarns um ein breites Programmangebot, das am ehesten dem Bedürfnis nach sozial ausgewogener Transformation entspricht. Stichworte sind: „Kapitalismus und soziale Gerechtigkeit, Lohn nach Leistung und höhere Renten bzw. Einkommen, Gewinnorientierung und Solidari-

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tät, individueller Reichtum und wohlfahrtsstaatliche Fürsorge, technokratische Effizienz und partizipatorische Demokratie, Pluralismus und eine starke politische Führung, Pragmatismus und moralische Prinzipientreue„ [ Meyer, a.a.O., S. 158.] Der Vorteil einer solchen Programmatik liegt sicher darin, dass sich die Neo-Sozialdemokraten ganz unterschiedliche Wählerschichten erschlossen: Marxisten und Sozialdemokraten, Reformern und Technokraten, Pragmatikern und Nostalgikern, Umbruchgeschädigten und Umbruchgewinnern. Zugleich stellte diese Catch-all-Strategie jedoch hohe Anforderungen an die Integrationsfähigkeit der Neo-Sozialdemokraten; wiederholt wurde sie auf eine harte Probe stellt.

Insbesondere betraf dies das Streben nach einer ausgewogenen parallelen Interessenvertretung der traditionellen Arbeitnehmer einerseits und der aufwachsenden Geschäfts- und Finanzwelt andererseits. Die Verankerung der Neo-Sozialdemokraten in den einst staatsverbundenen, jetzt reformierten Gewerkschaften (Polen: 4 Mio., Ungarn: 2,5 Mio.), die in der Kandidatur führender Gewerkschaftsvertreter auf den Parteilisten für die Parlamentswahlen ihren sichtbaren Ausdruck fand, erforderte eine behutsame Privatisierungsstrategie und eine sozial abgefederte Transformation. Zugleich mussten die Parteien jedoch den Eindruck vermeiden, als handele es sich bei ihnen um rückwärtsgewandte Reformbremser und um bloße Anwälte der Umbruchverlierer. Vielmehr mussten sie demonstrieren, dass sie in der Lage waren, die Prozesse von Umstrukturierung und Modernisierung kompetent zu steuern und ihr Land europafähig zu machen. Daher profilierten sich die Neo-Sozialdemokraten auch als Parteien der sozialen Aufsteiger, der administrativ-technokratischen Fachkompetenz und der Leistungsträger. [ Vgl. Dauderstädt u.a., a.a.O., S. 89.]

Diese Integrationsstrategie war insofern erfolgreich, als sich die Parteien auf die „roten Unternehmer„ stützen konnten - auf

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eine große Gruppe von Wirtschafts- und Finanzexperten also, die es als Staatsfunktionäre noch zu KP-Zeiten verstanden hatten, über Beziehungen und Insiderwissen politisches Kapital in Realkapital zu verwandeln. Die Symbiose zwischen Ex-Kommunisten und neuen Kapitalisten, oft klientelistisch geprägt und unter ethisch-moralischen Aspekten gewiss fragwürdig, brachte beiden Seiten erheblichen Nutzen: Die Neo-Sozialdemokraten konnten - auch gegenüber den europäischen Partnerländern - demonstrieren, dass sie in der Transformation eine kompetente und handlungsfähige Alternative zu den rechtspopulistischen Kräften bildeten; nicht zufällig sind Polen und Ungarn im Osten Europas die Länder mit den höchsten Auslandsinvestitionen. Die „roten Unternehmer„ ihrerseits wussten die soziale Stabilität zu schätzen, die die Neo-Sozialdemokraten ihren Aktivitäten insbesondere aufgrund ihrer engen Verbindungen zu den Gewerkschaften boten.

So haben die Neo-Sozialdemokraten bei aller Kritik an gelegentlich nostalgischer Verklärung der Vergangenheit und an allerlei Begünstigungen für nomenklaturkapitalistische Gruppen in der Transformation ganz erheblich zu Stabilität und Modernisierung ihrer Länder beigetragen. Sie haben nationalistische Versuchungen abgefangen, Vorstellungen über einen politisch-kulturellen Sonderweg marginalisiert und statt dessen den Weg in die prinzipiell westlich-integrationistische Richtung eingeschlagen. Folgerichtig suchten sie das Bündnis mit den aus der antikommunistischen Opposition hervorgegangenen liberalen Kräften, in Polen mit der Freiheitsunion (die sich bislang allerdings verweigerte), in Ungarn mit den Freien Demokraten (die das Koalitionsangebot 1994 akzeptierten).

Für die Zukunft bleibt abzuwarten, wie sich die Neo-Sozialdemokraten programmatisch-politisch entwickeln werden. Die erste Phase, in der das Konfliktfeld Kommunisten-Antikommunisten im Vordergrund stand, ist im wesentlichen überwunden. Auch die zweite Phase, in der die kulturell-politischen Gegensätze Vorrang hatten und die inhaltlichen Positionen der

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Parteien oft quer zum gewohnten Links-Rechts-Schema lagen, neigt sich mit dem Generationswechsel, den sozialen Umschichtungen und der Anpassung an europäische Standards und Normen ihrem Ende entgegen. Die mit der EU-Beitrittsperspektive verbundene dritte Phase dürfte zwar die Integrationsfähigkeit der Neo-Sozialdemokraten als linke Volksparteien auf eine harte Probe stellen, zumal im Hinblick auf die nur durch spezifische Umstände eingebundene Gruppe der nomenklaturkapitalistischen Geschäfts- und Finanzwelt. Als fest verankerte proeuropäische Parteien der linken Mitte haben sie jedoch alle Chancen, sich nach dem Beispiel der europäischen Sozialdemokratie als führende Reformparteien dauerhaft zu etablieren, nachdem sie ganz wesentlich dazu beigetragen haben, die Transformation vom autoritären Kommunismus zur westlichen Demokratie friedlich und verfassungskonform mitzugestalten.

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5. Sonderfall Russland

Eine ganz andere Richtung schlug, wie eingangs angedeutet, die Linke im europäischen Teil der GUS ein. Sozialdemokratische Neugründungen, nicht selten orientiert an der SPD und ihrem Godesberger Programm, blieben schwach. Die Ursachen hierfür sind vielfältiger Natur und können an dieser Stelle nur angedeutet werden: geringe Rückkopplung an die eigenen historischen Traditionen; fehlende Verankerung in der Arbeiterschaft und unter den Staatsangestellten; mangelnde Professionalität und Organisationskompetenz; Besetzung des linken Raums durch die nach kurzer Betäubung revitalisierten kommunistischen Parteien; schließlich die zerstörerischen Auswirkungen persönlicher Ambitionen von Führern, die wie die meisten Mitglieder überwiegend dem Intellektuellenmilieu entstammten.

Ganz besonders ausgeprägt war all dies in Russland: Konnte anfangs die 1990 gegründete SDPR ein Monopol auf die Vertretung genuin sozialdemokratischer Positionen beanspruchen, so sind es inzwischen rund 15 Parteien, die sich mit unterschiedli-

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cher Akzentuierung auf sozialdemokratische Positionen beziehen. Den jüngsten Versuch, die zersplitterte Sozialdemokratie Russlands im Zeichen einer von den Grundwerten „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität„ geleiteten Russischen Vereinigten Sozialdemokratischen Partei zusammenzuführen, unternimmt mit großem Engagement Gorbatschow. [ Vgl. seine Rede auf dem Gründungskongress der Partei, in: Materialy U è reditel´nogo s"ezda Rossijskoj Ob´edinennoj Social-Demokrati è eskoj Partii (Materialien des Gründungskongresses der Russischen Vereinigten Sozialdemokratischen Partei), Moskau 2000, S. 9-31, hier S. 11. Hier findet sich auch die vorläufige "Programmorientierung" der Partei, an der in verantwortlicher Position Boris Orlow mitarbeitet, ein auch hierzulande gut bekannter russischer Sozialdemokrat der ersten Stunde.]
Dabei wird er auch von der SI unterstützt: Auf einer von Generalsekretär Ayala geleiteten SI-Mission vom September 2000 diskutierten die früheren Ministerpräsidenten Polens und Ungarns, Cimoczewicz und Horn, gemeinsam mit Vertretern von 12 sozialdemokratischen Parteien aus eigener Erfahrung zentrale Elemente einer Transformationsstrategie.

Es bleibt abzuwarten, ob die Führer der einzelnen Parteien ihre persönlichen Ambitionen zurückstellen werden - und wichtiger noch: ob sie für die Sozialdemokratie eine Nische finden zwischen Liberalen (Kirijenko, Nemzow), Sozialliberalen (Jawlinskij), staatsorientierten Kräften um Putin und der linkskonservativen KP Sjuganows. Die Chancen würden in dem Maße steigen, wie sich das Land insgesamt europäischen Werten öffnet und bereit ist, zentrale Elemente der in Europa gewachsenen politischen Kultur zu praktizieren. Das jedoch ist alles andere als sicher, im Gegenteil: Nach anfänglichen Bekundungen der Perestrojka-Elite, Russland in die „zivilisierte Staatengemeinschaft„ (Jelzin) europäischen Typs einzugliedern, gewannen seit Mitte der 90er Jahre erneut solche Konzeptionen an Anziehungskraft, die in wichtigen Bereichen zu Grundwerten und Ordnungsvorstellungen der Europäer Distanz wahren und eige-

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ne, an russischen Traditionen anknüpfende Konzeptionen in den Vordergrund rücken: zentralisierte starke Staatsmacht, etatistisch geprägte Wirtschaftsstrukturen, Paternalismus, Denken in den Kategorien von Kollektivismus, Staatspatriotismus und organischer Einheit.

Für die KP bilden diese Kernelemente, die in Russland historisch gewachsen und in der Mentalität der Menschen tief verankert sind, einen integralen Bestandteil ihres Programms. So ist die KP nach westlichen Kategorien und unter formalen Aspekten paradoxerweise zwar die einzig wirkliche Partei des Landes, stützt sie sich doch auf eine ausgefeilte Programmatik („Programmpartei„), auf ein landesweit ausgreifendes Netz von Basisorganisationen für die rund 500. 000 Mitglieder, auf eine breite soziale Verankerung in wichtigen Berufsgruppen und auf eine - freilich unterschiedlich starke - flächendeckende Präsenz in den Regionen. [ Vgl. dazu meinen Beitrag: Die KP Russlands: Eine systemintegrierte, strukturkonservierende Protestpartei, Aktuelle Analysen des BIOst Nr. 49/15.11.1999.] Tatsächlich jedoch hält sie programmatisch Distanz zur internationalen Sozialdemokratie - nicht deshalb, weil sie diese wie in kommunistischen Zeiten als Reformisten bekämpfen würde, sondern weil die Sozialdemokraten in ihren Augen Ausdruck der abgelehnten westlich-europäischen Zivilisation sind.

Statt dessen betont die KP die eigenen, westlicher „Dekadenz„ überlegenen Werte des russischen Zivilisationstyps. Als Großmacht und spezifischer Zivilisationstyp gehe Russland einen Sonderweg, auf dem es durch westlichen Einfluss weder von innen zersetzt noch von außen bedroht werden dürfe. Genannt werden dabei als tragende Werte und Prinzipien folgende fünf Kernbegriffe: Gerechtigkeit (spravedlivost´) - die Wiederherstellung all dessen im sozialen Leben, „dessen uns das grausame Regime beraubte„; Reichsmacht (derzavnost ´) - die starke Staatsmacht als Schutz vor kapitalistischer Ausbeutung; Volks-

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herrschaft (narodovlastie) - die Kontrolle des Volkes über die Staatsorgane; Geistigkeit (duchovnost´) - das Streben, „die höchsten, traditionellen russischen Ideale der Wahrheit, des Guten und Schönen in das Leben einzuführen„; Patriotismus (patriotizm) - die Liebe zum Vaterland und die Bereitschaft, die eigenen Interessen zu dessen Gunsten zurückzustellen. [ So die KP-Wahlplattform mit dem bezeichnenden Titel „Erhebe dich, du großes Land„, in: Sovetskaja Rossija (Moskau), 31.8.1999. Es handelte sich um die Wahlen zur Staatsduma vom Dezember 1999.]

Bezeichnenderweise ist es der KP-Führung bisher nicht gelungen, ein strukturänderndes Entwicklungsmodell auszuarbeiten, das auch unter den im Zuge der Transformationsprozesse aufwachsenden neuen sozialen Gruppen Interesse hätte wecken können. Statt dessen konzentrieren sich die Kommunisten auf Verteilungsfragen, um über einen passiven Elitenkonsens ihre vom Systemwechsel hart getroffene Klientel angemessen zu bedienen. Als „Partei des Schutzes statt des Angriffs„ war die KP nach Aussagen selbst hochrangiger Parteiführer bislang nicht in der Lage, „den Druchbruch in neue Wählerschichten zu erreichen„ [ So KP-Wahlkampfmanager Peschkow, KPRF: novye vybory - novye zada è i, in: Obozrevatel´(Moskau), Nr. 1/1999, S. 20-27, hier S. 23.]

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6. Fazit

Mit dem Systemwechsel im Osten Europas gewann die internationale Sozialdemokratie ihre gesamteuropäische Perspektive zurück. In überzeugendem Wandel adaptierten die postkommunistischen Parteien Ostmitteleuropas in einem längeren Prozess die Grundwerte der Sozialdemokratie, was auch unter dem Aspekt des bevorstehenden Beitritts ihrer Länder zur EU von großer Bedeutung ist.

Zugleich wird selten so deutlich wie an diesem Beispiel, dass die Orientierung an Grundwerten in der konkreten Politik durch-

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aus unterschiedliche Ausprägungen erfahren kann. Im Osten Europas ist dies sogar unvermeidlich: Die schwierige Transformation vom Realsozialismus zu Demokratie und sozialer Marktwirtschaft zwingt die Parteien geradezu, zur Sicherung eines längerfristigen Aufschwungs kurz- und mittelfristig eine Politik zu betreiben, die nicht unbedingt als typisch sozialdemokratisch gelten kann, sondern die - in westlichen Kategorien - eher als liberal und teilweise sogar als neoliberal zu bezeichnen wäre. Paradoxerweise liegt jedoch gerade darin der spezifische Beitrag dieser Parteien für die Zukunftschancen des demokratischen Sozialismus in der Region.

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